„Hessens Zukunft baut auf Erfahrung: Engagiert und selbstbestimmt im dritten Lebensalter“
22. August 2007, Rhein-Main-Hallen, Wiesbaden
Meine sehr verehrten Damen und Herren, verehrte Gäste!
Ihnen allen ein herzliches Willkommen. Ich danke all unseren Gästen, Experten und Fachleuten aus Hessen und der ganzen Bundesrepublik, die so freundlich waren, unserer Einladung zu folgen, um hier einen großen Kongress aus vielen Erfahrungen speisen zu können. Denn herauszufinden, welche Interessen, Wünsche und Erfahrungen Sie als Senioren haben, das ist der Sinn des Zukunftskongresses, den wir hier veranstalten.
Es ist in der hessischen Landespolitik nichts Neues, solche Kongresse abzuhalten. Sie finden einmal jährlich statt und beschäftigen sich mit ganz unterschiedlichen Themen, von denen wir als Landesregierung überzeugt sind, dass sie etwas mit Zukunftsgestaltung zu tun haben. Die Themenfelder reichen dabei von Mobilität über Familie bis hin zur Nano- oder Biotechnologie. Ich nenne diese Themen ganz bewusst im Zusammenhang mit der heutigen Veranstaltung, weil wir glauben, dass die Erfahrung älterer Menschen einer der wichtigsten Bausteine zur Gestaltung der Zukunft unseres Landes ist. Ein solch hoher Stellenwert muss dann auch mit einem Kongress wie dem heutigen entsprechend zur Geltung kommen. Wenn wir über Zukunft sprechen, dann sprechen wir meistens über junge Menschen, neue Technologien, große internationale Herausforderungen – aber wir müssen eben auch über das Kapital und den Schatz älterer Menschen sprechen, den wir in unserem Land haben und der sich noch viel besser nutzen lässt, als wir dies in der Vergangenheit getan haben. Das ist der Grund, warum wir Sie heute hierher eingeladen haben.
Konrad Adenauer begann im Alter von 73 Jahren seine fast eineinhalb Jahrzehnte dauernde Amtszeit als erster Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Von Johann Wolfgang von Goethe ist bekannt, dass er mit 74 Jahren, wenn auch erfolglos, um die Hand von Ulrike von Levetzow anhielt. Mit 82 Jahren hat er Faust II noch vollendet. Dies bedeutet, dass es selbst in einer Zeit, in der das Erreichen eines hohen Lebensalters noch längst nicht so häufig vorkam wie heute, hervorragende und ausgezeichnete Leistungen der erfahrenen und älteren Generation gegeben hat. Ich glaube, dass es einmal in den Geschichtsbüchern als gefährlicher Irrtum des vergangenen 20. Jahrhunderts gelten wird, dass die Erfahrung älterer Menschen im Vergleich zu der Kreativität jüngerer Menschen als Nachteil gesehen wurde. Ich will den einleitenden Worten des Moderators nicht widersprechen – aber wenn Max Schautzer sagt, dass das Alter inzwischen der längste Lebensabschnitt geworden sei, würde ich gerne mit Ihnen darüber diskutieren, ob das Alter nicht eher später beginnt und sich deshalb auch die gesellschaftlichen Maßstäbe verschieben, wann und wie lange man für gewöhnlich noch als aktiv gilt.
Es gibt sehr viele aktive Seniorinnen und Senioren in unserem Land – einige haben wir hierher eingeladen. Als Teilnehmerinnen und Teilnehmer des heutigen Kongresses haben wir vor allem diejenigen angeschrieben, die vor Ort Gruppen, Institutionen, Arbeitskreise und Vereine leiten, sowie mit Kommunen und anderen Institutionen gemeinsam Aktivitäten entfalten, die im weitesten Sinne die Interessen älterer Menschen betreffen. Die Resonanz auf unsere Anfragen war überwältigend. Wir haben mehr als 5.000 Anmeldungen erhalten und mussten somit leider mehr als 1.000 Interessierte um Verständnis dafür bitten, dass sie nicht an dieser Veranstaltung teilnehmen können, weil bereits alle Plätze belegt waren. Wir hoffen natürlich dennoch, dass die Vielfalt an Meinungen und Ideen im heutigen Programm zum Ausdruck kommt und wir interessante Diskussionen erleben werden. Das große Interesse zeigt eben auch, welche Dynamik in diesem Thema steckt. Wenn wir daran denken, wie wir sonst an Verantwortliche von Institutionen, Gruppen, Vereinen und Verbänden herantreten, dann haben wir noch nie einen so hohen Prozentsatz an Rückläufen erhalten, in denen es hieß: „Ja, wir sind dabei, wir kommen hierher, wir interessieren uns dafür!“ Wir betrachten dies durchaus als eine Bestätigung für unsere Erwartung, dass im Wirken älterer Menschen nicht nur für sie selbst, sondern für uns alle – gerade auch für die Jüngeren – eine Menge an Chancen und Potenzialen steckt. Diese könnten uns alle zufriedener und glücklicher machen, wenn wir sie besser nutzen würden, als wir es in der Vergangenheit getan haben.
Wir fangen ja auch nicht bei Null an. Jeder von Ihnen trägt etwas dazu bei – nicht zuletzt mit dem, was er bisher schon an Aktivitäten umgesetzt hat. Doch wir haben ein erhebliches Defizit bei der Vernetzung solcher bereits vorhandenen Aktivitäten. Es gibt in Hessen viele gute, durch ehrenamtliches Engagement verwirklichte Initiativen und Projekte. Aber viele davon beginnen eben auch jedes Mal von vorn, ohne dabei auf die früheren Erfahrungen von Mitstreitern aufbauen zu können. Will man von der Erfahrung anderer profitieren, muss man zunächst einmal von der Existenz des jeweils anderen wissen. Insofern verfolgt ein solcher Kongress zu einem nicht unbeachtlichen Teil das Ziel, Akteure und mögliche Kooperationspartner zusammenzuführen und miteinander zu vernetzen. Zugleich hat er das Ziel, uns Politikern die Chance zu geben, mit Ihnen darüber zu diskutieren, welche Rahmenbedingungen wir setzen können und müssen, damit Sie Ihr Engagement unter vernünftigen und attraktiven Bedingungen ausüben können. Dort gibt es eine Vielzahl von Aufgabenstellungen, die von Gesetzgebung über Finanzen bis hin zu Motivationshilfen und stärkerer Transparenz reichen, die wir als Politiker kennen müssen.
Wir haben heute mit Hilfe der modernen Medizin und mit vielen anderen Entwicklungen, wie der Humanisierung der Arbeitswelt und der längeren geistigen Fitness älterer Menschen, eine Chance, neue Aufgaben anzugehen, an die unsere Vorgängergeneration in dieser Form gar nicht denken konnte. Es gibt jedoch sehr unterschiedliche Meinungen darüber, was unter „jung“ und „alt“ überhaupt zu verstehen ist. Eine Rundfunkanstalt in Deutschland hat sich beispielsweise kürzlich dazu entschlossen, alle Menschen bis zum 50. Lebensjahr als „Jugendliche“ zu bezeichnen. So etwas gefällt einem als 49-Jährigem natürlich, aber nach dieser Definition fällt ein relativ hoher Anteil der Bevölkerung automatisch in diese Kategorie der „jungen Zuschauer“. Zugleich haben wir Wirtschaftsberatungsgesellschaften, die versuchen, durch den Begriff „Senioren mit 50“ in der Wirtschaft zu legitimieren, dass Entlassungs-, Verabschiedungs- oder Prämienprogramme oft nicht nur 55-Jährige und ältere, sondern bereits 52- oder 53-Jährige betreffen. Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir erkennen, dass dies eine Verschwendung darstellt, die wir uns nicht leisten können. Und es ist auch eine Missachtung der geistigen und körperlichen Fähigkeiten eines Großteils der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land.
Um noch einmal mit Goethe zu reden – der Leibarzt von Goethe, Christoph Wilhelm Hufeland, hat einmal gesagt: „Alt werden ist nichts für Feiglinge.“ Ich glaube, dass in dieser Aussage durchaus ein Stück Wahrheit liegt unter dem Gesichtspunkt, welche Bedingungen geschaffen werden müssen, damit Selbständigkeit und Handlungsfähigkeit im Alter für alle auf möglichst fröhliche Weise erlebbar sind. Wenn wir länger gemeinsam Erfolg haben wollen, dann müssen alle Generationen einen Anspruch darauf haben, die Bedingungen zu definieren, unter denen sie die bestmögliche Lebensqualität, die bestmögliche Leistungsfähigkeit und die größtmögliche Integration in die Gesellschaft erreichen können.
Ich bin dem Hessischen Landtag sehr dankbar, dass er als erstes Landesparlament bereits vor fünf Jahren eine Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ eingesetzt hat. Die Enquete-Kommission ist sozusagen das Feld, in dem sich ein Parlament die Freiheit des Denkens jenseits täglicher Gesetzesbeschlüsse nimmt. Unter Vorsitz des Abgeordneten Dr. Rolf Müller und unter Beteiligung aller politischen Kräfte des Landtags wurde in diesen Tagen ein in den Schlussfolgerungen übereinstimmender gemeinsamer Bericht verfasst und dem Plenum vorgelegt. Dieser Bericht bildet nun eine wirklich gute Grundlage, damit wir bei diesem Thema nicht an jedem Punkt wieder anfangen, von vorne zu streiten. Das allein bewältigt noch nicht die demographische Herausforderung. Aber Sie wissen, dass in der Politik immer die Gefahr besteht, dass jede Äußerung eines Politikers von anderen gemeinhin als Aufforderung angesehen wird, genau das, was er fordert, nicht zu tun oder abzulehnen. Insofern hat unser Landesparlament mit der gemeinsamen Formulierung jenseits der trennenden Grenzen von Regierung und Opposition eine beachtliche Leistung erbracht.
Ich habe in meiner Regierungserklärung 2003 neben der Globalisierung die demographische Veränderung als die wichtigste Herausforderung für unser Land bezeichnet. Der Chef der Staatskanzlei, Staatsminister Grüttner, ist ebenso wie Frau Sozialministerin Lautenschläger bereits intensiv damit befasst, dem demographischen Wandel in seinen Ursachen und Auswirkungen mit Hilfe von landespolitischen Maßnahmen entgegenzuwirken. Auch hierbei stehen wir nicht erst am Anfang. Es gibt bereits eine Vielzahl von Projekten in Kommunen, mit denen vor allem junge Familien unterstützt werden. Ebenso gibt es Projekte, die ihren Fokus auf die Bedürfnisse älterer Menschen richten. Dieser Vielfalt an Themen wollen wir auch auf dem heutigen Kongress mit den zahlreichen Arbeitsgruppen Rechnung tragen. Wir wollen uns dabei mit durchaus praktischen Dingen beschäftigen: mit Fragen zum Arbeitsleben im fortgeschrittenen Alter, zum Wohnen im Alter sowie zu Pflege und Betreuung. Wir wollen mit Ihnen über die Chancen diskutieren, Menschen auch in höherem Lebensalter noch neu für Ehrenämter zu gewinnen – zusätzlich zu denjenigen, die sich schon seit ihrer Jugend engagieren.
Ich weiß sehr wohl, dass es über diese Fragen hinaus noch weitere große, gesamtgesellschaftliche Themen gibt. Wer heute darüber diskutiert, wie sich ältere Menschen gestaltend in die Gesellschaft einbringen können, der muss sich auch Fragen nach der Gerechtigkeit gefallen lassen, zum Beispiel im Hinblick auf die Rentengesetzgebung und die Höhe der Renten. Mir ist sehr wohl bewusst, dass wer in diesem Jahr einen einzigen Euro als Rentenerhöhung bekommen hat, dies eher für eine Provokation als für eine Freundlichkeit hält – obwohl die Rentenformel es uns Politikern leicht machen würde zu erklären, warum dies so ist. Ich will deshalb sagen: Natürlich muss der Staat dafür sorgen, dass die Rentner trotz des erforderlichen, generationenübergreifenden Lastenausgleichs für die gestiegene Lebenserwartung von der übrigen Gehalts- und Kostenentwicklung nicht abgehängt werden. Wenn ich in diesen Tagen sehe, dass in Deutschland über das Arbeitslosengeld II und dessen mögliche Erhöhung debattiert wird, dann darf man genauso wenig die Rentner vergessen. Es gibt keine staatliche Leistung, die Unterstützung gewährt, bei der nicht immer wieder überprüft werden muss, ob sie angesichts veränderter Lebensbedingungen noch ausreicht. Daher kann ich älteren Menschen nicht erklären, dass wir eine Debatte über die Erhöhung des Arbeitslosengeldes führen, bevor wir im nächsten Jahr nicht auch über die Rentenformel, das Wirtschaftswachstum oder auf andere Weise eine anständige Rentenerhöhung erreichen. Die Menschen haben ein Anrecht darauf, dass man sich mit dieser Problematik befasst.
In Bezug auf unsere heutige Veranstaltung will ich damit nur sagen, dass wir diese Probleme kennen. Aber sie sollten nicht alle anderen Themen, die wir mit Ihnen heute diskutieren möchten, in den Schatten stellen. Denn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die man zwar strukturieren kann, deren Schaffung aber Jahre dauert, gehen bei solchen tagesaktuellen Debatten immer ein Stück weit verloren. Deshalb ist ein Kongress wie dieser so wichtig, um auch einmal über die weniger exponierten Sachthemen zu sprechen. Lassen Sie mich darüber hinaus auch sagen: Ich bin nicht nur dankbar, wie viele Menschen bereit sind, heute ihre Zeit mit uns zu verbringen, um von ihren praktischen Erfahrungen zu berichten, sondern ich bin auch sehr dankbar, wie viele Organisationen auf dem kongressbegleitenden „Markt der Möglichkeiten“ – trotz des unbezahlten Aufwandes – bereit sind, sich hier zu präsentieren. Ich bin erstaunt und erfreut, wie viele Akteure über alle Landes- und politischen Grenzen hinweg bereit sind, der Einladung der Hessischen Landesregierung zu folgen, um mit wirklich vielfältigen Beiträgen zu den einzelnen Handlungsfeldern diese Debatte zu führen.
Wir haben heute zum Beispiel auch eine Diskussion im Auge, die sich mit dem Thema „Wohnen und häusliches Umfeld“ beschäftigt. 93 Prozent der Menschen über 65 Jahren leben in ganz normalen Wohnungen. Wir sollten deshalb nicht immer gleich darüber sprechen, welche staatlichen Institutionen, Verbände und anderen neuen Wohnformen in Gestalt von Heimeinrichtungen und anderem errichtet werden müssen. Wir sagen ganz offen: Wir freuen uns über jedes Jahr, das ein Mensch in seiner eigenen Wohnung, in seinem vertrauten Wohnumfeld verbleiben kann – denn es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein gewonnenes Jahr. Nicht nur gewonnen für den Einzelnen, was das Wichtigste ist, sondern auch gewonnen für die Sozialsysteme und den Staat. Alle profitieren in gleichem Maße davon, wenn es gelingt, Menschen zu ermöglichen, weiter in ihrer angestammten Umgebung zu leben, auch wenn sie altersbedingte Schwächen zeigen. Die Tatsache, dass dies heute bereits in großem Maßstab gelingt, ist natürlich auch nach wie vor eine gigantische Leistung der Familien. Das meiste, was an Hilfe und Unterstützung geleistet wird, geschieht innerhalb der Familie – eine oft unterschätzte Form von Fürsorge, für die wir heute versuchen, erste rechtliche Rahmenbedingungen zu schaffen und auch schon geschaffen haben. Gerade in jüngster Zeit bekamen die Befreiungsmöglichkeiten und die Möglichkeit, ein halbes Jahr aus dem Beruf herauszugehen, um einen Angehörigen zu pflegen, eine neue rechtliche Qualität. Die Chance, das Pflegen von Angehörigen beim Arbeitgeber geltend machen zu können, ist gerade erst im letzten Jahr vom Gesetzgeber geschaffen worden. Natürlich ist dies allein noch keine Dauerlösung: Denn jedes Elternpaar will, dass die eigenen Kinder und Enkelkinder ihre berufliche und familiäre Entwicklung selbst gestalten können. Sie wollen Hilfe und Unterstützung – aber in einem Maße, in dem nicht eine Generation zu Lasten der anderen völlig auf ihre eigene Planung verzichtet. Also müssen wir herausfinden, wie entsprechende Hilfs- und Unterstützungssysteme in Zukunft aussehen könnten.
Ich glaube, dass wir dort heute weiter sind als vor 20 Jahren. Ich erinnere mich an meine Zeit als junger Kommunalpolitiker, als man Hausnotrufsysteme noch für eine gigantische Innovation gehalten hat. Sie sind heute in weiten Teilen des Landes eine Selbstverständlichkeit, wenngleich sie im ländlichen Raum etwas schwieriger zu implementieren sind, als dies in verstädterten Regionen der Fall ist. Darüber hinaus haben wir darüber nachzudenken, wie wir solche Neuerungen möglicherweise noch mit anderen Einrichtungen und Institutionen koppeln können, um solche Dienstleistungen noch stärker am Bedarf und den Wünschen der Betroffenen auszurichten. Wir kannten für ältere Menschen früher lediglich die Alternative: klassisches Wohnen in den eigenen vier Wänden oder Unterbringung im Altenheim. Mit dem heutigen Modell des betreuten Wohnens verfügen wir mittlerweile über eine breite Palette von Möglichkeiten, die wir in architektonischer und organisatorischer Hinsicht längst noch nicht ausgeschöpft haben. Heute gibt es beispielsweise auch Wünsche, die die Schaffung von Generationen- und Mehrgenerationenhäusern betreffen. Wir hatten hierzulande jahrelang eine Baupolitik, in der es keine Chance gab, ein Mehrgenerationenhaus zu finanzieren und zu bauen, weil so etwas im Bebauungsplan überhaupt nicht vorgesehen war. Dies zu verändern und neu zu gestalten, gehört jetzt zu unseren Aufgaben.
In einer mobilen Gesellschaft wird die Familie als Form des gemeinschaftlichen Zusammenlebens öfter zerrissen sein – nicht nur im örtlichen Sinne –, als wir dies von den traditionellen Lebensformen in unserem Land gewohnt sind und wir es vielleicht auch gerne hätten. Mit diesen Herausforderungen werden wir leben müssen. Deshalb ist natürlich die Frage, die sich Seniorengenossenschaften und andere Einrichtungen heute stellen: Können nicht die aktiven und starken Senioren ein Stück dazu beitragen, sowohl bei den Jugendlichen als auch bei ihrer eigenen Generation Hilfe zu leisten? Können sie sich somit in einer Art Generationenpakt eine Anwartschaft erwerben, die sich darin ausdrückt, dass man sagt: Wenn ich eines Tages selber einmal Hilfe benötige, habe ich mir so viele Punkte erarbeitet, dass sie mir diese Hilfe dann sicher zukommen lassen? Ist in unserer Gesellschaft und zwischen ihren Generationen genug Vertrauen vorhanden, dass, wenn jemand etwas auf solidarischer Grundlage einbringt, für die es keinen gesetzlichen Anspruch gibt, ihm diese Solidarität irgendwann einmal erwidert wird? Ist das realistisch? Oder scheitert so etwas an zu viel Skepsis in unserer Gesellschaft?
Lassen Sie mich noch einmal auf das Thema Arbeit zu sprechen kommen. Den Jugendwahn, der in Unternehmen eine Zeitlang vorhanden war, habe ich bereits beschrieben. Wir haben als Hessische Landesregierung im letzten Jahr gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit ein – was den finanziellen Rahmen angeht – durchaus aufwändiges Programm begonnen, durch das wir denjenigen, die mit 55 Jahren aus dem Arbeitsleben ausscheiden, eine Chance geben, wieder in eine neue Berufstätigkeit zu kommen. Sie erhalten die Möglichkeit, 18 Monate lang bei uns in staatlichen Einrichtungen mitzuarbeiten – in Funktionen, die wir dringend brauchen. Dies umfasst zum Beispiel, als Arbeitscoach Hauptschülern zu helfen, die alleine und ohne ausreichende familiäre Unterstützung nicht den Weg in ein geordnetes Berufsleben finden würden. Mit dieser Betreuung kann man sie dorthin führen – und zugleich dem Arbeitsmarkt zeigen, wie flexibel 55-Jährige noch sein können. Wer sich, aus einem fremden Berufsbild kommend, erfolgreich in ein neues Umfeld integrieren kann, der ist schließlich auch noch für vieles andere in der Gesellschaft geeignet. Ich kann nicht ertragen, dass wir von einem Mangel an Ingenieuren in Deutschland reden, während zur selben Zeit der Chef der Landesarbeitsagentur eine Größenordnung von 4.000 bis 5.000 Ingenieuren auf seiner Liste stehen hat, die keine Arbeit finden. Darin liegt auch ein Stück Bequemlichkeit der Betriebe, was die Notwendigkeit anbelangt, Mitarbeiter so auszubilden und zu qualifizieren, dass sie sich auf immer neue Herausforderungen einstellen und ihre reichhaltigen Erfahrungen einbringen können. Deshalb interessiert uns hier mit Ihnen gemeinsam die Frage, wie wir es schaffen, Unternehmen auf der einen Seite, aber auch die Betroffenen auf der anderen Seite dafür zu gewinnen, dass diese Debatte anders als bisher geführt wird.
In der Vorbereitung auf diesen Kongress habe ich gelernt, dass man zwischen fluider Intelligenz und kristalliner Intelligenz unterscheidet. Auf der einen Seite stehen die Jugendlichen mit ihrer dynamischen, fluiden Intelligenz, welche Fähigkeiten wie die Kombinations- oder Koordinationsgabe umfasst. Auf der anderen Seite befindet sich die kristalline Intelligenz der Älteren, die bis ins hohe Alter wächst und sich in einem Schatz an Lebenserfahrung und Allgemeinbildung widerspiegelt. Diese Formen der Intelligenz sind nicht austauschbar. Beide sind für den Erfolg von Unternehmen – wie auch für unsere Gesellschaft – unerlässlich. Das bedeutet, dass wir die Potenziale der älteren Generation brauchen. Wir wollen mit Ihnen besprechen, wie man diese Potenziale besser ausschöpfen kann, als wir dies in der Vergangenheit getan haben. Jedenfalls sind wir überzeugt davon, dass man sie sehr viel besser ausschöpfen kann. Man muss allerdings nicht nur dafür sorgen, dass die Jüngeren die Rahmenbedingungen schaffen, sondern auch, dass die Älteren es selbst in die Hand nehmen, ihre Chancen zu nutzen. Es kann nicht sein, dass die Potenziale der älteren Generation immer nur von anderen beschrieben und definiert werden, sondern es muss dort auch eine Eigenbewegung geben, sich sowohl das Recht und die Rahmenbedingungen zu verschaffen als auch die Kraft dafür einzubringen. Insofern sind Sie der Gestalter dieses Prozesses. Sie dürfen nicht zum Objekt werden, sondern Sie müssen zu Handelnden werden. Deshalb haben Sie auf diesem Kongress die Mehrheit.
Schließlich bilden Sie ja auch in der Gesellschaft eine deutliche Mehrheit. In Hessen leben bereits mehr Senioren über 65 Jahre als Kinder und Jugendliche unter 20 Jahre. Das heißt: Sie können in dem politischen Prozess des Landes eine Menge bewegen – wenn Sie nur wissen, wohin. Deshalb muss ein solcher Kongress auch ein Stück weit der Selbstfindung dienen, um dafür zu sorgen,
• dass Senioren sich zusammentun und gemeinsam mit der jüngeren Generation beschließen, dass eine ältere Gesellschaft keineswegs eine ärmere Gesellschaft sein muss;
• dass das generationenübergreifende Handeln in unserem Land selbstverständlich auch dahin führen kann zu erreichen, dass diese Gesellschaft dadurch leistungsfähiger, wettbewerbsfähiger und trotzdem auch etwas angenehmer und menschlicher wird.
Wann jemand alt ist, entscheidet jeder selbst; und wir sollten uns verbitten, dass darüber irgendjemand eine verbindliche Regel aufstellt. Ein Sprichwort sagt: „Man merkt, dass man älter wird, wenn die Geburtstagskerzen mehr kosten als der Kuchen.“ Das ist ein durchaus dynamischer Begriff, mit dem man eine hinreichende Gestaltungsmöglichkeit hat, über den Luxus des Kuchens einerseits und den Luxus der Kerzen andererseits zu diskutieren. Man kann dabei über viele Jahre hinweg flexibel entscheiden, wann das eine das Übergewicht gegenüber dem anderen bekommt. Deshalb ist es ein gutes Bild. Es gibt uns eine unglaubliche Freiheit, selbst zu entscheiden, was wir davon wahrnehmen. Aber wir, die Verantwortlichen in der Politik, benötigen Ihre Entscheidung und Ihren Willen, diese Freiheit wahrzunehmen. Sie wiederum brauchen unser Ohr sowie gelegentlich auch unsere Beschlussfassung, um dafür zu sorgen, dass die Rahmenbedingungen dieser Freiheit stimmen. Darum geht es heute bei diesem Kongress. Wir brauchen Ihre Erfahrung. Wir können auf Sie nicht verzichten für unsere Zukunft. Deshalb haben wir diesen Kongress „Erfahrung hat Zukunft“ genannt – und ich hoffe, dass Sie viele interessante Erfahrungen an diesem Tag machen werden.
Vielen Dank und herzlich willkommen!
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