Ministerpräsident Roland Koch im Interview mit „Welt online“
WELT ONLINE: Herr Ministerpräsident, sind Sie konservativ?
Roland Koch: Ja, meine Selbstdefinition, ein konservativer Reformer zu sein, ist nach wie vor korrekt.
WELT ONLINE: Was bedeutet für Sie konservativ?
Koch: Diese Gesellschaft lebt davon, dass nicht ununterbrochen alles infrage gestellt wird. Familie ist mir als Konstante, als Fixpunkt beispielsweise besonders wichtig. Gleichzeitig zwingt uns aber die Globalisierung zu vielen Veränderungen und Reformen. Die richtige Balance zu finden, das ist für Konservative die große Herausforderung, die sie meistern müssen.
WELT ONLINE: Wulf Schönbohm, ein früherer liberaler Reformer der CDU, wirft seiner Partei heute vor, sie sei geprägt von einer „gefühligen, scheinliberalen politischen Mittesoße“. Ist das so?
Koch: Nein, das sehe ich völlig anders. Viele Reformen, die wir anstrengen, sind aus Sicht des Bürgers nur zu schnell realisiert und möglicherweise auch nicht gut genug erklärt. Veränderungsstress ist natürlich unbequem. Trotzdem muss es weitere Veränderungen und Reformen geben, denn dazu zwingt uns die Globalisierung. Für die CDU wird dadurch die Herausforderung größer, Konservativen eine Heimat zu bieten.
WELT ONLINE: Sind die Positionen der CDU wirklich konservativ? Mit Klimapolitik und dem Schutz von Menschenrechten haben sich früher die Grünen profiliert.
Koch: Das halte ich für eine unzulässig verengte Perspektive von konservativ. Die Aufgabe, die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen, ist doch eine zutiefst konservative. Man kann darüber diskutieren, ob die Konservativen in der Union den Fehler gemacht haben, zu Zeiten Herbert Gruhls in den 70er-Jahren das nicht rechtzeitig erkannt und dafür vergleichsweise bitter bezahlt zu haben. Aber das Bewahren der Schöpfung, der Natur, der Tiere dürfen wir natürlich nicht aus unserem Programm streichen. Das gilt auch für den Schutz der Menschenrechte. Die Union hat über Jahrzehnte für Menschenrechte in Osteuropa gekämpft, sich an die Mauer in Berlin gestellt und die Freiheit der Menschen eingefordert. Es ist daher nur richtig, dass die Bundeskanzlerin während ihres China-Besuchs die Frage der Menschenrechtsverletzungen in diesem Land glasklar angesprochen hat. Das ist gerade der Unterschied zu Altkanzler Schröder, der in China lediglich aufs Geld geschaut hat. Angela Merkel achtet auf die wirtschaftlichen Interessen unseres Landes, aber auch auf die Werte, an die wir glauben.
WELT ONLINE: Auf der Regierungsklausur in Meseberg hat die CDU für die Ausweitung des Mindestlohns auf das Postwesen gestimmt. Ist das nicht sozialdemokratisch?
Koch: Man muss schon zwischen politischen Grundsatzfragen und pragmatischen Entscheidungen im politischen Alltag differenzieren. Wir befinden uns gegenwärtig in einer großen Koalition, in einer Situation also, die uns Kompromisse abverlangt. Wenn wir alleine regierten, würden wir manches entschlossener und vieles anders machen. Das Instrument des Entsendegesetzes hat die Union im Übrigen als Reaktion auf die Probleme auf dem Arbeitsmarkt in der Regierungszeit von Helmut Kohl mit geschaffen.
WELT ONLINE: Wie erklären Sie Ihrer Basis das Gleichstellungsgesetz?
Koch: Ich hatte nie die Absicht, die Einzelheiten des Gleichstellungsgesetzes als gut zu verkaufen. Hingegen habe ich stets erklärt, welche Verantwortung die frühere rot-grüne Bundesregierung in dieser Frage trägt, indem sie die europäischen Anforderungen noch verschärfte. In der großen Koalition haben wir dann versucht, Schlimmeres zu verhindern. Das ist uns nach heftigen Auseinandersetzungen im Bundesrat in letzter Minute zum Glück auch gelungen, wie man jetzt daran erkennen kann, dass die befürchtete Klagewelle nicht eingetreten ist.
WELT ONLINE: Würden Sie das Gleichstellungsgesetz in einer Regierung aus Union und FDP im Bund verändern?
Koch: Unter Wahrung der europäischen Rahmenbedingungen wäre es natürlich richtig, das Gesetz zu prüfen. Allerdings würde ich in einem Punkt keine Veränderungen vornehmen: Das europäische Recht zwingt uns nicht, die Gleichstellung Behinderter aufzunehmen. Meine tiefe Überzeugung ist aber, dass eine Berücksichtigung der Interessen behinderter Menschen richtig ist.
WELT ONLINE: Sie sprachen eben davon, die Konservativen seien beim Gleichstellungsgesetz dazu da gewesen, noch Schlimmeres zu verhindern. Geht es Konservativen nur noch darum, zu dirigistische oder zu marktliberale Tendenzen abzumildern?
Koch: Historisch gesehen ist die Position des Konservativen immer die, gleichzeitig zu bewahren und nicht blind gegenüber Veränderungen zu sein. Ein Land muss selbstverständlich einerseits seine Entwicklungschancen wahrnehmen. Wir dürfen aber andererseits nicht mit Euphorie jeder Veränderung und Infragestellung nachlaufen! Da nehmen Konservative eine vermittelnde Funktion wahr, die Vertrauen schafft. Denn die Menschen können sich darauf verlassen, dass Veränderungen wohlüberlegt, manchmal auch zurückhaltend überprüft, aber dann auch mit der notwendigen Entschlossenheit herbeigeführt werden. Das können Sie immer wieder beobachten. Konservative sind sehr handlungsfähig! Sie laufen auch nicht vor der Globalisierung weg, sondern tun alles dafür, um sie beherrschbar zu machen. Übrigens lassen sich Konservative auch nicht zu plumpen Rechten machen.
WELT ONLINE: Viele, zumeist ältere CDU-Mitglieder sehen in der Politik von Frau von der Leyen die Gefahr, dass Frauen, die Kinder erziehen, aber nicht gleichzeitig einem Beruf nachgehen, diskriminiert werden. Haben Sie Verständnis für diese Ängste?
Koch: Natürlich nehme ich wahr, dass sich die Generation meiner Eltern oft die Frage stellt, ob sie denn so vieles falsch gemacht hat. Die Antwort muss meiner Ansicht nach klar lauten: nein, im Gegenteil. Sie haben sich sehr um ihre Kinder gekümmert – und sie haben sich erstmals in unserer Geschichte gleichmäßig um die Ausbildung ihrer Söhne und Töchter gekümmert. Heute beginnen im Fachbereich Chemie der Frankfurter Universität genauso viele Frauen wie Männer das Studium. Das bedeutet, dass diese jungen Menschen gleichmäßige Erwartungen an ihre beruflichen Karrieren haben, sich aber dennoch nicht alle für den gleichen Weg entscheiden, wenn sie Kinder bekommen. Die CDU muss daher das Recht auf Wahlfreiheit bei der Kinderbetreuung verwirklichen. Dazu gehören Betreuungsplätze, Tagesmütter und -väter. Und dabei muss auch die Frage eines Betreuungsgeldes eine wichtige Rolle spielen.
WELT ONLINE: Wer aber setzt sich in der CDU heute für die konservativen Bedenkenträger ein? Wer profiliert sich rechts der Mitte? Man gewinnt doch den Eindruck, dass die gesamte Partei der Familienministerin beinahe blind folgt.
Koch: Ich kann nicht erkennen, dass Frau von der Leyens Politik nicht konservativ sei. Sie ist doch im Augenblick diejenige, die sich am engagiertesten dafür einsetzt, dass es wieder mehr Familien mit Kindern in diesem Land gibt. Die gesamte konservative Programmatik ist doch nichts mehr wert, wenn in den Büchern steht, dass die Familie die Keimzelle der Gesellschaft ist, aber sich konkret keine Familien mehr bilden – jedenfalls keine mit Kindern. Wir beobachten auch, dass bei den besser ausgebildeten Menschen 40 Prozent und mehr der Frauen keine Kinder haben. Das wirklich Wichtige für Konservative sind Strukturen, in denen in Zukunft Familien als Keimzellen der Gesellschaft wachsen können. Genau das tut Frau von der Leyen, und deshalb widersprechen ihr auch nur wenige. Es ist eine sehr beachtliche Leistung der Unionsführung, dass wir es in dieser wichtigen Frage geschafft haben, die Partei mitzunehmen. Nach meiner Überzeugung ist die Frage der Familienpolitik inzwischen keine mehr, die jemanden von der Union entfernt.
WELT ONLINE: In welcher Hinsicht ist die Ostdeutsche Angela Merkel konservativ?
Koch: Angela Merkel ist gerade auch vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Geschichte sehr stark von den marktwirtschaftlichen Ordnungsprinzipien geprägt. Und sie ist davon überzeugt, dass dazu eine Umgebung im sozialen Gefüge eines Staates notwendig ist, die diese Prinzipien aushält und abfedert. Dazu gehören Familie, Rechtsstaat und viele andere Elemente.
WELT ONLINE: Braucht die Union keine konservativen Speerspitzen mehr, keine Persönlichkeiten wie Alfred Dregger?
Koch: Alfred Dregger ist ein schönes Beispiel dafür, dass es auch in der Politik Menschen gibt, die nicht gestylt sind, sondern am meisten von ihrer jeweiligen Biografie geprägt sind. Und Dregger war geprägt von der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs samt Verwundungen, die er erlitten hatte. Daraus resultierte auch sein Bewusstsein für die Solidarität der Generationen. Für die heutige Gesellschaft stellt sich die Situation jedoch völlig anders dar. Die Politiker haben 62 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg natürlich andere Biografien und müssen auch ganz andere Probleme lösen als zu Dreggers Zeiten.
WELT ONLINE: Ist die CDU national genug?
Koch: Ich glaube, dass die CDU in Deutschland unbestreitbar die demokratische Partei ist, die den Blick nach außen über die Grenzen des Landes mit dem Stolz auf das eigene Land, seine Leistungen und sein Selbstbewusstsein am stärksten und emotionalsten verbindet.
WELT ONLINE: Im Landtagswahlkampf 1999 kämpften Sie noch leidenschaftlich gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Heute kann man Sie hingegen dabei beobachten, wie Sie potenziellen Wählern in hessischen Restaurants Speisen zubereiten. Gehört das auch zu einem veränderten Konservativismus?
Koch: Wären Sie doch mal vorbeigekommen! Sie hätten etwas Ordentliches zu essen bekommen! Aber Spaß beiseite: Ich glaube, dass Politiker, die – wie ich – zuweilen harte Botschaften haben, nicht mit verhärteten Gesichtszügen durch die Landschaft laufen müssen. Auch mir macht das Leben Spaß! Das muss ich doch nicht unterschlagen! Das schließt auch nicht aus, dass ich mich zur doppelten Staatsbürgerschaft äußere, wenn ich gefragt werde. Die hessischen Wähler und ich haben dieses rot-grüne Projekt gemeinsam verhindert, um deutsche Interessen zu schützen. Als Politiker habe ich die Verpflichtung, zunächst an unser eigenes Land zu denken. Das gilt auch in der Frage der Staatsfonds. Übrigens haben die Besucher der „Koch-Tour“ zum Dessert durchaus harte Politik serviert bekommen.
WELT ONLINE: Arbeiten Sie an Ihrem Image, weil Sie eine rechte Verortung fürchten? Oder haben Sie es einfach nur satt, permanent als Machtpolitiker und als konservativer Hardliner betitelt zu werden?
Koch: Ich bleibe dabei: Ich bin ein konservativer Reformer. Andere Beschreibungen sind mir egal. Ich lebe nun schon so lange in der Politik, dass mein Image auch gar nicht mehr zu verändern wäre. Ich gehe kochen, weil es mir Spaß macht und weil ich dabei viele Menschen treffen kann. Ich arbeite im Gegensatz zu meiner Herausforderin, die Windräder besichtigt, auf den Marktplätzen und bin dort mit fast 10.000 Menschen zusammengekommen. Das ist für die hessische CDU, die einen starken konservativen Einschlag hat, ungemein wichtig.
WELT ONLINE: Franz Josef Strauß erfand dereinst die vermeintliche Zauberformel: Konservativ sein heißt, an der Spitze des Fortschritts zu stehen. Gilt das noch heute?
Koch: Ja, zweifellos.
WELT ONLINE: An der Spitze?
Koch: Ja, natürlich. Die spannende Frage ist nur: Was ist Fortschritt? Nicht jede Veränderung bedeutet Fortschritt. Nach meiner Definition kann man von Fortschritt nur dann sprechen, wenn man die Ziele erreicht, die der eigenen Zukunftsvision entsprechen. Ein pragmatisches Beispiel: Ich bin persönlich davon überzeugt, dass eine begabungsgerechte Schule eine gegliederte Schule ist. Dennoch verändere ich diese Schule gemeinsam mit meiner Kultusministerin sehr, sehr stark. Die Zukunftsvision der SPD ist die Zwangseinheitsschule – ich dagegen befinde mich an der Spitze des Fortschritts bei der Gestaltung des gegliederten Schulwesens. Das ist konservativ, aber auch sehr modern.
WELT ONLINE: Das Ergebnis bei der Bundestagswahl 2005 war für die Union mit 35,2 Prozent sehr enttäuschend. Danach hat es in der Partei keine tief greifende Analyse der Wahl gegeben. Ein Fehler?
Koch: Wir haben über das Ergebnis sehr ausführlich diskutiert, allerdings unter Ausschluss der Medien und der Öffentlichkeit. Das war kein Fehler, sondern vor dem Hintergrund einer ausgesprochen schwierigen Situation, in der wir uns befanden, richtig. Das Wahlergebnis war für die CDU nicht gut. Wenn wir uns aber darüber ausgeweint hätten, wäre Angela Merkel jetzt nicht Bundeskanzlerin und die CDU nicht geschlossen.
WELT ONLINE: Kann die Union in absehbarer Zeit wieder Wahlergebnisse von 40 Prozent und mehr erreichen?
Koch: Aus meiner Sicht ist das völlig unproblematisch. Das Ziel, wieder 40 Prozent zu erreichen, ist eine Selbstverständlichkeit. Die Frage ist, wie weit man über 40 Prozent kommen kann. Das ist die Herausforderung. Die Volkspartei CDU ist unter Angela Merkel auf einem guten Weg. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass wir noch nicht dort angekommen sind, wo wir hinwollen. Wir müssen noch ein gutes Stück Vertrauen bei den Bürgern zurückgewinnen. In den letzen Jahren ist das Vertrauen bei zu vielen Wählern verloren gegangen, dass ihre individuelle Zukunft in Freiheit positive Perspektiven hat.