Rede Tag der Heimat
Rede des Hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch auf der zentralen Bundesveranstaltung des Bundes Verteriebenen zum Tag der Heimat
18. August 2007, Internationales Congress Centrum Berlin
Sehr verehrte Frau Präsidentin, liebe Erika Steinbach,
sehr geehrter Herr Präsident des Europäischen Parlaments, lieber Hans-Gert Pöttering,
verehrte Kolleginnen und Kollegen aus Parlamenten und Regierungen,
meine sehr verehrten Damen und Herren!
Es ist für mich eine Ehre, heute hier eingeladen zu sein und zu Ihnen zu sprechen. Ich habe diese Einladung gerne angenommen, aus zwei ganz unterschiedlichen Motiven: Zum einen, 1958 geboren, gehöre ich nicht zur Erlebnisgeneration; und meine Familie hat das glückliche Schicksal, nicht selbst von Vertreibung betroffen gewesen zu sein. Ich möchte gerade mit dieser Biographie all denjenigen, die das Schicksal der Vertreibung getroffen hat, die mit den Folgen bis zum heutigen Tag kämpfen und deren Kinder oder Enkel aufgrund dieser Vergangenheit nach ihrer Identität und den Brüchen ihrer Identität suchen, deutlich machen, dass dies keine Angelegenheit nur einer Gruppe von Betroffenen ist. Stattdessen ist und bleibt das, was einigen von uns Deutschen passiert ist, über Generationen hinweg ein Teil von uns allen, unserer Geschichte und unserer Identität. Zum anderen empfinde ich es als eine gute Chance hier zu sprechen, weil ich Verantwortung für ein deutsches Bundesland trage, in dem nahezu ein Drittel der Bürgerinnen und Bürger in ihrer eigenen Lebensgeschichte – sie selbst, ihre Eltern oder Großeltern – mit Vertreibung konfrontiert waren. Hessen ist heute, sicherlich auch aufgrund seiner zentralen Lage, eines der ökonomisch erfolgreichsten Länder der Bundesrepublik Deutschland und in seiner Wirtschaftskraft stärker als manches der 27 Mitgliedsländer der Europäischen Union. Aber es konnte dies nur werden, weil eine gigantische Aufbauleistung vollbracht worden ist. Weil alle mit angepackt haben – manchmal diejenigen, die neu hinzugekommen sind, sogar am meisten. Aber auch, weil alle ein Stück weit zusammengerückt sind; nicht immer nur in Freude, sondern durchaus aufgrund der schwierigen Zeit mit ihren vielen schwierigen Erlebnissen. So ist eine Gemeinschaft entstanden, die einen meiner Amtsvorgänger, Georg August Zinn, dazu bewegt hat, vor fast 50 Jahren mit dem Hessentag eine Institution zu schaffen, die auch für ganz Deutschland ein Symbol darstellen soll: Wir sind eins geworden und wollen als eins gesehen werden, und wir haben hier gemeinsam ein neues Verständnis unserer Heimat gefunden.
Wenn man so sein Land definiert, wie ich dies tue, dann muss man dafür sorgen, dass die Heimat, dass die Erinnerung an die Wurzeln der Menschen immer auch so beschrieben wird, dass alle Wurzeln damit gemeint sind. Dass nichts weggelassen wird, sondern dass wir aufeinander Rücksicht nehmen, miteinander in Respekt und mit dem festen Willen leben, auch voneinander zu lernen und gemeinsam eine Zukunft zu gestalten. Als Ministerpräsident sehe ich, wie die Landsmannschaften der Vertriebenen mit ihrer Arbeit einen wichtigen Beitrag dazu leisten. Und ich möchte Ihnen auch sagen: Meine Regierung geht davon aus, dass dies kein Beitrag ist, der vor 20 Jahren einmal wichtig war und heute seine Bedeutung verliert; sondern wir hoffen darauf, dass Sie, Ihre Landsmannschaften und Organisationen, auch die Herausforderungen des demographischen Wandels so managen werden, dass wir in Zukunft weiter auf Sie bauen und mit Ihnen gemeinsam diese Wurzeln pflegen können. Darum haben wir uns gemeinsam zu bemühen.
Der Präsident des Europäischen Parlaments hat – besser als es jeder andere kann und auch stärker legitimiert als jeder andere – über die Bedeutung der Menschenrechte als Grundlage für unsere europäische Wertegemeinschaft gesprochen. Ohne diesen gemeinsamen Konsens wird das, was der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl das „gemeinsame Haus Europa“ genannt hat, nicht bewohnbar sein. Es wird dabei um mehr gehen als um die Regeln der Zimmerverteilung und die Frage des Außenanstrichs. Es wird darum gehen, mit welchem Geist man sich in dem Haus begegnet und mit welcher Idee man das Haus weiterentwickelt, ausbaut, pflegt und erhält; und auch mit welchem Stolz man in dem Haus lebt, aus ihm herausgeht und mit Freude wieder zurückkommt. Aus ihm herauszugehen und mit Freude wieder zurückzukommen, das soll uns auch darauf hinweisen: Wenn wir heute über die Menschenrechte sprechen, dann sprechen wir nicht nur über die innere Frage der Werteordnung der Europäischen Union. Sondern wir, die in Europa heute das Glück haben, in Freiheit und Frieden zu leben, haben dabei eine erhebliche Verantwortung auch für das, was um uns herum in der Welt geschieht. Sicherlich: In einer zukünftigen Weltordnung, in der auch nicht alles auf den Schultern der Amerikaner ruhen wird, werden wir nicht der größte Teil der Welt sein. Unser Bevölkerungsanteil an der Welt sinkt, daran arbeiten wir selbst mit – und andere noch mehr. Auch unsere Wirtschaftskraft wird nicht mehr so dominant sein, wie sie in den letzten Jahrzehnten war. Aber wir werden wahrscheinlich für Jahrhunderte derjenige Teil der Welt bleiben, in dem die Auseinandersetzung mit den Religionen, mit der Philosophie und auch mit den internationalen Verflechtungen und Verschmelzungen stärker war als irgendwo sonst. Die Erfahrungen, die wir dabei gemacht haben, waren schmerzvoll, aber prägend für die Art, wie wir heute zusammen leben können. Das wird nicht verbindlich sein in einem besserwisserischen Sinne, dass alle das auf der Welt alles so machen sollten wie wir. Aber es wird vielen auf der Welt zu denken geben, ob sie all unsere Erfahrungen des schmerzhaften Lernens wiederholen oder auf uns achten wollen. Wenn wir möchten, dass sie auf uns achten, müssen wir im Reinen mit uns selbst sein über das, was wir für richtig halten. Und wenn wir dies nicht einmal über unsere Grundwerte, über die Menschenrechte sind, dann werden wir mit diesen Widersprüchen – und es gibt ja Staatsmänner in der Welt, die leben ständig damit, Widersprüche, die wir noch haben, zu zitieren – die Autorität verlieren, die wir nicht nur um unser selbst willen brauchen, sondern auch weil es einen Sinn macht, anderen manches zu ersparen, was wir erlitten haben.
Wenn wir über Vertreibung sprechen, dann haben wir heute – gerade Sie, die hier versammelt sind, mit den so unterschiedlichen Erlebnissen – natürlich die eigene Geschichte vor Augen. Die sollten wir keinen Moment ausblenden. Aber wir wissen auch: Diese Phänomene gibt es leider rund um den Globus. Manchmal sind sie verdeckt – heute vielleicht schneller sichtbar durch die internationalen Medien –, und manchmal werden sie zum Gegenstand großer, internationaler politischer Auseinandersetzungen. Ich will mit aller Vorsicht nur sagen: China, das sich aufmacht zurückzukommen zu der alten Stärke in der Welt; ein Land, das 1947 fast ein Drittel zum Bruttosozialprodukt der Welt beigetragen hat und das irgendwann in diesem Jahrhundert wieder in diese Stellung einrücken wird – dieses Land hat viele Spannungen. Und in diesem Land gibt es Vertreibung. In diesem Land gibt es keine Achtung all der Menschenrechte, so wie wir dies verstehen. Aber wir haben erste Schritte getan: Der Menschenrechtsdialog und der Rechtsstaatsdialog, die wir, die Europäer und die Deutschen, eingeleitet haben, beruhen auf eben jener Autorität und Erfahrung, von der ich zuvor gesprochen habe. Das bedeutet nicht, dass wir die Exporteure von Wertordnungen sein werden. Aber wenn denn andere mit uns auf gleicher Ebene reden wollen, dann müssen wir auch sagen, dass wir auf unsere Werte stolz sind. Wir werden die Chinesen nur davon überzeugen, die Vertreibung zu beenden und die Menschenrechte zu respektieren, wenn sie sehen, mit welcher Behutsamkeit und zugleich mit welchem Selbstbewusstsein wir unter riesigen Spannungen auch innerhalb Europas es geschafft haben, damit umzugehen. Sie werden uns an konkreten Beispielen sagen, dass wir dies noch nicht überall geschafft haben. Das ist ein Zeichen dafür, dass Menschen nicht unfehlbar sind und dass es ein langer Weg zum Glück ist. Aber unsere Anstrengung muss eine sein, die über Generationen, Ländergrenzen und Kontinente hinweggeht. Das ist die Bedeutung, die auch wir in Deutschland, ausgehend von der Charta der Vertriebenen als eines der in der Tat zentralen Signale der Friedfertigkeit und Friedfähigkeit, auch in der Zeit des Leides, für die weitere Diskussion sehen müssen. Wir Deutsche haben ein Anrecht darauf, dass wir gehört werden, sowohl mit der Aufarbeitung der Fehler der Vergangenheit als auch mit dem Stolz der Erfahrungen, die wir daraus gezogen haben. Hier in Deutschland, in Europa und – gemeinsam mit den anderen Europäern – darüber hinaus in der Welt. Die Vertriebenenorganisationen stören diesen Prozess nicht, sondern sie sind ein unverzichtbarer Bestandteil einer solchen Diskussion.
Für viele junge Menschen – und in dieser Zeit darf ich kurz vor Vollendung des 50. Lebensjahres sagen: auch für meine Generation – ist Frieden in Mitteleuropa eine Selbstverständlichkeit. Wir haben nicht nur keinen Krieg erlebt, sondern aus der Lebenserfahrung des 1958 Geborenen, in Frankfurt am Main groß Gewordenen, der als erste Erinnerungen Bilder von 1962 oder 1963 im Kopf hat, muss ich immer wieder mit einem unglaublichen Respekt feststellen, dass ich trotz dieser Last der Vertreibung, der Integration, des Aufbaus eines zerstörten Landes, fast nichts mehr gesehen habe von dem zerstörten Frankfurt, das ich von Bildern und aus den Berichten meiner Eltern kenne. Wäre die Alte Oper nicht erst Mitte der 70er Jahre aufgebaut worden, hätte ich keine Ruine gesehen. Verstehen Sie, diese Tatsache, was ein Volk leisten kann, hat zwei Dimensionen: Die eine besteht in der Ungeheuerlichkeit der Kraft, die man entwickeln kann; die andere besteht darin, wie schnell Erlebnisse auch wieder verlorengehen können. Ich werde meinen Kindern nicht erklären wollen – und ich glaube nicht einmal erklären können –, dass sie in ihrem Leben und sogar dem Leben ihrer Kinder mit dem unmittelbaren Risiko eines Krieges auf unserem Kontinent rechnen müssen. Wir sind ein Land, ein Kontinent des Friedens geworden. Dieses erreicht zu haben ist ein kostbares Gut, das man nur dann erhalten kann, wenn es uns gelingt, mehr und mehr nicht nur Grenzen unbedeutend zu machen, die oft der Grund für diese Auseinandersetzung waren, sondern auch ein Verständnis füreinander zu finden in den Herzen und Gefühlen jenseits dieser Grenzen. Denn es waren ja nicht die formalen Grenzen, die Menschen erlaubt haben, dagegen Emotionen aufzuschüren, die Kriege attraktiver machten als Frieden. Sondern es waren die Gefühle von Menschen – das, was man auslösen konnte in den Herzen, was dort jeweils den Ausschlag gab. Und ich glaube, dass dort die Betroffenheit und das Verständnis Begriffe sind, die uns auch in Zukunft begleiten, genauso wie die Frage, wie wir es schaffen zu erinnern.
Wenn die Bürgerinnen und Bürger in Hessen am heutigen Tag durch die Innenstädte von Frankfurt, Kassel, Bensheim oder Gießen gehen, dann wird ihnen vielleicht auffallen, dass dort Flaggen an den Rathäusern hängen. Und manche, soweit sie so sensibel sind, werden sogar fragen, warum. Das ist vielleicht eine der Chancen anzufangen, über Generationen hinweg darüber zu reden, was der Anlass dieses Tages der Heimat ist. Ich bin sehr froh, dass wir heute durchaus mehr Menschen als früher finden, die bereit sind, ihre Verantwortung als Berichtende der Erlebnisgeneration noch wahrzunehmen. Eigentlich möchte ich jedem einzelnen von Ihnen sagen: Gehen Sie in die Schulen! Wo immer Sie sind, gehen Sie in die jungen Kirchengemeinden! Wo immer Sie sind, suchen Sie das Gespräch! Sie werden heute nicht mehr die Angst der Eltern finden, darüber nicht zu reden, die es in der Vergangenheit ja durchaus gab. Sondern Sie werden heute neugierige junge Menschen finden, für die Sie aus einer anderen Welt berichten, die diese sich nicht vorstellen können. Aber wenn jemand in Fleisch und Blut vor ihnen sitzt, können sie beginnen, um entsprechende Vorstellungen zu ringen. In 20 Jahren wird das mit einem Videofilm, einer Geschichtsdokumentation für uns alle eine große Herausforderung werden. Je mehr wir als Zeitzeugen heute dokumentieren können, umso mehr werden wir in unserem Land Menschen haben, die Verständnis aufbringen und dem Gedanken nachspüren können, was in Herzen, in Seelen und Gefühlen passieren kann. Sie werden dann wissen, wie gefährlich es sein kann, wenn Menschen nicht genug darüber aufgeklärt sind, was um sie herum geschieht und wie Emotionen dadurch manipuliert werden können. Deshalb brauchen wir die Erlebnisgeneration. Wir brauchen eine unverkrampfte Diskussion über den Begriff „Heimat“. Diese Diskussion versteht in Europa niemand außer uns, sie kann auch selten in eine Fremdsprache übersetzt werden, aber sie ist ein Teil unseres Schicksals.
Auch in meinem Land ist der Begriff „Heimatkunde“ als Unterrichtsfach durch den Begriff „Sachkunde“ ersetzt worden. Ich erlaube mir, entgegen der Mehrheit meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Schulen dies nach wie vor für falsch zu halten. Dass neben der örtlichen Burg auch die Bienenzucht eine Rolle spielen kann, das ist ja alles richtig. Aber der Begriff „Heimat“ muss Menschen so begegnen wie die Flagge am Rathaus. Es gehört zu unserer Verantwortung, dafür zu sorgen, dass Menschen dies nicht für einen apokryphen Begriff des letzten Jahrhunderts halten, sondern für einen selbstverständlichen Bestandteil ihrer eigenen Selbstdefinition. Das gilt dann für den tibetischen Jungen, der von seinen Eltern alleine über die Grenze nach Nepal geschickt wird in dem Wissen, dass sie ihn nie wieder sehen, nur damit er an einer anderen Stelle seine Religion und Ausbildung frei verwirklichen kann. Es gilt ebenso für junge Menschen in Darfur und anderswo – nicht zuletzt auch im ehemaligen Jugoslawien, wo Vertreibung immer noch nicht hundertprozentig als Gefahr gebannt ist und vor zehn oder fünfzehn Jahren die Bilder der Medien beherrschte und uns in der Politik in größte Aufregung versetzt hat. Die jungen Menschen müssen wissen, dass „Heimat“ ein Recht ist, dort zu sein, wo man geboren ist, eine Vertrautheit zu haben, die einem niemand nehmen darf; dass es aber auch einen Grund gibt, diese Heimat dann zu pflegen und zu wissen, über welche Heimat man redet; zu wissen, wie bei aller Weltoffenheit die kulturellen Traditionen zunächst einmal im eigenen Bereich ausschauen; und auch zu respektieren, dass diejenigen, die ihre Heimat verloren haben, ihre Kultur dann dort pflegen, wo sie die neuen Wurzeln schlagen – dies alles sind Elemente, die wir bei uns in der Bundesrepublik Deutschland zur Selbstverständlichkeit machen und frei darüber reden können müssen, so wie jeder französische oder polnische Nachbar das bereits zurecht tut. Heute und in Zukunft.
Das Thema „Heimat“ ist kein unproblematisches, und gerade deshalb dürfen wir nicht den Eindruck erwecken, dass uns der Mut fehlt, über diesen Begriff, über unsere Geschichte und alle Teile der Geschichte zu sprechen. Ich glaube, dass wir glücklicherweise – Erika Steinbach hat es gesagt – über den Punkt hinaus sind, an dem man den Versuch gemacht hat, das Schicksal der Heimatvertriebenen kleinzureden oder tot zu schweigen. Wir müssen mit einer sehr sorgfältigen Erzählung und Analyse der Geschichte, der Verantwortung und der Lehren daraus auch in Zukunft umgehen. Wir müssen dabei auch wissen: Wie wir Geschichte sehen, wird immer ein wenig kritischer beäugt werden als bei anderen. Und wir werden damit zu leben haben. Wenn wir das nicht können, dann haben wir einen Teil unserer Verantwortung nicht richtig wahrgenommen. Wir sind eben ein Land mit einer besonderen Geschichte. Nicht einer eindimensionalen, aber einer besonderen. Wir haben eine Verantwortung. Und wir werden diese Verantwortung nur wahrnehmen können, wenn wir auch an uns selbst den Anspruch einer besonderen moralischen Legitimation stellen. Aber das bedeutet eben nicht, dass wir das Recht haben, irgendetwas wegzulassen. Ich komme darauf beim Zentrum gegen Vertreibungen noch einmal zurück. Ich denke, dass wir auch die Erfahrung machen sollten, dass wir mit allen Begriffen vollständig umgehen können. Das ist ja nicht nur eine Frage der Aufarbeitung des Nationalsozialismus, sondern durchaus auch – wenn wir schon hier in Berlin sind – eine Frage der Aufarbeitung dessen, was die Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR erlebt haben. Einer der Punkte, die mir dabei immer wieder in Erinnerung gebracht werden, ist, dass dort eben die Königsberger Klopse nicht mehr Königsberger Klopse heißen konnten, sondern nur noch „Koch-Klopse“. Daran sieht man den Unfug der Verkrampftheit einer Gesellschaft im Umgang mit Geschichte und Vertreibung.
„Man muss die Dinge beim Namen nennen. Das gehört zur geistigen Hygiene“, hat Rüdiger Safranski einmal gesagt. Dabei geht es nicht um Aufrechnung von Gräueltaten und Rechtsverstößen, sondern es geht um die Aufarbeitung von Schicksalen von Millionen Menschen, die Opfer einer menschenrechtsverletzenden Politik wurden. Aber, meine Damen und Herren, es geht auch darum, dass wir mit Klarheit über die Zukunft sprechen. Deshalb – Sie haben es in den Vorreden ja auch bemerkt – kann heute niemand an einer solchen Stelle reden, ohne auch über die aktuelle Situation im Verhältnis zu unseren polnischen Nachbarn und Freunden zu sprechen. Man kommt dabei nicht umhin, manche der aktuellen Entwicklungen als eher „eisig“ zu bezeichnen. Glücklicherweise, das sage ich sehr ausdrücklich, sind die polnischen Nachbarn heute Mitglied der Europäischen Union und damit in einer Weise in die gesamten europäischen Entscheidungsprozesse integriert, die eine Isolation, aus welchen Gründen man auch immer sie anstreben könnte, nicht mehr erlauben. Die von Helmut Kohl als so zentral bezeichnete Unumkehrbarkeit der europäischen Integration ist heute erreicht. Und die jüngsten Diskussionen, die es durchaus in Polen gab und gibt, zeigen, wie wichtig diese Mechanik der Unumkehrbarkeit für die Stabilität eines friedlichen Europa ist. Dafür sollten wir uns alle immer wieder bei Helmut Kohl und allen, die dieses gemeinsame Europa möglich gemacht haben, von ganzem Herzen bedanken.
Dabei weiß ich wohl: Manche – und auch ich – müssen einen Anflug von Resignation bekämpfen, wenn Sie sehen, dass zwischen Deutschland und Polen immer noch manch offene Wunde liegt und keineswegs wieder eine trotz aller Narben gut zusammengewachsene Haut, wie wir das mit unseren französischen Freunden heute als selbstverständlich ansehen. Es bleibt eine wechselseitige Pflicht aller friedliebenden Europäer und eine entscheidende Frage auch für die Stabilität der Menschenrechte, der Grundwertvorstellungen, der Autorität nach außen, dass alle daran Beteiligten und – im Verhältnis von Deutschland und Polen – dass beide Seiten das Notwendige tun, um die Ausgestaltung des gemeinsamen Hauses Europa mit gegenseitigem Respekt und in aufrichtiger Freundschaft zu betreiben, so dass niemand auf einmal glaubt, er müsse in dem Haus zwei Treppenhäuser haben, nur um jeweils ungestört in sein Zimmer zu kommen.
Wir erwarten, dass das gemeinsame europäische Recht überall gilt und überall Anwendung findet. Das heißt keineswegs, dass wir uns teilweise schwierige und nicht immer nachvollziehbare juristische Ansprüche, wer auch immer sie stellt, auch aus Deutschland heraus, zu eigen machen oder sie gar politisch billigen würden. Aber es heißt andererseits auch, dass jede Regierung mit der Unabhängigkeit ihrer Justiz leben muss, weil dies eine Voraussetzung für die gemeinschaftliche Sicherheit des Glaubens, des Vertrauens und des Rechts ist. Keiner Regierung in Deutschland – auch keiner Hessischen Landesregierung – gefällt jedes Urteil, das ein Gericht verkündet. Aber sie kann nicht jedes Mal das Gesetz ändern, um den Richtern zu zeigen, dass sie Recht hat, meine Damen und Herren. Das gehört zur Normalität des Lebens in einem gemeinsamen Europa. Und wir müssen aufpassen, dass solche Ereignisse nicht innenpolitisch in Wahlkämpfen aufgebauscht werden.
Die Vertriebenen haben ja schon mit ihrer Charta von 1950 einen wichtigen Beitrag zur Friedfertigkeit und zur Verdammung des Hasses gelegt. Und dieser Geist muss auf beiden Seiten entstehen. Es hilft nichts, wenn wir alleine bilanzieren, dass er noch nicht vollständig da ist. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten. Wir müssen auch wissen, dass nicht nur andere Verantwortung haben. Ich erlebe durchaus manche Debatte in Polen, wenn ich dort mit unseren Freunden spreche. So manche dort glauben, dass die Bundesrepublik Deutschland im Wesentlichen von der Preußischen Treuhand regiert wird. Und meine Erklärung, dass die meisten Bürger der Bundesrepublik Deutschland gar nicht wissen, was die Preußische Treuhand ist, trifft auf bares Unverständnis. Deshalb: Wir müssen die Kirche im Dorf lassen. Wir müssen auch in unseren eigenen Reihen – das gilt für alle – dafür sorgen, dass nicht einige wenige eine Stimmung erzeugen, die viele andere mit allem guten Willen nicht wieder beseitigen können. Das ist unsere Seite. Aber auch das will ich klar sagen: Die andere Seite ist, dass diejenigen, die in Polen Verantwortung tragen, wissen müssen, dass keiner in Deutschland – weder in der Regierung noch im Parlament oder in Ihrem Verband – es zulassen wird, dass eine Frau wie Erika Steinbach als legitimierte Sprecherin der Vertriebenen bei dem, was sie tut, was sie im Rahmen unserer Menschenwürde und Menschenrechte ganz normal vertritt, was normale Politik in Deutschland ist, dass sie in einer Weise verunglimpft wird, durch die beiderseitige Gespräche in immer größerem Umfang belastet werden. Das ist eine Verantwortung, die mitgetragen werden muss.
Und weil es zur Vollständigkeit gehört, will ich ohne weitere Vertiefung sagen: Zur Klarheit und Aufrichtigkeit im europäischen Rahmen gehört auch, dass – jedenfalls nach meinem Verständnis – in keiner Rede über Flucht und Vertreibung die Beneš-Dekrete fehlen werden, solange sie in Tschechien Rechtsgültigkeit haben. Sie sind unter Beachtung des europäischen Wertekanons eine unzulässige Form der Kollektivhaftung und ein klarer Widerspruch zu den individuellen Menschenrechten und dem Verständnis, das darauf aufbaut. Sie stehen Versöhnung im Weg und halten Wunden offen, die danach rufen, endlich verheilen zu können. Und darüber muss man reden, bis Heilung beginnt. Auch das ist eine gemeinsame Verpflichtung, nicht nur der Organisation der Vertriebenen, sondern derjenigen, die darum ringen, dass Menschenrechte eine kollektive Glaubwürdigkeit haben, über jeden einzelnen Fall hinaus, und sie nicht nur jeweils von dem in Anspruch genommen werden, der sie gerade braucht. Sie sind ein gemeinsames Gut aller Beteiligten, für das sich alle Beteiligten einzusetzen haben; und jeder in Not muss sich darauf verlassen können, dass der andere sich dafür einsetzt, unabhängig davon, ob er selbst betroffen ist. Darin liegt die Qualität solcher Rechte.
Meine Damen und Herren, ich habe eingangs bereits gesagt: Als Hessischer Ministerpräsident habe ich viel Anlass, den Heimatvertriebenen für die Aufbauarbeit in der Vergangenheit zu danken. Wenn ich mich regelmäßig mit den Organisationen der Vertriebenenverbände und dem BdV-Landesvorsitzenden treffe und mit ihnen spreche, dann geschieht dies längst nicht mehr allein aus Respekt vor der Geschichte. Sondern wir reden über die Gegenwart. Ich habe den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des BdV und vielen ehrenamtlichen Helfern in einer besonderen Weise dafür zu danken, wie sie uns auch heute helfen – etwa bei der Integration der Menschen, die aus Russland und den ehemaligen sowjetischen Gebieten zu uns gekommen sind und in einer geringeren Zahl immer noch zu uns kommen. Wenn wir über Leid und Unrecht reden, über die Vertreibung, die ein halbes Jahrhundert her ist, dann dürfen wir nicht vergessen, dass es für diejenigen, die heute neu zu uns kommen, auch nicht immer einfach ist: Oft sind es junge Menschen, die unsere Sprache nicht sprechen, in einem anderen Umfeld unter schwierigsten Bedingungen und ohne große Chancen auf eigenen Stolz und Erfolg groß geworden sind. Sie kommen hierher in eine für sie fremde Welt, in der sie nicht immer auf den ersten Blick von jedermann ein Signal empfangen, dass sie gebraucht werden. Dazu braucht man Vermittler mit eigener Autorität – manchmal auch schlicht mit Sprachkenntnis –, aber vor allen Dingen mit einem Erfahrungshintergrund, der etwas anderes ist als das, was eine staatliche Institution, so gut auch immer sie organisiert sein mag, jemals anbieten kann. Das ist ein klassisches Beispiel für bürgerschaftliches Engagement; für das, was notwendig ist, was wichtig ist, damit Menschen neue Wurzeln langsam und vorsichtig schlagen können. Ohne die Organisationen des BdV, gerade auch der Russlanddeutschen, könnten meine Mitarbeiter und ihre Kolleginnen und Kollegen in den Kommunen die Integrationsaufgabe nicht bewältigen. Wir sind heute an dieser Stelle auf Sie mit angewiesen und deshalb auch in einer besonderen Weise – das gilt für viele Kolleginnen und Kollegen in den Bundesländern und Kommunen der Bundesrepublik Deutschland – dafür dankbar, dass Sie sich nicht darauf beschränken, Ihr Kulturgut und Ihre Gemeinschaft zu pflegen; sondern dass Sie Ihre eigene Lebenserfahrung aufnehmen, um einer weiteren Generation bei einer weiteren Herausforderung zu helfen.
Und es geht ja noch weiter – wenn ich Alfred Herold hier sehe, der als Landesvorsitzender so viel Arbeit investiert, um Kontakte in seine alte Heimat zu pflegen; wenn ich sehe, wie viele Ortsverbände und Kreisorganisationen heute Brücken geschlagen haben zu den Gegenden, in denen ihre Mitglieder zuvor gelebt haben. Oft liegen solche freundschaftlichen Beziehungen unterhalb der Wahrnehmung von Regierungen. Manchmal sind sie von den beteiligten Seiten mit Absicht so organisiert, damit man sich in Ruhe treffen kann. Häufig sind sie aber auch längst von Regierungen anerkannt und, insbesondere auf der lokalen und regionalen Ebene, als eine dankbare Bereicherung akzeptiert. Hierin liegt ein wichtiger Teil europäischer Völkerverständigung, den kein Politiker mit noch so vielen Gipfeltreffen ersetzen kann. Aber ich weiß, was es bedeutet, dies zu tun, und bin Ihnen deshalb in außerordentlicher Weise dankbar dafür, dass es dieses Engagement der Landsmannschaften an so vielen Stellen gibt. Ich habe zu Beginn meiner Regierungstätigkeit 1999 eine Situation vorgefunden, in der meine Vorgängerregierung unter Rot-Grün der Meinung war, dass man solche Veranstaltungen mit den Vertriebenenorganisationen und der kulturellen Traditionspflege mal langsam beenden müsse, weil die Zeit dafür vorbei sei. Die Vertriebenenorganisationen wurden aus wichtigen Gremien ausgegrenzt und ihre Fördergelder immer weiter gekürzt. Nach dem Regierungswechsel haben wir die Fehlentwicklung gestoppt, die Gelder wieder erhöht und den Hessischen Rundfunk damit beglückt, dass die Vertriebenen nun im Rundfunkrat sitzen, was zu einer deutlich gestiegenen Wahrnehmung der Vertriebenenarbeit geführt hat. Wir haben auch noch vieles andere getan, was ich hier gar nicht im Einzelnen erwähnen möchte.
Es ist mein festes Empfinden, dass Deutschland in einer sehr emotionalen, aber zugleich auch sehr politischen Weise nicht glücklich werden kann, wenn es die Erfahrung der Geschichte der Heimatvertriebenen nicht zu einem selbstverständlichen Teil der eigenen Erfahrungsgeschichte macht. Dieser Satz und diese Überzeugung führen mich dann eben auch hierher nach Berlin und zu den Initiativen von Erika Steinbach, ihrer Organisation und ihren vielen Mitstreitern bei der Frage des Zentrums gegen Vertreibungen. Ich brauche an einer solchen Stelle nicht über Details zu sprechen. Und ich bin froh, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, dass im Dialog mit Erika Steinbach und allen anderen Beteiligten dort ein gemeinsamer Weg gefunden wird. Ich weiß auch, dass das nicht einfach sein wird, auch mit unseren europäischen Partnern nicht einfach sein wird. Aber ich glaube, man muss mit einer gewissen Nüchternheit sagen, dass wenn Menschen aus aller Welt in unser Land und in unsere nationale Hauptstadt kommen, dann müssen wir sie konfrontieren mit der Ausstrahlung dieser Stadt, der Prosperität, der Lebensfreude, auch der Stärke im Konzert der Welt; und wir müssen sie konfrontieren mit den schwierigen Seiten unserer Geschichte: mit unserer Fähigkeit, das Leid zu sehen und darüber zu sprechen; mit unserer Fähigkeit, keinen Teil unserer Geschichte zu tilgen. Aber wir müssen ihnen auch zeigen, dass wir über alle Teile des Leids reden können und wissen, dass Schuld und Leid nicht gegeneinander aufgerechnet werden können. Ein Deutschland, in dem in manchen Bundesländern ein Drittel dessen, was geschaffen worden ist, von Vertriebenen stammt, kann niemandem auf der Welt seine Geschichte erklären, ohne über die Geschichte der Vertreibung zu sprechen. Meine Damen und Herren, diese Normalität gehört in die nationale Hauptstadt! Sie kann eingebunden sein in jedes Netzwerk der Welt. Aber der Vertreibung der Deutschen und der Tatsache, dass Vertreibung ein Risiko für den Frieden in der Welt ist, muss in einer Stadt wie Berlin genau so gedacht werden wie den Schrecken und der Unmenschlichkeit des Nationalsozialismus. Es gehören beide Dinge auf den Tisch: nicht in einer Gleichheit, sondern in der Vielfalt dessen, dass, wenn man einen Teil der Geschichte bewusst auslässt, ein Verdacht entsteht, man habe immer noch nicht die volle Dimension seiner eigenen geschichtlichen Situation begriffen. Das ist die Herausforderung, vor der wir stehen.
Erika Steinbach hat es gesagt, ich glaube auch darin sind wir uns inzwischen ein Stück näher gekommen, und auch die Bundeskanzlerin steht dafür: Wir werden nicht Geschichte aufarbeiten können ohne die Betroffenen. Diese Aufgabe verliert ihre Legitimität, wenn man als Bundesrepublik Deutschland glaubt, man könne einen bestimmten Teil der Geschichte seines Volkes nur aufarbeiten, wenn man diejenigen, die betroffen waren, nicht daran beteiligt. Das ist absurd. Das würde niemand auf der Welt verstehen. Und deshalb ist es normal, dass wir diejenigen, die die Idee hatten, die die Betroffenen und die Erlebnisgeneration vertreten, fest einbeziehen und auf ihren Rat und ihre Hilfe zurückgreifen – denn wir brauchen diese Legitimität. Deshalb kann dies nur in Zusammenarbeit geschehen, und ich will hinzufügen: Es muss bald geschehen. Wir haben nun genügend Zeit mit der Diskussion über diese Frage verbracht.
Das war für mich die Motivation, meiner Landesregierung sowie jetzt gemeinsam unserem Landesparlament vorzuschlagen, diesem Patenschaftsabkommen beizutreten. Ich habe darüber mit Kollegen in der Ministerpräsidentenkonferenz ebenfalls hinreichend lang gesprochen. Sie wissen, wir sind ein Gremium, das auf Einstimmigkeit angewiesen ist. Und wenn es Einstimmigkeit nicht gibt, dann muss wenigstens eine Stimme etwas sagen, dachte ich mir. Auf diese Weise hoffe ich, dass auch andere Bundesländer uns folgen. Das haben Kollegen der kommunalen Selbstvertretungskörperschaften aus allen politischen Parteien gemacht. Es ist keine Frage im parteipolitischen Sinne. Es darf auch keine werden. Aber es ist eine Frage, die man nicht endlos auf die Bank schieben darf, indem wir so lange darüber diskutieren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das zeigt zum Schluss: Das Thema Vertreibung, das mit dem Tag der Heimat verbunden ist und auf das wir heute aufmerksam machen, ist kein Thema von gestern. „Leider“ muss man sagen, weil es Vertreibung eben immer noch gibt. „Gott sei Dank“ darf man sagen, weil wir hier in Europa zumindest die Chance haben, uns in Form eines guten Dialogs, eines konstruktiven Diskurses über das Vergangene auszutauschen und damit Unrecht in Zukunft zu verhindern. Wir Europäer sollten uns nicht anmaßen, der Mittelpunkt der Welt zu sein. Geographisch waren wir es nie und in Bezug auf Kraft und Bevölkerungszahl werden wir es immer weniger sein. Aber unsere einmalige Erfahrung der letzten Jahrhunderte, unser Wechsel von kriegerischen Auseinandersetzungen, Unterdrückung und Diktatur mit der Überwindung all dieser schrecklichen Erlebnisse durch Freiheit, Demokratie und friedliche Aussöhnung geben uns eine Basis, auf der wir gehört werden wollen und gehört werden können. Wenn wir sehen, welch tiefe Gräben aus Hass und Misstrauen unseren Kontinent durchzogen und Millionen von Menschen das Leben gekostet haben, und in welcher vergleichsweise kurzen Zeit wir es geschafft haben, so viele freundschaftliche Brücken über diese Gräben zu spannen, viele dieser Gräben ganz zu schließen und unsichtbar zu machen, dann muss das gleichermaßen Mut und Ansporn für die Zukunft sein – und Grundlage für ein nicht überhebliches, aber gesundes Selbstbewusstsein. Zu diesem gesunden Selbstbewusstsein gehören Sie, die Organisationen der Vertriebenenverbände, als ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft, unserer Vergangenheit aber eben auch unserer Chance für die Zukunft. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen auch für die weitere Arbeit im BdV und in den Landsmannschaften vor Ort alles Gute, weiterhin viel Mut, die nötige Beharrlichkeit und einen gesunden Optimismus.
Vielen herzlichen Dank!