Rede Walter Eucken Institut
Rede des Hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch im Walter Eucken Institut – „Soziale Marktwirtschaft und die Herausforderung der Globalisierung“
„Soziale Marktwirtschaft und die Herausforderung der Globalisierung“
Sehr geehrter Herr Professor Vanberg,
sehr geehrter Herr Professor Jäger,
Herr Regierungspräsident,
Herr Bürgermeister,
meine sehr verehrten Damen und Herren!
Nach solchen Begrüßungen und Vorstellungen ist das Klügste, was der Referent tun kann, nichts mehr zu sagen. Denn alles, was jetzt kommt, kann ja nur noch den Eindruck, den Sie vermittelt haben, stören; und in diesen Tagen bin ich nicht so ganz sicher, ob es am Ende überhaupt gelingen kann, eine völlige Übereinstimmung in solch einer hochkontroversen Debatte zu erzielen. Zugleich freue ich mich, dass Sie mich eingeladen haben. Ich gebe zu, es weckt auch bei mir ein kleines Stück Sentimentalität, schließlich bin ich mit Walter Eucken, Franz Böhm, Wilhelm Röpke, Alfred Müller-Armack und ihren Gedanken und Büchern so gut wie aufgewachsen – im Umfeld des politischen Lebens meines Vaters, der sich als Abgeordneter, als Anwalt im Bereich der wirtschaftlichen Beratung und später als Minister in unserem Bundesland Hessen immer in außergewöhnlich starker Weise der Wirtschaftsschule, die von Freiburg ausgeht, verpflichtet gefühlt hat und in seiner Tätigkeit im Bereich der deutschen Sozialpartnerschaft versucht hat, nach diesen Grundsätzen zu leben.
Deshalb habe ich heute dieses – in der Tat alte – Buch mitgebracht. Es ist nicht unbedingt das Standardwerk von Eucken, sondern es sind die „Grundsätze der Wirtschaftspolitik“, die ja von seiner Frau unmittelbar nach seinem Ableben in einer zusammenfassenden Form zusammengestellt und herausgegeben worden sind. In einer deutschen Universitätsbibliothek wäre ein Buch in einem äußerlich derart schlechten Zustand ein sicherer Hinweis darauf, dass die Studienbeiträge nicht angemessen angewandt werden. Aber da es sich hier um mein persönliches Exemplar handelt, zeigt es eine gewisse Form der Auseinandersetzung mit diesem Inhalt. Und so war auch klar, als ich übernommen habe, hier bei Ihnen zu Gast zu sein, dass man sich dann irgendwann dieses Buch zur Hand nimmt und über das Thema etwas hinzuzulernen versucht – oder sich zumindest an manches wieder zu erinnern versucht. Gerne möchte ich hier einige Sätze aus der Einleitung vorlesen. Das Buch ist 1952 erschienen – das muss man, um die Spannung zu erhöhen, gleich am Anfang sagen. Sie werden verstehen, was ich meine:
„Industrialisierung und moderne Technik haben einen einzigartigen Umsturz in der Geschichte bewirkt. Die wirtschaftlich-technische Umwelt jedes einzelnen Menschen hat sich völlig geändert. Die Umwelten Goethes und Platons waren einander ähnlicher als die Umwelten heute und als die Umwelten Goethes und eines heute lebenden Menschen. Die Lebensformen der Menschen haben sich dadurch verändert. Neue, große wirtschaftspolitische Probleme sind aus diesem Umsturz erwachsen. Aber so großartig die Leistungen der Naturwissenschaft und der Technik auch sind – noch sind zu den neuartigen Lebensumständen die entsprechenden Ordnungen nicht gefunden. Wir stehen hier vor einer Disproportionalität, die zu ihrer Bewältigung die größte denkerische Anstrengung erfordert. Doch es wird sich zeigen, dass die übliche wirtschaftspolitische Diskussion mit veralteten Begriffen und Gegensätzen erfüllt ist.“
Ich finde, wenn man die Jahreszahl 1952 weglassen würde, dann könnte dies auch genauso gut als ein von Mitarbeitern der Hessischen Staatskanzlei geschriebener Einleitungsversuch für die hier vorzutragenden Bemerkungen gelten. Das sollten wir uns gelegentlich klarmachen, wenn wir die Dimension unserer aktuellen Herausforderung beschreiben. Ja, wir stehen vor einer schwierigen Herausforderung: Einer Herausforderung, die unter dem Stichwort der Globalisierung so viele einzelne Elemente umfasst, wie es hier beschrieben worden ist. Diese schiere Vielfalt bringt uns oft in die Situation, eigentlich nicht alles benennen zu können, was uns mit Erwartungen, mit Hoffnungen, mit Sorgen erfüllt und uns an Problemen begegnet. Allein diese Tatsache, dass es eine solche Fülle ist, gehört zu den Problemen, mit denen sich Politik auseinanderzusetzen hat, wenn sie sich heutzutage mit Wirtschaft und den Erwartungen einer demokratischen Gesellschaft an die Wirtschaftspolitik befasst. Aber auf der anderen Seite sollte dabei eben auch nicht vergessen werden, dass das, was 1952 beschrieben worden ist, aus der Sicht der Bürgerinnen und Bürger des Jahres 2008 ein großes Erfolgsmodell war. Mit anderen Worten: Die Menschen in der damals noch jungen Bundesrepublik Deutschland haben aus dieser Herausforderung, vor der sie damals standen, aus den gegebenen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und ihrem jeweiligen Leistungsvermögen eine Erfolgsgeschichte gemacht, auf die dieses Land sehr stolz sein kann.
Ich will deshalb auch zum Eingang sagen: Wenn wir heute über Globalisierung, ihre Herausforderungen und ihre Probleme diskutieren – und damit natürlich zunächst einmal dem Risiko erliegen, dass wir über die Schwierigkeiten sprechen –, dann sollte aus meiner Sicht feststehen, dass die Globalisierung eine große Chance für die Welt ist, insbesondere für die Friedensstruktur der Welt. Nur eine Welt, die sich einigermaßen in ihrem Wohlstand angleichen kann – und dazu ist, wenn überhaupt, nur eine globalisierte Welt in der Lage –; einzig und allein eine solche Welt hat auch die Chance, irgendwann einmal eine friedliche Welt zu sein. Wir verfügen in Europa über einen erheblichen Vorsprung an Erfahrung, an Wissen, an Ausbildung, und wir liegen auch geographisch und klimatisch an einer ziemlich günstigen Stelle auf dem Globus. Deshalb haben wir als Europäer und als Deutsche eigentlich keinen Anlass, permanent in Angst und Schrecken über die Globalisierung und ihre Konsequenzen für dieses Jahrhundert und die Menschen auf diesem Kontinent zu sprechen.
Sicherlich ist auch richtig: Wir werden in Zukunft ein nicht mehr ganz so bedeutender Teil der Welt sein. Wenn wir die Verhältnisse in hundert Jahren mit denen vor einem Jahrhundert vergleichen, zeigt sich das sehr eindrucksvoll. Damals haben wir nicht nur fast ein Viertel der Weltbevölkerung repräsentiert, sondern auch gut die Hälfte dessen, was auf der ganzen Welt volkswirtschaftlich erarbeitet worden ist. Ende dieses Jahrhunderts werden wir wahrscheinlich noch zehn, zwölf oder 13 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren; und wir werden sicherlich nicht mehr deutlich über zwanzig Prozent – vielleicht sogar etwas weniger – des gesamten Weltbruttosozialproduktes bei uns erarbeiten. Das sind zunächst einmal reine Statistiken. Mit ihnen kann man so ziemlich jedem Europäer Angst machen. Aber sie sagen über die Frage des individuellen Wohlstands, des Freiheitserlebnisses, der Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger gar nichts aus. Im Gegenteil: Provozierend könnte man sagen: Wir Europäer sollten versuchen, so etwas wie die „Schweiz der Welt“ zu werden. In der Schweiz, wie wir sie heute als Nation kennen, stehen Leistungsfähigkeit, Ansehen und Spezialwissen in einem erstaunlichen Verhältnis zur relativ geringen Einwohnerzahl. Wir Europäer haben alle Voraussetzungen, im globalen Maßstab in eine ähnlich vorteilhafte Position zu gelangen.
Also: Globalisierung muss nicht schrecken. Dennoch löst sie inzwischen schon als Schlagwort große Sorgen und Ängste aus. Sie stellt eine erhebliche Herausforderung für unsere Gesellschaft dar. Und diese Herausforderung liegt durchaus darin, dass die Menschen sich nicht mehr sicher sind, ob dies für sie die richtige Wirtschaftsordnung ist. Dazu muss man vielleicht anmerken, dass der durchschnittliche Staatsbürger ja nicht im Walter Eucken Institut ausgebildet worden ist und er im Alltag ganz konkrete Grundbedürfnisse zu befriedigen hat. Der „durchschnittliche Staatsbürger“ möchte einen Arbeitsplatz haben, von dem er einigermaßen hoffen kann, dass er ihn nicht bald wieder verliert. Er möchte ein Einkommen haben, mit dem er sich einigermaßen mit den Menschen in seiner Umgebung messen kann, ohne sich übermäßig benachteiligt zu fühlen. Und er möchte in der Hoffnung leben, dass es seinen Kindern eines Tages nicht schlechter geht als ihm. Wenn man diese Grundbedürfnisse in einer modernen Gesellschaft erfüllt, dann ist die Bevölkerung zwar immer noch interessiert, einen Zuwachs zu erreichen, und sie ist weiterhin froh darüber, wenn es mehr gibt. Aber dann ist zunächst einmal auch eine gewisse Grundzufriedenheit in der Gesellschaft vorhanden, so dass man sich keine allzu großen Sorgen machen muss.
Wenn Sie jedoch in das konkrete Arbeitsleben unserer Gesellschaft hineinschauen, dann wissen Sie, dass sich das Erleben vieler Menschen von dieser Beschreibung deutlich unterscheidet:
– Nehmen Sie nur die Zahl der Menschen, die an ihrem Arbeitsplatz aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr zurecht kommen;
– die Zahl der Menschen, die Sorge haben müssen, gar keinen Arbeitsplatz zu erhalten oder ihn mit 50 zu verlieren;
– die gleichen Menschen, die von Rentenpolitikern und -experten gesagt bekommen, dass sie bis 67 Jahre zu arbeiten haben, und nicht wissen, wie sie dies bewerkstelligen sollen – zugleich sich aber fragen, ob ihre Rente ausreichen wird, um mit 85 noch einigermaßen angemessen über die Runden zu kommen;
– die gleichen Menschen, die sich Sorgen machen müssen, ob ihre Kinder einen Ausbildungsplatz finden werden.
Solche Fragen treiben inzwischen eine Mehrheit dieser Gesellschaft um. Man kann dabei im akademischen Rahmen viel über „Linksruck der Gesellschaft“ und andere politische Begriffe reden, ohne etwas an diesen Fragen substanziell zu ändern. Darüber hinaus kommt in einer globalisierten Welt zu all diesen berechtigten Sorgen noch ein weiteres Problem von nicht zu unterschätzender Bedeutung hinzu: Die heutige Komplexität der Phänomene hat sich noch einmal in einer erheblichen Dimension vervielfältigt gegenüber dem, was sich in Euckens Werk bereits als hochkomplexe, sozusagen mit der Gewalt von naturwissenschaftlicher Technik die Menschen bedrängende Veränderung auf der Welt seit Goethes Zeiten entwickelt hat.
Und, meine Damen und Herren, unterschätzen Sie auch bitte nicht folgende Tatsache: Sie schauen Nachrichten. Eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger schaut keine Nachrichten – auch das muss man fairer Weise sagen. Es wäre eine ziemliche Illusion zu glauben, dass die meisten Menschen abends nichts Eiligeres zu tun hätten, als die Nachrichtensendungen einzuschalten – selbst angesichts der Tatsache, dass in Deutschland mehr Menschen Nachrichten schauen als in nahezu jedem anderen entwickelten Land der Welt. Den Einschaltquoten nach zu urteilen sind es in Deutschland dennoch nicht mehr als 25 Millionen Menschen, die die Nachrichtensendungen verfolgen. Dabei haben wir etwa 55 Millionen Wahlberechtigte. Insofern weiß man, dass 30 Millionen an dieser „Veranstaltung“ irgendwie nicht so recht teilnehmen, wie wir das vielleicht gerne hätten. Diese Menschen erleben zwar all jene Ängste und Sorgen, mit denen sie in ihrer täglichen Arbeitswelt konfrontiert werden; aber sie haben größere Schwierigkeiten als ihre Nachrichten schauenden Mitbürger, diese Ängste einzuordnen. Und womöglich sind sie deshalb anfälliger für einfachere Antworten.
Ich kenne viele, auch in meiner politischen Umgebung, die nach den Ereignissen des Jahres 1989 geglaubt haben, dass damit das Ende des Sozialismus erreicht sei. Ich persönlich war stets der Auffassung, dass uns diese Frage niemals loslassen wird. Schließlich wirkt das, was hinter dem sozialistischen Gedanken steht, bereits seit 2000 Jahren bis in die Tiefen der katholischen Kirche hinein: Nämlich die Frage, wie umfassend das Gleichheitsgebot verwirklicht werden muss, um noch Gerechtigkeit zu erlangen. Dass uns diese Thematik aber bereits binnen 20 Jahren nach dem Fall der Mauer mit solcher Intensität wieder einholen würde, hätte nun auch wiederum keiner vermutet. Und wenn etwa meine politischen Freunde heute sagen, „Lasst uns mal einen Wahlkampf mit dem Slogan »Freiheit statt Sozialismus« führen“, dann gibt es einige warnende Stimmen, die darauf hinweisen: „Vorsicht! Es könnte sein, dass die Mehrheit der Deutschen den Sozialismus wählt!“
Ganz so weit ist es meiner Meinung nach noch nicht. Aber zumindest in den neuen Bundsländern scheint es durchaus eine Mehrheit mit entsprechenden Sympathien zu geben. Und deshalb ist diese Frage für die Politik relevant. Wie reagiert sie auf solche Phänomene? Kann sie diese ignorieren? Wenn ja, wie lange noch? Oder werden die Regierungsverantwortlichen durch die politische Debatte bereits jetzt in so manchen Kompromiss getrieben, der denjenigen, die in der Tradition des Eucken-Instituts stehen, das Blut in den Adern gefrieren lässt? Es hat ja keinen Sinn – bei allem Mut, auch mal Wahlen zu verlieren – das theoretisch Wünschenswerte eisern zu verteidigen und am Ende lieber „in Schönheit zu sterben“, anstatt das politisch Machbare und Mehrheitsfähige zu suchen und umzusetzen. Trotzdem glaube ich natürlich, wie vermutlich auch alle Anwesenden hier, an die Grundthese Euckens, dass aus der Definition der Wirtschaftsordnung die Ableitung der Gesellschaftsordnung zwingend erfolgt; und dass ohne eine Wirtschaftsordnung, die auf Eigenverantwortlichkeit der Menschen und dezentrale Marktmechanismen setzt, es keine freiheitliche Gesellschaft geben kann. Darum stellt sich für uns die Aufgabe, eine Wirtschaftsordnung insgesamt stabil zu halten und gleichzeitig nach Kompromissen zu suchen, die den Sorgen der Menschen entgegenkommen, ohne die Ordnung in ihrem Grundbestand zu gefährden. Diese Aufgabe bildet gewissermaßen eine Kernfrage auch der Diskussion und des Diskurses zwischen Wissenschaft und Politik: Wo sind die politischen Eingriffe ins Wirtschaftsgeschehen gefährlich für den Fortbestand der gesamten Wirtschaftsordnung? Wo sind sie vertretbar? An solchen Stellschrauben drehen wir, wenn wir etwa über betriebliche Mitbestimmung oder die Preisbildung von Arbeit diskutieren.
Das Institut für Demoskopie Allensbach führt seit vielen Jahren Umfragen über das Verhältnis von Wirtschaft und individueller Befindlichkeit durch. Wir wissen daher, dass die Menschen in den 60er Jahren gesagt haben: „Mir geht es gut, wenn es der Wirtschaft auch gut geht.“ In den 80er Jahren ist diese Stimmung gekippt, und die Menschen bekamen erstmals Zweifel, ob es ihnen tatsächlich noch gut geht, wenn die Wirtschaft floriert. Leider Gottes ist es im Moment so, dass viele Menschen eine Auffassung vertreten, wonach es ihnen individuell umso schlechter geht, je besser die Wirtschaftslage ist, weil sie die Zeche zugunsten der Unternehmensgewinne zu zahlen scheinen. Keine dieser drei Feststellungen ist hundertprozentig richtig. Das ändert aber nichts daran, dass so nun einmal die „gefühlte Wirklichkeit“ dieses Landes ist – was sich am Ende in objektiv messbaren politischen Stimmungen und Wahlergebnissen ausdrückt.
Wenn wir über Soziale Marktwirtschaft und die Frage diskutieren, was Globalisierung damit zu tun hat, dann glaube ich, muss man zunächst einmal feststellen: Das Phänomen, vor dem wir heute stehen, haben sich alle, die über Marktwirtschaft geredet und geschrieben haben, in dieser Form nicht vorgestellt. Das liegt zum Einen an der schwierigen Entwicklung hin zu einheitlichen Rechtsräumen, zum Anderen an der Revolution im IT- und Kommunikationssektor, die wir in den vergangenen zwei Jahrzehnten erlebt haben. Die ganze Welt weiß sozusagen jederzeit alles voneinander, wodurch Innovationen in rasender Geschwindigkeit rund um den Globus verfügbar gemacht werden. Dadurch haben sich die Regeln des Wettbewerbs vollständig verändert. So wurde überhaupt erst möglich, dass sehr unterschiedlich entwickelte Volkswirtschaften – mit zum Teil auch sehr unterschiedlichem Know-how – plötzlich direkte Konkurrenten geworden sind.
Wenn ein Land in der Vergangenheit hohe Kosten für Bildung, Ausbildung und eine üppige Forschungslandschaft aufgewandt hatte, dann konnte es davon ausgehen, dadurch einen komfortablen Wissensvorsprung gegenüber anderen Standorten erlangt zu haben. Dank der globalen Vernetzung steht dieses Wissen nun aber auch anderen zur Verfügung – auch dann, wenn sie für die Erlangung dieses Wissens weit weniger oder gar nichts aufgewandt haben; und auch dann, wenn sie über keinerlei Infrastrukturen verfügen, um aus eigenen Mitteln solches Wissen zu generieren. Daraus folgt nun logischerweise, dass, wenn ich unterschiedliche rechtliche und soziale Rahmenbedingungen, aber am Ende die gleiche Fähigkeit zur Wertschöpfung habe, diese Wertschöpfung dort erfolgt, wo die Standortkosten am niedrigsten sind. Dies sind dann mitunter diejenigen Standorte, die zwar noch nicht über das breite Know-how und hohe Sozialstandards verfügen, aber deren Wissen für eine entsprechende Fertigung ausreicht und deren Arbeitskosten deutlich niedriger sind. Diese Konsequenz ist unvermeidbar. In einem Hochlohnland wie Deutschland stehen wir dabei im Wesentlichen vor der Herausforderung, in kurzer Zeit Produktionsfortschritte durch Rationalisierung zu erzielen, um mit der günstigeren Konkurrenz wettbewerbsfähig zu bleiben – und gleichzeitig die Innovationsgeschwindigkeit hierzulande so hoch zu halten, dass an anderer Stelle neue Arbeitsplätze geschaffen werden, die zuvor durch die Rationalisierungsmaßnahmen eingespart wurden.
Das ist die Problematik, über die sich die Menschen zu Recht Sorgen machen. Für die Bürgerinnen und Bürger sind das keine akademischen Formeln, sondern ganz handfeste Ängste: Dass sie ihre Arbeit verlieren könnten und dass es lange Zeit dauern könnte, bis sie eine neue Arbeit gefunden haben. Für viele Menschen in unserem Land ist dies sogar die tägliche Realität. Unter anderem auch deshalb, weil es in unserer Gesellschaft eine Normalverteilung von Fähigkeiten gibt, an der auch die Globalisierung nichts zu ändern vermag. Wir sind nun einmal nicht alle Nobelpreisträger. Eine Gesellschaft ist glücklich, wenn sie all ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten vom Handwerklichen bis zum hoch Akademischen einigermaßen zur Anwendung bringen kann. Wir müssen es schaffen, alle verschiedenen kognitiven und handwerklichen Fähigkeiten einzubeziehen und an den notwendigen Innovationsschritten teilhaben zu lassen. Nur so können wir sicherstellen, dass diese Gesellschaft insgesamt friedlich bleibt. Diese Balance ist in der Globalisierung jedoch „in Unruhe“ geraten, um es vorsichtig auszudrücken. Und sicherlich kommt dann noch ein weiteres Element hinzu: Die Globalisierung hat zur Folge, dass die unterschiedlichen Rechtsrahmen dazu führen, dass mit dem, was wir dort jeweils als Leistung vorfinden, extrem unterschiedlich umgegangen wird. Die Strukturen sind keineswegs reziprok – nicht das, was der Eine als Vorteil genießen kann, ist dem Anderen ebenfalls gegeben. Wir kennen diese Diskrepanz am Beispiel des Urheberschutzes: Die heutigen Kommunikationswege machen das Wissen über bestimmte Erfindungen schnell überall verfügbar. Aber dort, wo Urheberrechte missachtet werden, kann dieses Wissen schneller in eine größere Zahl von Produkten umgewandelt werden als in Rechtsräumen, in denen Urheberrechte geschützt sind. Am Ende erleiden Rechtsstaaten einen Wettbewerbsnachteil.
Deshalb ist die Frage nach dem Rahmen für eine globalisierte Soziale Marktwirtschaft nicht ganz so einfach zu beantworten. Denn dazu bedürfte es globaler Regeln für verbindliches Handeln, die auch von den jeweiligen Nationen wirklich gelebt werden müssten. Und wenn wir ein Beispiel wie China nehmen, dann gibt es zwar eine Menge von Entwicklungen, die uns eher hoffnungsvoll stimmen sollten, anstatt uns zu frustrieren, aber eine wirkliche Rechtsangleichung braucht eben Zeit. Vielleicht wird es dort ja bereits in 30 Jahren eine gewisse rechtsstaatliche Tradition im Patentschutz geben – und nicht erst in 50 Jahren. Aber dass diese Perspektive den Arbeitnehmer des Jahres 2008 sonderlich beruhigt, ist nicht ernsthaft zu erwarten. Für uns Politiker ist dies auch kein befriedigender Zustand, denn wir sehen unsere Aufgabe ja gewissermaßen darin, Systemen ihre Instabilität zu nehmen. Die „Unstabilität der Systeme“ ist im Übrigen einer der Begriffe, die bei Eucken immer wieder vorgekommen sind und auf die er Antworten suchte. Vor dieser Herausforderung stehen wir auch heute.
Dabei müssen wir aufpassen, dass die Debatte, die wir über die Globalisierung führen, aufgrund der Unterschiedlichkeit der Systeme und der damit verbundenen Instabilität nicht zu immer mehr Reglementierung führt. Mit dieser Frage müssen wir uns verstärkt auseinandersetzen. Mir geht es ganz besonders darum, klar zu machen: Das Verlangen nach staatlichen Eingriffen ist nicht nur eine Volksmeinung; es ist nicht einfach nur ein Bauchgefühl von vermeintlich unzureichend informierten Menschen, sondern es ist viel mehr als das. Wenn Sie in der politischen Verantwortung für die Gesetzgebung in Ihrem Land stehen, dann sehen Sie sich permanent mit der Herausforderung konfrontiert, ein bestimmtes Phänomen, das Sie nicht in kurzer Zeit zur Stabilität führen können, durch Reglementierung beantworten zu müssen. Viele der Fragen, die wir in der Politik zurzeit diskutieren, sind nach meiner festen Überzeugung vor diesem Hintergrund zu betrachten. Deshalb müssen wir gemeinsam nach Lösungen suchen, die einen möglichst freiheitlichen Ausgang zulassen. Denn jede neue Reglementierung auf dem Weg der Entwicklung dieses Systems „Soziale Marktwirtschaft“ markiert vor dem Hintergrund der Globalisierung einen Schritt in die falsche Richtung. Aber auch der Abbau von Reglementierung ist nicht unbedingt einfacher: Tatsächlich ist jede Reform, jede Art der Veränderung, mit Konversionsängsten und -kosten verbunden, die umso höher ausfallen, je weiter eine Gesellschaft entwickelt ist. Das kann man am praktischen Beispiel der Fehlentscheidung über die umlagefinanzierten Renten in Deutschland aus dem Jahre 1957 ziemlich sauber nachvollziehen. Dafür braucht es gar keine weiteren Beispiele. Wir können diesem hochkomplexen Umlagesystem in absehbarer Zeit nicht entfliehen, weil niemand bereit ist, die Konversionskosten zu bezahlen.
In diesem schwierigen Wandlungs- und Anpassungsprozess befindet sich nun also unsere globalisierte Welt. Wenn alles gut läuft, dann haben wir in hundert Jahren vielleicht eine ausbalancierte Weltwirtschaft. Dann kaufen die Chinesen bei uns und wir bei ihnen, dann sind alle gleichermaßen gut ausgebildet, und es gibt keine staatlichen Handelshemmnisse mehr. Auch Afrika und Südamerika sind an dieser Entwicklung dann hoffentlich angemessen beteiligt. Europa als die „Schweiz der Welt“ wird – trotz seiner relativ kleinen Bevölkerung – ein in Asien angesehener Handelspartner sein, etwa als Bankenplatz oder als Innovationsgeber. Die Frage ist nur, ob wir bis dahin wirtschaftlich überleben und was wir dafür tun müssen. Bei aller Überzeugung, dass Globalisierung eigentlich für all das Positive steht, was ich beschrieben habe, müssen wir uns dennoch auf der anderen Seite auch angemessen auf diese neue Situation einstellen. Wir müssen uns verändern.
Was genau müssen wir also tun? Ich glaube, die Antworten hierauf sind kurzfristig relativ eindeutig:
Auf der nationalen Ebene ist unser Maß an Flexibilität nicht hoch genug, um die Innovationsgeschwindigkeit zu entwickeln, die wir brauchen, damit wir den beschriebenen Wettbewerb wenigstens achtbar mitgehen können. Zwar bedarf es ebenfalls gewisser internationaler Regelungen, die uns vor einem ausufernden Innovationswettbewerb, der am Ende zu Lasten rechtsstaatlicher und sozialstaatlicher Mindeststandards gehen könnte, beschützen. Aber die Innovationsgeschwindigkeit, die wir uns in der Wohlstandsgesellschaft der letzten 20 Jahre angewöhnt haben, ist zu gering. Darüber hinaus gehört zur Innovationsgesellschaft ebenso die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, weil Innovation immer aus zwei Teilen entsteht – aus der Idee selbst und aus der Verwirklichung dieser Idee. Die Abdrift von Ideen aus Deutschland in andere Länder der Welt ist nicht zuletzt auch dadurch begründet gewesen, dass es die starren arbeitsrechtlichen Regelungen hierzulande gab. Dadurch wurde es unattraktiv, die Wertschöpfung hier zu organisieren, zumal die Produkt-Lebenszyklen solcher Innovationen immer kürzer werden. Auch das ist eine unabwendbare Folge der Globalisierung. In der Konsequenz werden die Produkte dort hergestellt, wo man die höchste Flexibilität und Elastizität in den Systemen hat. Das kann eine Gesellschaft nicht endlos mitgehen. Aber der jetzige Zustand, den wir in Deutschland haben, ist einfach noch viel zu starr und wettbewerbsfern. Zur Flexibilisierung gehört, dass wir soweit wie möglich auf dezentrale Entscheidungen sowie freie Markt- und Preisbildung bauen – und so wenig wie möglich auf staatliche Institutionen.
Wir haben noch immer einen viel zu hohen Anteil staatlich organisierter Wirtschaft in Deutschland. Dabei gibt es eine ganze Reihe von Beispielen, die für die Vorteile von Privatisierung und Entstaatlichung sprechen. Wir hätten heute eine völlig überteuerte und kundenfeindliche Telefonversorgung, wenn wir nicht in den 80er und 90er Jahren die richtigen Entscheidungen in Deutschland getroffen hätten – und sie waren damals hoch umstritten, hoch umkämpft. Wenn man sich den Bundesparteitag der Sozialdemokraten in Hamburg im Oktober 2007 und die dortigen Ausführungen über die Privatisierung der Deutschen Bahn AG angeschaut hat, dann hat man eine grobe Vorstellung davon, wie hierzulande auch vor 50 oder 60 Jahren diskutiert wurde. Da wird sozusagen die Rückkehr zum Gemeinschaftsgut zelebriert, das seine Qualität gerade in der zentralen Regulierung hat. Und es betrifft nicht nur die Bahn, sondern es gibt zum Beispiel auch eine Sehnsucht nach der Staatlichkeit von Krankenhäusern; indem einige Menschen offenbar – zur Faszination für alle, die sich fachlich damit beschäftigen – glauben, dass ein staatliches Monopolkrankenhaus einen Patienten besser versorge als ein Privatkrankenhaus, das mit Konkurrenz rechnen muss. Das ist in der öffentlichen Debatte ein ernstzunehmendes Thema. Wir haben in Hessen in den letzten Jahren die Universitätskliniken in Gießen und Marburg nicht nur fusioniert, sondern auch privatisiert. Aus Umfragen kennen wir die Einschätzung der Menschen dahingehend, ob sie sich dort jetzt besser behandelt fühlen oder nicht. Objektiv ist dieses Krankenhaus nie so schnell technisch aufgerüstet worden wie in den letzten zwei Jahren. Eine der beiden Universitätskliniken wird derzeit faktisch neu gebaut, mit einer Vielzahl von neuen Einrichtungen, und international bekannte Mediziner machen sich auf den Weg dorthin. Es herrscht eine große Aufbruchstimmung. Trotzdem haben die Bürgerinnen und Bürger von Marburg und Gießen den Eindruck, dass ihr Blinddarm in dem Privatklinikum heute nicht mehr so schnell und sauber operiert wird, wie dies zuvor geschehen ist, als ihr Arzt noch ein Beamter war.
Daran können Sie als Politiker verzweifeln. Aber wahrnehmen müssen Sie es, ohne dass es dabei einen Zweifel geben kann, dass diese Privatisierungen notwendig sind und dass sie immer noch viel zu zögerlich geschehen. Wir setzen sie in Deutschland vor allem deshalb zu langsam um, weil wir immer die gleiche Angst haben, dass damit Arbeitsplätze verloren gehen, die wir an anderer Stelle nicht adäquat ersetzen können. In den 60er Jahren, während des „Wirtschaftswunders“, sind auch viele Arbeitsplätze in Deutschland verloren gegangen –außerordentlich viele sogar. Aber es gab an jeder Stelle die Hoffnung, dass sie durch andere Arbeitsplätze ersetzt werden. Und zwar auf allen Qualifikationsebenen. Dieses gelingt uns im Augenblick nicht mehr in derselben Vollständigkeit. Trotzdem gilt: Wenn wir konsequent privatisieren würden, würden wir wahrscheinlich am Ende mehr Arbeitsplätze haben als vorher, weil wir die Bereiche öffnen und neue technologische Entwicklungen ermöglichen – auch wenn die betroffenen Unternehmen selbst vielleicht schmäler würden. Das nutzt aber alles recht wenig, wenn die Gesellschaft nicht mehr an diesen Gesamtmechanismus glaubt. Das gilt übrigens auch für unsere Wettbewerbsordnung. Ich begrüße sehr, dass wir im Augenblick im Bereich der Energieversorgung einige längst überfällige Diskussionen führen. Es ist ja beachtlich, mit welchem Stolz wir uns eine Oligopolstruktur zugelegt haben, bei der die Beteiligten geglaubt haben, sie führten Wettbewerb, obwohl sie sich längst den Markt aufgeteilt haben – und der Staat sich anschließend wundert, warum es nirgendwo sonst derart hohe Unternehmenserträge gibt wie dort.
Wir haben darüber hinaus auch ein massives Defizit an Innovationen. Das liegt zu einem Teil an den Universitäten, wobei ganz sicher nicht ein Mangel an Schlauheit bei den deutschen Professoren, ihren Doktoranden und Studenten das Problem ist. Wo immer ich auf der Welt hinkomme und deutsch sprechende Institutsleiter treffe, sind diese dort oft nur deshalb Institutsleiter geworden, weil sie in Deutschland studiert haben. An der akademischen Ausbildung in Deutschland kann es also nicht unbedingt liegen. Es ist ja auch gut, dass es überall in der Welt deutsche Wissenschaftler gibt und diese dort hoch angesehen sind – ich glaube sehr, dass das für uns von Vorteil ist. Nur haben wir hierzulande eben auch eine endlose Zahl an Dingen erfunden, mit denen Menschen anderswo auf der Welt dann Geld verdient haben.
In den letzten Jahren ist vieles von dem, was ich hier vortrage, durchaus zum Allgemeingut bei den politischen Entscheidungsträgern geworden. Bereits die Agenda 2010 von Gerhard Schröder ist dafür ein Hinweis. Mag sein, dass er zu kurz gesprungen ist, dass es nicht vollständig gewirkt hat; aber er ist auf jeden Fall so weit gesprungen, dass es seine Partei nicht mehr verkraften konnte. Vielleicht ist das der Grund, warum er heute nicht mehr in deutschen Diensten steht. Aber ich glaube, dass das Problem an dieser Stelle zu vereinfacht betrachtet ist. Parteien leben eher in dem Risiko, dass sie dafür bestraft – anstatt belohnt – werden, wenn sie Veränderungen herbeiführen. Andere Parteien können daraus wiederum Kapital schlagen. Die Linkspartei beweist es aktuell: Indem sie sagt, dass alle Reformen falsch sind, liefert sie die denkbar einfachste Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit – und sammelt damit Sympathien. Gerhard Schröder hat die Reformdebatte seinerzeit im Wahlkampf nur mit einer sehr viel hitziger geführten Debatte über Krieg und Frieden politisch überlebt. Ohne die Diskussionen über den bevorstehenden Irak-Krieg hätte Gerhard Schröder die Wahl im Jahr 2002 nicht gewonnen. Denn er hatte in der ersten Wahlperiode bereits zaghafte Schritte zu Wirtschaftsreformen eingeleitet – und schon damals nicht mehr das Vertrauen der Menschen auf seiner Seite. Das muss man einfach sehen. Auch Angela Merkel und die Union haben im Bundestagswahlkampf 2005 – jedenfalls in der Kombination damit, dass durch Herrn Professor Kirchhof diese Thesen sehr viel griffiger geworden sind als sie vorher vielleicht aus der Sicht mancher Menschen waren – eine solche Verängstigung ausgelöst, dass die Menschen kurz vor der Wahlkabine abgebogen sind.
Wenn man die beherrschenden Themen bei Wahlkämpfen der jüngeren Vergangenheit einmal betrachtet – „Krieg und Frieden“ war nur ein Beispiel, aktuellere sind „Mindestlohn“ und „Innere Sicherheit“ – , dann zeigt sich: Die Parteien versuchen, die thematischen Schauplätze von Wahlkämpfen ein Stück weit zu verschieben. Sie glauben, dass mit dem, was ordnungspolitisch korrekt und notwendig ist, man besser versuchen sollte, unauffällig durchzukommen als auffällig. Das Werben für die normalen Regeln einer Ordnungspolitik in Deutschland generiert im Augenblick keine Wählerstimmen. Die Inhalte bleiben zwar richtig, aber die Frage ist, ob wir ins Geschichtsbuch eingehen wollen als die Wahlverlierer mit der richtigen Erkenntnis oder ob wir unsere Kinder und die Gesellschaft aktiv in eine positive Zukunft führen wollen. Ich habe in meinem bisherigen politischen Leben keine vergleichbar bedrängende Situation erlebt wie in diesen Jahren, in denen sich die Frage zwischen Herstellung von politischen Mehrheiten und Herstellung dessen, was ordnungspolitisch richtig ist, so kompliziert gestaltete wie im Augenblick. Deshalb gibt es die Kompromisse, die in der Politik der Großen Koalition fast täglich gemacht werden und die einem an jeder einzelnen Stelle auch ein Stück wehtun können. Der Mindestlohn ist ein gutes Beispiel dafür. Er ist aber nur das Ende einer Kette. Ich persönlich glaube stattdessen, dass eine radikale Öffnung des Arbeitsmarktes am Ende sogar zu höheren Löhnen und zu größerer Beschäftigung führen würde; und dass die einzige Chance zu verhindern, dass es Mindestlöhne in dieser Gesellschaft gibt, in der Herstellung von Vollbeschäftigung liegt – was bedeutet, dass der untere Teil des Marktsegments durch Preisbildung am Markt und durch Definition des knappen Guts Arbeit ausgeräumt wird. Aber unter den derzeitigen Bedingungen glaubt uns das kein Mensch – und womöglich nicht einmal eine Mehrheit meiner Partei. Durch diese Reform entstünden ja erst einmal wieder Konversionskosten.
Die Frage, was uns unter den Regeln der marktwirtschaftlichen Ordnung in den nächsten Monaten an Neuerungen einfällt, wird eine sehr wichtige sein. Sie wird auch die Auseinandersetzung des Jahres 2009 mitbestimmen. Im Bereich der Innovation hat die Große Koalition bereits etwas sehr Wichtiges vollbracht: Von dem erklärten Ziel, drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes in den Bereich von Forschung und Wissenschaft zu investieren, profitieren nicht nur die Hochschulen, sondern auch viele andere Akteure und Institutionen. Es ermöglicht gewissermaßen eine Freisetzung von neuen kreativen Elementen. Dahinter verbirgt sich auch ein sehr intelligenter Umgang mit Ressourcen. Die Fördermittel beispielsweise im Rahmen der Exzellenzinitiative auf 17 Standorte zu konzentrieren, die in einem Auswahlverfahren ermittelt wurden, markiert einen entscheidenden Schritt zu einer besseren Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Forschungslandschaft, wie auch des Standorts Deutschland insgesamt.
Aber was machen wir mit der Frage der Arbeitsplatzsicherheit? Wie schaffen wir es, Unternehmen zu motivieren, auch dann Arbeitskräfte einzustellen, wenn sie nicht sicher sind, ob sie diese länger als ein oder zwei Jahre brauchen? Jede Struktur von Zeitarbeit, die dort geboten wird, ist nur eine behelfsmäßige Krücke. Auch jede Struktur der geringfügigen Beschäftigung ist in Wahrheit eine Krücke. Ordnungspolitisch sind die 400-Euro-Jobs völliger Unsinn. Sie sind allein unter dem Gesichtspunkt zu verantworten, dass ein verkrusteter Arbeitsmarkt sonst vollständig zusammenbräche. Warum soll jemand, der wenig arbeitet, weniger Krankenversicherungsbeiträge zahlen als einer, der mehr arbeitet? Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Das lässt sich nur erklären unter dem Gesichtspunkt der Umgehungstatbestände eines verkrusteten Arbeitsmarktes. Die Debatte über die Zeitarbeit und den Mindestlohn in der Zeitarbeit ist dann die nächste Stufe. Der Versuch ist immer, regulatorisch ein Loch zu stopfen, das irgendjemandem nicht gefällt – unter Inkaufnahme einer schrittweisen Zerstückelung des marktwirtschaftlichen Gesamtsystems, der Preisdefinition von Arbeit und der Knappheitsdefinition von Arbeit. Aber würde das eine Partei mit solch klaren Worten in ihr Wahlprogramm schreiben, dann wäre dies das letzte Wahlprogramm, das sie schriebe. Das gibt einem zu denken. Es hilft ja auch nichts, dass man eine freiheitliche Wirtschaftsordnung mit irgendwelchen diktatorischen Mitteln problemlos umsetzen könnte; sondern ich brauche in einer – Gott sei Dank! – gefestigten Demokratie eine klare demokratische Mehrheit für eine freiheitliche Wirtschaftsordnung.
Deshalb würde ich zum Beispiel gerne sehr viel intensiver in dieser Gesellschaft darüber diskutieren, wie wir die Arbeitslosenversicherung verändern sollten. Das heutige System scheint mir unangemessen. Wir sind mit den Reformen von Herrn Weise, dem Vorstandsvorsitzenden der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg, bereits weit gekommen. Die Abtrennung der Arbeitslosenversicherung von den sonstigen Leistungen der Bundesagentur für Arbeit war eine großartige Leistung, die uns sehr viel helfen kann in der Gesellschaft und die dennoch leider viel zu wenig öffentlich wahrgenommen wird. Diese Abtrennung bewirkt, dass wir heute versicherungsmathematisch sehr präzise wissen, was die Versicherung von Arbeitslosigkeit kostet. Warum regulieren wir denn dann nicht einfach eine Mindestzeit für die Arbeitslosenversicherung – meinetwegen auf dem Niveau, wie es zurzeit ist – und erlauben per Gesetz, dass sich ein Arbeitnehmer darüber hinaus freiwillig gegen Arbeitslosigkeit absichern kann? Wenn er monatlich 0,2 oder 0,3 Prozent seines Einkommens mehr einbezahlt, könnte er dafür 6 oder 12 Monate länger Arbeitslosenbezüge erhalten. Und wenn er monatlich zwei Prozent mehr einbezahlt, könnte er dann von mir aus vier Jahre lang arbeitslosenversichert sein. Das müsste man dann einmal nach den Regeln der Versicherungsmathematik errechnen – entsprechend einer Brandschutz- oder Hausratsversicherung.
Genauso könnte man bei Beginn eines neuen Arbeitsverhältnisses ein Wahlrecht schaffen zwischen der Nutzung des Kündigungsschutzrechts oder einer vorab vertraglich zu vereinbarenden Abfindungsklausel. Letztere würde es den Beteiligten ermöglichen, sich zu einer im Vertrag geregelten Summe wieder voneinander zu trennen, ohne dass es einen Rechtsstreit über die Trennung geben kann. Auf diese Weise könnten wieder mehr Unternehmen in Deutschland Mut fassen, unter den hiesigen Bedingungen Arbeitsplätze zu schaffen. In meiner früheren Tätigkeit als Anwalt habe ich große internationale Unternehmen im Arbeitsrecht beraten. Es ist mir nicht nur einmal passiert, dass, nachdem ich dem amerikanischen Partner mit der möglicherweise vorhandenen Autorität eines Experten erklärt habe, wie Sozialpläne – wenn man das Wort erst einmal übersetzt hatte – in Deutschland funktionieren, der ordentliche Kaufmann mir am Ende gesagt hat: „Es ist in Ordnung, ich bezahle das. Aber ich erkläre Ihnen hiermit auch, nie wieder zuzulassen, dass irgendjemand aus meinem Unternehmen einen Arbeitsplatz in Deutschland schafft.“ Solche Entscheidungen vernichten heute Millionen von Arbeitsplätzen an diesem Standort – und dies liegt am Kündigungsschutz, nicht an der Höhe der Löhne.
Ein weiterer Aspekt, an dem zurzeit auch die Große Koalition arbeitet, betrifft das Thema Mitarbeiterbeteiligung: Wir werden in der globalisierten Welt nicht verhindern können, dass sich der Wohlstandspfad aus Humankapital und geleisteter Arbeit flacher entwickelt als der Wohlstandspfad aus der Ressource Kapital. Diese Entwicklung ist jedenfalls über einen längeren Zeitraum absehbar – in Anbetracht des Zustroms von immer besser ausgebildeten Menschen auf die weltweiten Arbeitsmärkte und des riesigen Bedarfs an Kapital, den es zugleich in den Wachstumsmärkten braucht. In Deutschland jedoch sind aufgrund der Fehler, die bei der Umlagefinanzierung der Rentenversicherung gemacht wurden, die Arbeitnehmer außerordentlich selten am Kapital beteiligt – im Vergleich zu allen anderen Industrieländern um uns herum. Die Wohlstandsmitnahme aus Kapitalerträgen des Arbeitnehmers in den Vereinigten Staaten von Amerika ist um ein Vielfaches höher als in Deutschland, in Großbritannien um ein Vielfaches höher als in Deutschland und selbst in Italien und Frankreich aufgrund der Art, wie die Systeme organisiert sind, höher als in Deutschland. Dies ist ein riesiger Nachteil für uns. Es bedeutet, dass die Menschen, die den ganzen Tag arbeiten, im Vergleich zu denjenigen, die ein großes Konto haben, immer schlechter abschneiden.
Wir haben uns in Deutschland eine lange und ziemlich ärgerliche Debatte darüber geleistet, dass die mittelständischen Unternehmer angeblich keine Lust hätten, irgendjemanden in ihrem Unternehmen mitbestimmen zu lassen und deshalb auch keine Kapitalbeteiligung ihrer Mitarbeiter zulassen wollten. Dann gab es eine Debatte, wonach die Gewerkschaften entsprechende Fonds managen sollten. In all diesen Diskussionen wurde aber immer irgendein Argument vorgetragen, mit dem das Projekt der Mitarbeiterbeteiligung von irgendeiner Seite blockiert werden konnte. Alle hatten ihre guten Gründe – die Gewerkschaften mussten nicht zuletzt davor Angst haben, dass ein Unternehmer seinem Mitarbeiter einmal sagen könnte: „Pass auf, der Laden gehört jetzt auch zum Teil dir – denk an deine Existenz, wenn du streikst!“. Dieser unterschwellige Grundkonsens, Arbeitnehmer nicht am Kapitalvermögen zu beteiligen, ist eine Achillesferse der wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands im kommenden Jahrzehnt. Wir müssen mit den größtmöglichen Schritten versuchen, endlich in diese Richtung zu gelangen.
Ein letzter Punkt, der zu den sehr umstrittenen in diesen Tagen gehört, ist die Herausforderung durch Staatsfonds. Wir werden nicht völlig ignorieren können, was um uns herum auf der Welt an Unternehmensstrukturen geschaffen wird. Und das Thema „Staatlich gelenkte Unternehmen“ spielt dabei eine entscheidende Rolle. Warum ist das heute so? Früher waren sie ja auch nie ein Problem. Kein Mensch hätte jemals geglaubt, dass ein Unternehmen aus der ehemaligen DDR auf die Idee kommen könnte, Kaufhof zu kaufen. Der Kaufhof-Marktwert von zwei Großstadtfilialen war wahrscheinlich höher als das, was am internationalen Markt für die gesamte DDR-Handelskette aufzutreiben gewesen wäre. Die Marktkapitalisierung staatlich gelenkter Unternehmen tendierte gegen Null. Das ist heute grundlegend anders. Und es ist nicht allein deshalb anders, weil sie heute besser wirtschaften würden, sondern weil sie eben auch über effektive staatliche Lenkungsmechanismen verfügen. Die Währungsreserven der Volksrepublik China beruhen zu etwa der Hälfte auf einer staatlich erzwungenen, nicht den Marktbedingungen entsprechenden Wechselkurspolitik. Das heißt, China saugt gewissermaßen den internationalen Kapitalmarkt mit einer staatlichen Lenkungsentscheidung ab, um seine staatlichen Fonds mit Kapital zu füllen – aus Gründen, die ich durchaus, wenn man es differenzierter diskutieren will, verstehen kann. Aber es hat nun mal eine ökonomische Folge.
Wir werden uns auf der Ebene globalisierter Märkte die gleiche Frage stellen müssen, wie wir sie uns bei den Elektrizitätsunternehmen, Telefonunternehmen, Postunternehmen, den Krankenhäusern und vielen anderen Bereichen auf nationaler Ebene stellen. Wie viel Staat als Einfluss, der nicht nur ökonomisch nach Marktrenditen arbeitet, sondern auch nach anderen Kriterien, kann sich eine globalisierte Marktwirtschaft leisten? Wir werden in den kommenden Jahren zu entscheiden haben, ob am Ende die Mehrheit auf der Welt staatlich gelenkten Unternehmen gehört. Wir sehen ja, wie schnell das gehen kann. Es bedarf nur eines vorübergehenden Einbruchs an den Finanzmärkten, schon stehen verschiedene Staatsfonds bereit, um günstige Unternehmenseinkäufe zu tätigen. Ich glaube, dass wir dort aufpassen müssen. Mit Behutsamkeit. Wenn Staatsfonds operativ gestaltenden Einfluss in einer großen Zahl internationaler Konzerne erhalten, dann gibt es für viele Volkswirtschaften auf der Welt keinen Grund mehr zu Privatisierungen. Daraus kann auf Dauer nichts Vernünftiges werden.
Ich glaube, dass wir die Regeln, die wir in der marktwirtschaftlichen Ordnung als Prinzipien haben, nicht aufgeben dürfen. Ich bin überzeugt davon, dass es vielmehr eine Verantwortung dafür gibt, ihnen in der globalisierten Welt zu mehr Durchsetzung zu verhelfen. Von Rechtsordnung und Patentschutz über die Gleichheit von Marktbedingungen, von Privatisierung bis hin zur Frage von Staatsfonds. Wenn es uns gelingt, diese Rahmenbedingungen weltweit zu schaffen, werden wir in Deutschland weiterhin eine große Chance haben, wirtschaftlich erfolgreich zu sein – allerdings nur dann, wenn wir unter Beachtung der Erfahrungen und Erkenntnisse dieser marktwirtschaftlichen Prinzipien auch bei uns selbst einige entscheidende Veränderungen in relativ kurzer Zeit herbeiführen. Nur so verhindern wir, dass wir unsere eigene Autorität und Wettbewerbsfähigkeit mittelfristig aufs Spiel setzen.
Aber wir müssen diese Reformen auch in einer Weise durchführen, dass Verständnis dafür entsteht und Optimismus geweckt wird. Auch Menschen, denen das Fachwissen für die großen marktwirtschaftlichen Zusammenhänge fehlt, müssen von der Notwendigkeit und den Chancen dieser Veränderungen überzeugt werden und diese ein Stück weit mittragen. Es gilt Artikel 21 des Grundgesetzes: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Mit der populärwissenschaftlichen Ergänzung: Sie sind aber nicht das Volk. Umso mehr brauchen Sie für die zu leistende Überzeugungsarbeit eine Strategie und gute Argumente. Strategien und gute Argumente trifft man bisweilen aber nicht nur in der Politik an, sondern glücklicherweise auch in der Wissenschaft.
Deshalb treibt mich gerade an einem Ort, der so viel Autorität ausstrahlt wie das Walter Eucken Institut, die Hoffnung um, dass wir dieses Werben für das ordnungspolitisch Richtige in einer freiheitlichen Gesellschaft gemeinsam vollbringen können – im Interesse der Menschen, die ein Recht haben und geltend machen werden auf Hoffnung für die Zukunft ihrer eigenen individuellen Entwicklung. Am Ende braucht es das, was Ludwig Erhard „Wohlstand für alle“ genannt hat. Das ist die Klammer, die wir brauchen, wenn eine friedliche und freiheitliche Gesellschaft dabei herauskommen soll.
Vielen herzlichen Dank!