Koch: „Wir dürfen Eltern nicht gegen Eltern ausspielen“
Ministerpräsident Roland Koch im Interview mit WELT ONLINE
WELT ONLINE: Herr Ministerpräsident, bis 2013 soll es eine halbe Million neuer Betreuungsplätze für die unter Dreijährigen geben. Sollte der Krippenausbau mit zusätzlichen Steuermitteln finanziert werden, wie Familienministerin von der Leyen vorschlägt, oder durch Einsparungen bei anderen Familienleistungen, wie der Finanzminister fordert?
Roland Koch: Als Folge leider zurückgehender Kinderzahlen ergeben sich in den nächsten Jahren an vielen Stellen Einsparungen bei der Kinderbetreuung. Diese Gelder sollten nicht in den allgemeinen Staatshaushalt fließen, sondern für den Krippenausbau verwendet werden. Dies fordert Frau von der Leyen zu Recht. Und wir sollten nicht Eltern gegen Eltern oder Kinder gegen Kinder ausspielen. Das würde eine Debatte in dieser Gesellschaft auslösen, die dazu führt, dass Deutschland nicht kinderfreundlicher wird. Wir müssen die Auseinandersetzung über die Finanzierung schleunigst beenden. Es ist fatal, dass wir Politiker seit Monaten in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, dass wir uns eine moderne Betreuungsinfrastruktur möglicherweise nicht leisten können und deren Aufbau extrem kompliziert ist. Was für ein merkwürdiges Signal an junge Familien!
WELT ONLINE: Immerhin rechnet das Familienministerium mit Kosten von drei Milliarden Euro.
Koch: Ein solcher Geldbetrag schmerzt sicher alle Beteiligten. Doch an dieser Summe, die sehr sichtbar unterhalb von einem Prozent des gesamten Steueraufkommens Deutschlands liegt, darf eine so wichtige und nötige Weichenstellung nicht scheitern. Schließlich geht es beim Krippenausbau darum, in Deutschland Rahmenbedingungen zu schaffen, damit wieder mehr Kinder geboren werden. Wir müssen erreichen, dass aus dem Kinderwunsch fast aller Männer und Frauen wieder stärker Kinder-Wirklichkeit wird. Bund, Länder und Kommunen werden Umschichtungen in ihren Haushalten vornehmen müssen, um mehr Mittel für Bildung, Jugend und Kinder bereit zu stellen.
WELT ONLINE: An welcher Stelle muss der Staat mehr tun?
Koch: Die große Koalition hat sich zu Recht vorgenommen, den undurchsichtigen Dschungel der mehr als 150 unterschiedlichen Familienförderungen zu durchforsten. Der Staat steuert zu viel. Besser wäre es, den Familien die Förderung pauschalierter, berechenbarer und selbstverständlicher zukommen zu lassen und ihnen damit ein Stück Freiheit zu geben.
WELT ONLINE: Innerhalb der Union gibt es die Forderung, den Krippenausbau mit der Einführung eines Betreuungsgeldes für unter Dreijährige zu flankieren, damit auch diejenigen profitieren, die ihre Kinder zu Hause betreuen.
Koch: Ich warne alle Beteiligten davor, finanziell draufzusatteln. Der Staat fördert Familien, die ihre Kinder in den ersten Jahren selbst betreuen, über das Ehegatten-Splitting. Von diesem Steuervorteil profitieren Paare, in denen beide Partner berufstätig sind, nicht. Für den Staat müssen beide Lebensentscheidungen gleichberechtigt sein. Doch eine mathematisierte Vorgehensweise – wenn man den einen Familien etwas gibt, muss man aus Gerechtigkeitsgründen auch bei den anderen wieder etwas drauflegen – bringt den Staat um. Außerdem ist die Krippenbetreuung für die Eltern nicht kostenlos. Sie zahlen selbstverständlich Gebühren, und das soll auch in Zukunft so bleiben.
WELT ONLINE: Dienen die Vorschläge für eine Kompensation in Wirklichkeit dazu, den Krippenausbau zu torpedieren?
Koch: Nein, die Notwendigkeit von mehr Betreuungsangeboten ist innerhalb der Führungsebene der Union unumstritten. Es gibt aber innerhalb der Union und ihrer Wählerschaft bei vielen die Sorge, dass die neue Akzentsetzung in der Familienpolitik eine nachträgliche negative Beurteilung ihres eigenen Lebensentwurfs darstellt. Diese Sorge nehme ich sehr ernst. Wir müssen alles dransetzen, dass dieser völlig falsche Eindruck gar nicht entsteht. Doch eine materielle Kompensation für Familien, die ihre Kinder nicht in eine Krippe schicken wollen, wäre der verkehrte Ansatz.
WELT ONLINE: Was wäre der richtige Ansatz?
Koch: Von CDU-Politikern kann man erwarten, dass sie über Familien-Management und Haushalt ordentlich reden. Von CDU-Politikern in Landesregierungen oder in der Bundesregierung sowie in den Kommunen kann man ebenfalls erwarten, dass sie Ausschreibungsbedingungen so ändern, dass diejenigen, die einige Jahre Kinder erzogen haben, das als gleichberechtigte Berufserfahrung anerkannt bekommen wie bei denen, die an anderer Stelle berufstätig waren. Man kann eine Menge dafür tun, den Frauen zu sagen, dass sie nicht schlechter behandelt werden, wenn sie sich für den einen oder den anderen Weg entscheiden. Die Politik muss sich vom Verdacht befreien, dass sie nur eine Entscheidung für richtig erachtet.
WELT ONLINE: In puncto Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist Deutschland international Schlusslicht. Was hat die Politik falsch gemacht?
Koch: Deutschland hat hier Nachholbedarf. Das ist wahrlich nicht in erster Linie eine Frage an die Politik. Wir hatten vielmehr in der Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts eine andere Tradition als in Skandinavien oder Teilen der USA. Es gab einen gesellschaftlichen Konsens, die ersten drei Lebensjahre die Kinder möglichst fern vom Staat zu Hause zu erziehen. Zum Schaden der Kinder war dies ja auch ganz sicher nicht. Doch wir sind in einem internationalen Entwicklungstrend, der im Übrigen auch viele Vorteile für unser Land hat. Die klassische Rollenverteilung gibt es nicht mehr. Wir sind stolz darauf, dass die jungen Frauen heute Bildungs- und Berufschancen haben, die ihre Mütter früher nicht hatten. Die freuen sich darüber übrigens oft besonders. Und die Wirtschaft braucht die Frauen, zumal die Bevölkerung schrumpft.
WELT ONLINE: Familien sollen also der Arbeitswelt angepasst werden?
Koch: Es geht in der Familienpolitik einerseits um die Zukunftssicherung unseres Landes. Andererseits wollen aber auch die meisten Frauen Familie und Beruf. Die Wahrheit ist schlicht: Vor allem gut ausgebildete Frauen verzichten heute immer häufiger auf Nachwuchs, weil sie um ihre Karriere fürchten. Das ist unser Kernproblem. Wir müssen den Frauen beides ermöglichen, ansonsten werden wir immer weniger Kinder haben.
WELT ONLINE: Die Union will das Ehegatten-Splitting reformieren. Müssen kinderlose Eheleute Einschnitte befürchten?
Koch: Das Ehegatten-Splitting ist ein Verfassungsanspruch. Deshalb ist der Spielraum der Politik für eine Einschränkung hier sehr eng. Die CDU sagt im Entwurf für das neue Grundsatzprogramm außerdem eindeutig, dass sie das Ehegatten-Splitting nicht einschränken, sondern vielmehr um eine Kinderkomponente erweitern will. Es geht darum, Familien mehr von ihrem verdienten Einkommen zu lassen. Eine solche weitreichende Änderung im Steuerrecht geht aber nicht von heute auf morgen. Möglicherweise muss die Umstellung in Schritten erfolgen, denn wir müssen das finanziell Mögliche im Auge behalten. Doch das Ziel ist klar: Familien müssen im Steuerrecht besser gestellt werden. Doch auch die Förderung der Ehe bleibt für die Union dauerhaft ein zentrales Anliegen. Wir wollen nicht, dass die Beliebigkeit des Kommens und Gehens zum Grundmodell unserer Gesellschaft wird.
WELT ONLINE: 30 Prozent der Kinder kommen außerhalb der Ehe zur Welt. Auch die Zahl der Scheidungen steigt. Hängt die Union einem veralten Familienbild an, wie die SPD moniert?
Koch: Politiker und alle Anderen, die in der Gesellschaft Verantwortung tragen, sollten häufiger und offener das Idealbild unserer Gesellschaft beschreiben. So wie es unserer Verfassung tut, die Ehe und Familie unter den besonderen Schutz stellt. Je mehr Menschen in stabilen Ehen und Familien leben, umso friedlicher, optimistischer und glücklicher ist unsere Gesellschaft. Das darf man auch sagen, ohne dass man damit jemand verletzt, der aus unterschiedlichen Gründen anders lebt. Scheidungskinder erfahren oftmals besonders viel Zuwendung und müssen keineswegs unglücklicher sein. Und wer sich scheiden lässt, hat deshalb noch lange keinen Fehler gemacht. Doch eine Gesellschaft muss die Fähigkeit behalten, sich vorzustellen, wie die ideale Konstellation ist, wissend, dass wir dem Ideal allesamt nicht entsprechen. Die Maßstäbe dürfen hier nicht verändert werden.
WELT ONLINE: Aber ist Familie nicht überall dort, wo Kinder sind – unabhängig vom Trauschein?
Koch: In Deutschland gibt es heute eine Diskussion über die Definition von Freiheit. Viele glauben, dass es für sie persönlich am besten sei, sich nicht von Kultur und Tradition leiten zu lassen. Ich halte das für eine Selbstüberschätzung des Einzelnen. Ehe und Familie geben Stabilität. Und die meisten Menschen wollen in stabilen Verhältnissen leben. Wenn es um die Gestaltung der Gesellschaft geht, kann sich die Union auf die christlich-abendländischen Werte berufen. Die sind zwar alt, doch deshalb keineswegs falsch.