Rede Verleihung des Karlspreis
Rede des Hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch anlässlich der Verleihung des Karlspreises der Sudetendeutschen Landsmannschaft
Sehr geehrter Herr Böhm, lieber Bernd Posselt,
verehrte Ehrengäste, Herr Oberbürgermeister,
Frau Kollegin Stewens – herzlichen Dank für die „Einreiseerlaubnis“ nach Bayern heute,
liebe Sudetendeutsche, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Ich bedanke mich für diese hohe Auszeichnung. Ich freue mich, dass ich sie bekomme und weiß zugleich: Es ist – Herr Böhm hat es beschrieben – eine Auszeichnung nicht nur für meine Person, sondern für diejenigen, die nun seit fast einem Jahrzehnt die politischen Geschicke meines Heimatbundeslandes Hessen lenken und für ihre Entscheidung, Heimatvertriebene nicht nur als Mitbegründer unseres modernen Bundeslandes zu sehen – als diejenigen, die die Säulen waren, auf die wir vieles aufbauen können –, sondern auch als Menschen mit ihrer eigenen Geschichte, ihrer eigenen Identität, die gerade mit dieser Geschichte und Identität ihren Platz in unserem Land haben sollen. Ich respektiere deshalb die Verdienste, die für das Bundesland Hessen hier beschrieben worden sind und uns auf achtenswerte Augenhöhe mit unseren bayerischen Nachbarn gebracht haben. In Deutschland ist es ja heute ein ständiges Bestreben der drei Bundesländer Bayern, Baden-Württemberg und Hessen, dass jeder darauf schielt, was der andere macht. Es ist schade, dass es nur noch diese drei gibt, die im Wettbewerb der Spitzengruppe sind. Aber es ist gut, dass wir drei einen Wettbewerb haben. Das macht uns immer wieder flott und mutig.
Wenn ich das sage und Ihnen danke, dann will ich einbeziehen, dass es natürlich über all diese Jahre viele in unserem Bundesland gab, die die Gedanken, über die wir hier sprechen, aufrecht erhalten haben, was nicht immer leicht war. Wenn ich an Namen wie Wenzel Jaksch, Gustav Hacker, Richard Hackenberg, Rudolf Wollner oder auch an Wolfgang Egerter und Alfred Herold denke, dann sind das Menschen, die auch mir sehr viel geholfen haben, den Boden zu finden, den man braucht, um diese Überzeugung, die ich für richtig halte, auch zu verwirklichen und sichtbar zu machen. Und wenn ich diesen hier danke, dann will ich ganz besonders ergänzen: Es ist ein Glück der Heimatvertriebenen in unserem Bundesland Hessen, aber es ist auch ein Glück für mich gewesen, dass es Rudi Friedrich gibt, der nun seit fast einem Jahrzehnt sozusagen in einer privilegierten, aber auch in einer sehr verantwortungsvollen Position der Sprecher der Heimatvertriebenen in der Politik ist. Der aus dem Landtag kam, der Vorsitzender des Ausschusses für die Heimatvertriebenen war, der uns immer genötigt hat, auf ihn zu achten und ihn zu erhalten. Ohne ihn, ohne diese Person, gäbe es diesen Parlamentsausschuss auch im Hessischen Landtag schon lange nicht mehr, der jetzt wieder mit der Institution des Beauftragten ein Stück weit Maßstäbe auch für andere Bundesländer setzt, der aber vor allen Dingen als ein persönlicher Freund nicht nur den Zugang zum Ministerpräsidenten hat, sondern bei dem ich mich auch darauf verlassen kann, dass er das Richtige im Interesse der Heimatvertriebenen tut. Und deshalb, lieber Rudi, vielen herzlichen Dank für das, was du dabei getan hast, und vielen Dank an deine Frau, dass sie dir das immer erlaubt hat. Das ist, glaube ich, ganz wichtig.
Es ist wahr: Mein Vorgänger im Amt, Hans Eichel, war der Meinung, mit dem Laufe der Zeit hätten sich die Heimatvertriebenen als eine gesellschaftlich relevante Gruppe überholt. Ich habe das nie so gesehen, weil ich glaube, dass gesellschaftliche Relevanz von Geschichte nicht getilgt werden kann und auch nicht getilgt werden darf. Und ich habe es nie akzeptiert, weil ich fest davon überzeugt bin, dass in unserer Welt, in der sich vieles unendlich schnell bewegt, in der Gerechtes und Ungerechtes, Glück und Unglück sich oft schneller abwechseln als jeder einzelne von uns es manchmal verkraftet. In einer modernen Medienwelt, in der vieles von dem, was gerecht und ungerecht, was gut und schlecht ist, uns fast schwindlig macht in der Berichterstattung aus der ganzen Welt; in dieser Zeit ist das, was hier mehrfach mit „Wurzeln“ beschrieben worden ist, wichtiger denn je. Wer ernsthaft Europa will, der braucht Menschen mit festen Wurzeln. Aus Europäern ohne Wurzeln wird kein friedliches Europa werden. Davon bin ich fest überzeugt.
Deshalb ist Vertreibung, ist Erinnerung an Flucht nicht begrenzt auf diejenigen, die es erlebt haben, die natürlich in besonderer Weise darunter gelitten haben, die besonders davon geprägt sind. Aber wenn Geschichte und das Lehren von Geschichte einen Sinn haben sollen, dann darf Erfahrung nicht auf die jeweilige Erlebnisgeneration beschränkt sein. Deshalb ist die Frage, was Wurzeln ausmacht, zu denen man sich bekennt, an die man sich erinnert und an die man sich mit Stolz erinnern darf und wo man Raum bekommt, sie leben zu können, ebenso wichtig für die Zukunft unserer Gesellschaft wie die Tatsache zu wissen, dass jeder mit seinem Recht auf Heimat ein Stück Selbstverständlichkeit lebt. Wer sagt, weil die Vertriebenen älter würden, seien sie langsam keine gesellschaftlich relevante Gruppe mehr, meine Damen und Herren, der hat nicht begriffen, was in der Geschichte passiert ist, und der hat nicht begriffen, was man aus Geschichte lernen kann. Das ist der Grund, warum wir uns heute für diese Frage einsetzen.
Bernd Posselt hat es heute Morgen angesprochen, und wir Hessen erleben das auch. Es gibt nicht nur die Fragen der Vergangenheit, sondern es gibt auch neue Fragen. Es gibt eine junge Generation von Menschen, die wissen, dass ihre Großeltern nicht dort geboren sind, wo sie heute leben, was sie als ihre Heimat empfinden. Und dass der Grund, warum sie nicht mehr dort sind, wo sie geboren sind, nicht die Selbstverständlichkeit des Laufes einer immer mobileren Welt, sondern ein Teil von Geschichte, von Unrecht ist. Sie beginnen dann Fragen zu stellen. Fragen, die sich auf ganz einfache Dinge beziehen: Wie war das Leben damals dort? Wo war das überhaupt? Wie hießen die Orte überhaupt? Im Übrigen ist das einer der Gründe, warum ich finde, wir sollten mit Namensumbenennungen, jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland, soweit wir dafür zuständig sind, vorsichtig umgehen. Wir haben genügend Übersetzungen an anderer Stelle. Die jungen Menschen erwarten darauf Antwort. Und wenn sie bemerken, dass ihre Eltern und vor allen Dingen alle, die nicht ihre Eltern und Großeltern sind, zurückhaltend sind, solche Antworten zu geben, fangen sie an zu fragen: Was war da los? Das ist eine gefährliche Frage. Wenn man diese Frage „Was war da los?“ nicht unverkrampft beantwortet, dann löst man viele Reaktionen aus – von Gleichgültigkeit über Entwurzelung bis hin zu Radikalität. Das ist die ganze Bandbreite, die jeder verantwortet, der sich nicht offen mit allen Elementen der Geschichte beschäftigt. Und zu diesen Elementen gehört es zu fragen, welche Tänze unsere Großeltern hatten, welche Trachten, welche Kleidung sie mitgebracht haben, welche Traditionen. Was befindet sich heute in der Landschaft, aus der sie kamen? Können wir da hin? Wie werden wir da aufgenommen? Haben meine Eltern und Großeltern die Brücken dazu abgebrochen oder bemühen sie sich, diese Brücken in Europa zu bauen? Ist es eines meiner geschichtlichen Vermächtnisse, ein bisschen dahin zu schauen, wo die Heimat meiner Großeltern ist? Oder ist das etwas, wo ich lieber wegschaue und es niemandem sage? Das sind die Fragen, über die wir streiten.
Leider kann Alfred Herold heute nicht hier sein. Meine Erfahrung ist schon, seitdem ein Vertreter der Vertriebenenverbände im Rundfunkrat des Hessischen Rundfunks sitzt, gibt es eine ganz andere Motivation, an einem Heimatfest mit einer Fernsehkamera teilzunehmen als das vorher der Fall war. Genau das will ich. Ich will, dass wir in unserem Sender das zeigen. Und ich muss die Hessen verteidigen: Der Standard der Landesregierung, die ich ablösen durfte, war nicht immer der hessische Standard. Georg August Zinn, einer der großen Sozialdemokraten unseres Landes, hat den Hessentag 1961 auch deshalb begründet, weil er gesagt hat: Ich will diese große Leistung von einem Drittel der Menschen meines Bundeslandes, die als Vertriebene hierher kamen, aber auch die große Leistung der übrigen zwei Drittel, sie aufzunehmen und daraus gemeinsam nicht in Feindschaft, sondern in Solidarität ein Land zu schaffen – das will ich dokumentieren. Daraus ist der Hessentag entstanden. Und wir wissen, es ist das größte Volksfest eines Bundeslandes; zehn Tage brauchen wir inzwischen dafür all das zu feiern, was wir dort zu feiern haben. Mehr als eine Million Menschen gehen da hin. Nur, als ich Ministerpräsident wurde, gab es die Heimatvertriebenen bei diesem Fest nicht mehr. Wir haben sie einfach wieder eingeführt. Sie sind nicht alles, aber sie sind etwas Wichtiges und sie haben heute auch den Mut, eine große Halle zu füllen, hierher zu kommen, die Musik zu erleben und dabei zu sein. Das möchte ich. Wir wollen nicht zurück in eine andere Welt. Wir wissen, dass wir nicht heilen können, was geschehen ist, aber wir haben eine Verpflichtung, es normal in unserer Gesellschaft zu leben. Und das ist die Aufgabe: gemeinsam an der Zukunft zu arbeiten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese prinzipielle Überlegung endet nicht in dieser Generation, sondern sie geht auch auf die nächste über. Deshalb ermuntere ich alle, sich der schwierigen Aufgabe zu unterziehen, Lehrerinnen und Lehrer ein wenig zu nötigen, sich mit Vertreibung, ihren Ursachen und ihren Folgen zu beschäftigen. Nicht nur in den Fächern Politik und Wirtschaft oder allein mit Blick auf die letzten zehn Jahre im ehemaligen Jugoslawien, sondern durchaus auch dort, wo es die eigene Identität, die eigenen Fragen und die eigenen politischen Risiken ein Stück betrifft. Es macht keinen Sinn die deutsche Geschichte zuvor enden zu lassen, sondern dies gehört dazu. Rudi Friedrich, der damit mehr zu tun hatte als ich, kann durchaus lange berichten, dass die Frage, wie man es schafft, dies wieder in den Unterricht hineinzubekommen, eine Herausforderung ist. Bis zum heutigen Tag. Wir Deutschen leben in einer Lehrerwelt, in der es über Jahrzehnte immer wieder gelungen ist, dass man bei der vertieften Betrachtung des Römischen Reiches und des Mittelalters irgendwie leider schon keine Zeit mehr hatte, bis zum Zweiten Weltkrieg zu kommen. Die Gründe dafür wechseln, auch individuell, aber sie sind einer wie der andere politisch nicht klug und nicht fair gegenüber der nächsten Generation. Und manche Stiefelträger, die ich da gelegentlich mit Glatzkopf sehe, wären vielleicht davor bewahrt, wenn ein paar mutige Lehrer mehr über den Nationalsozialismus und seine Folgen, aber auch über Vertreibung und deren Folgen so offen reden würden – so dass beides auf dem Tisch liegt, wenn junge Menschen sich entscheiden, von wem sie sich verführen lassen wollen oder nicht. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben eine Pflicht, dies gemeinsam zu tun.
Ich will nicht verhehlen: Ich weiß, das ist nicht nur eine Frage der grundsätzlichen politischen Dimension. Die ist wichtig. Natürlich muss man sich fragen – muss man auch rechtfertigen –, warum wir das alles machen. Deshalb habe ich versucht darzulegen, dass ich glaube, dass ohne diesen Respekt vor der Lebensgeschichte des Einzelnen und ohne das, was wir daraus lernen können, sich die Gesellschaft nicht gestalten lässt. Aber dann müssen wir sie auch gestalten. Und das löst Fragen nach innen und nach außen aus. Ich weiß, dass gerade die Sudetendeutsche Landsmannschaft in dieser Diskussion immer wieder in einer besonders schwierigen Weise gefordert ist, weil ein Stichwort wie die Beneš-Dekrete uns mehr Steine in den Weg legt, als das an anderen Stellen der Fall ist. Und ich glaube, dass wir gut beraten sind, auch an dieser Stelle ganz normal und klar zu bleiben. Deutsche haben ein Recht darauf, auch von ihren Nachbarn zu verlangen, dass ersichtliches, kollektiv ausgesprochenes Unrecht nicht geltendes Recht anderer europäischer Staaten sein kann. Das ist selbstverständlich. Was vielleicht nicht ganz soviel Beifall auslöst: Ich habe mich immer dafür entschieden zu sagen: Mir ist es lieber, diese Auseinandersetzung mit einem Tschechien zu führen, das in der EU ist, anstatt die Grenzen Europas um Tschechien herum zu bauen und denen, die in Tschechien das vereinte Europa nicht wollen, noch mehr Chancen zu geben, es noch länger zu verhindern. Ich glaube, was der derzeitige Außenminister dort macht, ist nicht die Lösung des Problems. Aber dass ein tschechischer Außenminister heute den Mut hat, das zu sagen und einige Wochen danach noch unangefochten im Amt ist, ist über die Jahrzehnte nicht selbstverständlich; und es ist wichtig, dass einer den Mut dazu hat, dies zu tun. Darüber machen wir uns keine Illusionen. Dieses Ringen wird nicht in Wochen zu Ende sein, sondern es ist in Wahrheit auch ein Ringen von Generationen und ihren Erlebnissen. Das gehört zur Wahrheit dazu. Und deshalb: Wir werden in Demokratien dieses Ringen haben müssen.
Wir brauchen heute Abgeordnete des Europäischen Parlaments, die neben Bernd Posselt sitzen. Und Sie haben heute Morgen hier erlebt und wissen es viel besser als ich, obwohl wir zwei uns lange kennen, dass er nicht daran zu hindern ist, seine Meinung zu sagen und ausführlich darzulegen. Sie wissen deshalb: Es ist für niemanden auf Dauer wirkungslos, ihm in dieser Frage gegenüber zu sitzen. Und da ist er nicht der einzige. Es sind viele, es sind wir Deutsche, es sind andere Europäer. Und die kommen nicht genau so aus Brüssel zurück wie sie dorthin gegangen sind, weil das nirgends gelingt. Das gelingt uns nicht, wenn wir in ein Parlament gehen; das gelingt uns nicht, wenn wir in andere Regionen der Welt gehen und mit diesen diskutieren. Es ist die einzige Chance, in einer überschaubaren Zeit mit friedlichen Mitteln überhaupt dort eine Veränderung zu bewirken und die Menschen davon abzubringen, den kurzfristigen Populismus des Tages im eigenen Land hinter die Interessen eines gemeinsamen friedlichen Europas zu stellen. Deshalb ist es richtig, dies in Europa zu machen. Aber es funktioniert nur, wenn wir klar verständlich bleiben. Deshalb: Es kann ein sehr entspanntes Verhältnis zur Tschechischen Regierung geben, aber nur unter der Bedingung, dass sie weiß, was wir verlangen. Wir wissen, dass es manche Dinge gibt, die nicht jeder jeden Tag erfüllt, dass Demokratien auch schwierig sind. Nur, wir werden ihnen nicht erlauben zu glauben, es ginge auch ohne. Das ist auch ein Stück patriotischer Pflicht, die eine nationale Regierung hat. Deshalb bin ich froh, dass wir sie in dieser Form wahrnehmen.
Das gilt dann auch nach innen. Das Zentrum gegen Vertreibungen ist ein richtiger Gedanke. Es zeigt unsere Verwundung, auch unsere eigene Anerkenntnis der Schuld, die von unserem Boden ausgegangen ist. Es zeigt sich, dass wir sehr lange gezögert haben, über ein solches Projekt zu sprechen. Es ist nach meiner Ansicht historisch richtig, dass wir bei Mahn- und Gedenkstätten zuerst an eine Stelle in unserer nationalen Hauptstadt gedacht haben. Das war richtig. Das war aus meiner Sicht sogar nötig. Dem haben die Vertriebenen zugestimmt. Wie überhaupt es aus meiner Sicht bei manchen, die da Berührungsängste haben, gelegentlich notwendig wäre, mal drei Minuten darüber nachzudenken, was in diesem Land Bundesrepublik Deutschland in den frühen fünfziger Jahren, bevor ich geboren wurde, passiert wäre, wenn es die Charta der Vertriebenenverbände nicht gegeben hätte; wenn diese nicht als erste das Signal gegeben hätte, dass mit den Vertriebenen nur friedliche Lösungen möglich sind. Wenn diese Millionen von Menschen, die verwundet und geschunden in dieses Land gekommen sind, an der demokratischen Auseinandersetzung anders teilgenommen hätten als durch ihre Integration in einen Friedensprozess. Wer sich mit den Vertriebenenorganisationen in Deutschland auseinandersetzt, muss nicht mit jedem, der dort tätig ist oder tätig war, einer Meinung sein. Das ist ein Recht der Auseinandersetzung. Da gibt es manches, da würde auch ich gerne diskutieren. Aber die Institution der Verbände hat wesentlich zur Stabilität der Bundesrepublik Deutschland, ihrem Friedenswillen und der Integrationsfähigkeit von Europa beigetragen – und nicht zum Gegenteil. Deshalb kann man sich mit ihnen auch sehen lassen, meine sehr verehrten Damen und Herren. Und man muss sie nicht zur Seite legen.
Diejenigen, die das vertreten, haben ja in beachtlichen Allianzen – wenn man Erika Steinbach, Peter Glotz, Ralph Giordano nur einmal als Namen nennt – nicht zu irgendeinem, sondern zu dem Zeitpunkt, nachdem die anderen Projekte verwirklicht oder politisch entschieden worden waren, diesen Gedanken aufgenommen. Wir haben gelernt, dass dies in der europäischen Politik manche Irritation auslöst. Und wir haben eine Verpflichtung, durch Überzeugung, durch Gespräche und wo immer möglich durch Kooperation so wenige Irritationen wie möglich hervorzurufen. Aber auch an dieser Stelle gilt: Wir müssen uns jeweils die Frage stellen, wo die Dinge sind, die für uns nicht zur Disposition stehen. Ich glaube, dass ein Land, das in innerem Frieden, in Stabilität, in Selbstbewusstsein auf die jeweils nächste Generation zugehen will, um über seine Geschichte zu reden, nicht den Eindruck erwecken darf, dass der Mut fehle, über einen Teil der Geschichte zu sprechen. Das gilt für das schreckliche Unheil gegenüber Juden, Sinti und Roma, gegenüber Menschen in anderen Regionen Europas jenseits der deutschen Grenzen, die wir mit Bomben und Militär traktiert haben. Aber man kann nicht auslassen, dass es auch viele Menschen gab, die heute in Deutschland leben oder auch noch in anderen Bereichen leben, die einen bitteren Preis dafür bezahlt haben. Und man kann nicht über Vertreibungen in der Welt reden wollen, wenn man nicht mit offenen Augen mit seinen Nachbarn und sich selbst über die Schicksale von Vertreibung spricht, die im eigenen Land passiert sind. Und zwar in der nationalen Hauptstadt, neben den anderen Mahnmalen, neben dem Parlament, neben den Institutionen – dort, wo die Gäste der Welt hinkommen, wo wir selbst unser Land präsentieren. Vertreibung ist ein schrecklicher Teil unserer Geschichte. Aber es ist ein Teil unserer Geschichte, der bei den Opfern genau das gleiche Recht auslöst, dass ihrer gedacht wird wie allen anderen schändlichen Dingen, die passiert sind; weil wir nur dann, wenn wir alles fair nebeneinander stellen, eine Chance haben, wirklich daraus zu lernen, ohne in eine neue Kulisse von Vorwürfen und Verdrängungen zu kommen.
In der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin und dem Koalitionsvertrag findet sich erstmals eine faire Chance, dass dort wieder angeknüpft wird, wo ein Bundesinnenminister Otto Schily ja schon einmal war. Ich habe zwei Meter von ihm entfernt im Berliner Dom gesessen, als angekündigt worden ist, dass die Bundesregierung das Zentrum gegen Vertreibungen unterstützt. Ich hoffe sehr, dass wir sozusagen im zweiten Anlauf einer Bundesregierung, diesmal unter der Führung von Angela Merkel, erfolgreich sein werden. Ich weiß, dass dies kein einfaches Projekt ist. Ich denke, dass es nur zusammen mit den Organisationen der Betroffenen gelingen kann. Es gibt keine Aufarbeitung von Geschichte ohne die legitimen Vertreter derjenigen, die von dieser Geschichte betroffen waren. Aber ich denke auch, dass wir da jetzt einen Weg finden müssen, um zu baldigen Ergebnissen zu kommen. Das können alle erwarten, die daran so lange arbeiten. Erika Steinbach hat mit der Stiftung ja schon einen ersten Schritt getan. Viele Städte und Gemeinden haben ihrem Appell zu einer Patenschaft Rechnung getragen – eine beachtliche Zahl quer über die Republik hinweg. Und ich möchte diese Gelegenheit gerne nutzen, um Ihnen zu sagen, dass ich nach gemeinsamen Beratungen mit Rudi Friedrich und anderen nun den Finanzminister des Landes Hessen gebeten habe, ab dem nächsten Jahr unsere Patenschaft des Landes Hessen als erste Patenschaft eines deutschen Bundeslandes ebenfalls einzuplanen. Wir stehen zu dieser Initiative, und wir werden sie auch finanziell unterstützen. Ich weiß, dass dort einige wenige hunderttausend Euro nicht alle Probleme lösen, ich will auch eigentlich – das gebe ich zu – im Verhältnis zur Bundesregierung nicht den Eindruck erwecken, wir wollten etwas bezahlen, was sie auch bezahlen kann. Aber ich will deutlich machen: Dies ist nicht nur eine Frage von Sympathie, sondern von Wollen. Wir Hessen jedenfalls wollen, dass es in der nationalen Hauptstadt ein sichtbares Zeichen des Gedenkens gibt. Und zwar möglichst bald.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich danke für diesen Preis. Ich weiß auch um die Verpflichtung, die Sie damit auslösen wollen, und ich trage sie gern. Ich bin mir bewusst, dass die Tradition dieses europäischen Kaisers, des „Friedenskaisers“ – seine Bereitschaft, in Dimensionen über die Grenzen seines eigenen Reiches eben nicht nur militärisch, sondern auch kulturell hinauszudenken – ein Anspruch ist, und man diesen auch als Ansporn verstehen muss. Ich glaube, dass Sie als Sudetendeutsche mit diesem Patron Ihres Preises eine gute und in die Zukunft gerichtete Wahl getroffen haben. Wir haben uns in den letzten Jahrzehnten logischerweise sehr zu uns selbst orientiert. Wir mussten Deutschland wiederfinden, vereinen, aufbauen, ein Europa gründen. Helmut Kohl, der dieses Europa mit seinem Wirken aus Deutschland heraus möglich und unumkehrbar gemacht hat, er hat uns große weitere Aufgaben hinterlassen. Denn dieses Europa ist juristisch zusammengefügt. Und die Diskussion um den Verfassungsvertrag in diesen Tagen zeigt, dass da noch manches mit Leben zu füllen ist. Die Deutschen sind aufgrund ihrer Geschichte die europäisch motivierteste Nation. Manch andere betrachten Europa nach wie vor als eine interessante Freihandelszone. Es gibt viel daran zu tun. Und wenn wir näher hinschauen, dann vertreten wir ein Europa, das zu Beginn des letzten Jahrhunderts ein Viertel der Menschheit ausgemacht hat – weit, weit mehr als die Hälfte der Wirtschaftskraft der Welt. Am Ende dieses Jahrhunderts werden wir noch fünf oder sechs Prozent der Menschheit repräsentieren und vielleicht auch nicht mehr sehr viel mehr der Wirtschaftskraft. Das muss nicht schlecht sein. Man kann davon gut leben. Und es kann eine gute Zukunft für unsere Kinder, Enkel und Urenkel sein. Aber die Voraussetzung dafür ist, dass es ein Europa gibt. Wir Deutschen oder Italiener oder Franzosen – so selbstbewusst auch jeder einzelne irgendwo sein mag – werden auf dieser Weltkarte nicht mehr ganz so leicht zu erkennen sein.
Deshalb brauchen wir ein gemeinsames Europa nach außen; was viel Kraft kosten wird. Aber das Spannende ist, dieses gemeinsame Europa nach außen werden wir nur unter zwei Bedingungen bekommen: Die eine Bedingung ist, dass wir nach innen uns respektieren als ein Europa der Vielfalt, als ein Europa der Regionen, der unterschiedlichen Heimat, der unterschiedlichen Sprachen. Dass wir den Geist Europas und den Stolz auf den Platz und den Ort, wo wir herkommen, zusammenbringen. Jeder Mensch ist irgendwo geboren, und das ist sein Platz, an den er sich erinnern will und oft glücklicherweise auch erinnert, und den er sich nicht streitig machen lassen will, nicht durch Vertreibung und nicht durch Politik und durch nichts Anderes. Er will, auch wenn er es nicht mehr selbst zum Lebensraum erklärt hat, stolz darauf sein, wo er herkommt. Und diesen Stolz wird ihm niemand nehmen, sonst gibt es kein gemeinsames Europa.
Zugleich brauchen wir in der Welt Vorbilder. Die Europäer müssen sich nicht anmaßen, der Maßstab der Welt zu sein. Aber sie haben eine Pflicht, Erfahrungen weiterzugeben, die wir anderen ersparen wollen. Zu diesen Erfahrungen gehören Kriege, zu diesen Erfahrungen gehören Unrecht und Diktatur, und zu diesen Erfahrungen gehört Vertreibung. Und wenn wir in dieser Welt, in der wir nur ein kleiner Teil sein werden, mit dem Vorsprung unserer Erfahrungen bestehen wollen, dann müssen wir den Menschen beweisen, dass wir mit unseren Erfahrungen umgehen können. Umgehen können im Frieden miteinander, umgehen können in freiheitlicher Demokratie aber auch umgehen können mit den dunklen Seiten unserer Geschichte, sie nicht zu vertuschen, sondern sie offenzulegen, über sie zu reden und den Menschen einen Weg zu weisen, mit Stolz auf die guten Teile ihrer Geschichte zu leben und in Fairness und Gerechtigkeit über die dunklen Seiten zu sprechen. Nur wer die Kraft hat, dies zusammenzubringen, garantiert, dass unsere Kinder, Enkel und Urenkel in einem freien Europa, in einer Welt leben, in der sie sich behaupten können. Das konnte Karl IV. logischerweise nicht sehen, und wir selbst heute ermessen auch nicht, was das für die nächsten Generationen bedeuten wird. Aber dass in der Ziellinie von damals bis heute seine Gedankengänge richtig waren und es sich lohnt, auf diesen Gedanken aufzubauen, das ist eine gute Botschaft, die die Sudetendeutschen dort aussprechen, für die die Europäer dankbar sein dürfen. Ich bedanke mich für den Preis. Ich wünsche Ihnen alles, alles Gute für die Zukunft.