Sprachförderung für türkeistämmige Bürger in Europa
Rede des Hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch auf dem Kongress „Sprachförderung für türkeistämmige Bürger in Europa“
„Sprache als Mittel der Integration und Partizipation aus Sicht der Politik“
Sehr geehrter Herr Dr. Bilgin,
verehrte Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
zunächst von mir und im Namen der ganzen Hessischen Landesregierung ein herzliches Willkommen hier in Frankfurt am Main. Vielen Dank auch an die Stadt Frankfurt, die als Gastgeber für diesen Kongress dient. Wir freuen uns als Hessische Landesregierung sehr darüber, dass wir heute in der Bundesrepublik Deutschland und natürlich auch in unserem Bundesland eine breite Diskussion über die Frage von Integration und den daraus zu ziehenden gegenseitigen Herausforderungen haben. Wir sind aber nicht nur froh darüber, dass Sie sich entschieden haben in Frankfurt am Main zu tagen. Besonders erfreulich ist, dass dieses wichtige Thema hier in Rahmen eines Kongresses erörtert wird, der nicht getrieben wird von offiziellen, formalen Instanzen und in dem eine Menge Bürgerengagement steckt. Dieses Bürgerengagement wird auf allen Seiten deutlich. Wenn anschließend Herr Dr. Kaehlbrandt für die Hertie-Stiftung hier spricht, dann repräsentiert er damit nicht nur das Bürgerengagement auf Seiten der Finanzierung, sondern zugleich einen wesentlichen Teil der deutschen Gesellschaft. Zudem haben wir hier mit der ETU einen Veranstalter, der sich engagiert mit demselben Thema beschäftigt. Eine besondere Ehre gebührt in diesem Zusammenhang dem beachtenswerten Bürgerengagement des Vorsitzenden Herrn Dr. Bilgin und vielen anderen, die ohne eine öffentliche Initiative oder staatliche Regelung aus eigenem Interesse und Antrieb an der Entstehung dieses Kongresses mitgewirkt haben.
In der Tat bin ich davon überzeugt, dass dies die einzige Möglichkeit ist, um aus dem Übereinandersprechen ein Miteinanderarbeiten zu machen. Ich glaube, wir sollten uns keine Illusionen darüber machen, dass dies ein langer Prozess ist, der sich nicht mit einigen wenigen Kongressen und guten Reden zufrieden gibt. Heute befinden wir uns auf einem guten Weg. Hierfür ist der Integrationsbeirat in Hessen nach meiner Einschätzung ein guter Anfang gewesen. Wenn man sich erst einmal auf diesen Weg macht, wird schnell klar, wo sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede liegen. Beide Seiten erhalten dadurch eine präzise Vorstellung davon, wo der Weg noch nicht gemeinsam ist und wir um Gemeinsamkeit ringen müssen. Das verringert die Zahl der Missverständnisse und erhöht die Motivation und auch das Engagement aller, die sich mit ihrem Leben, ihren Fähigkeiten und finanziellen Ressourcen in diesen Prozess einbringen. Dies ist nicht nur von allen Beteiligten gewollt, sondern birgt eine echte Erfolgschance in sich.
Die Frage ist, wo man anfängt. Das war auch die erste Frage, die wir uns in den Diskussionen des Integrationsbeirats gestellt haben. Natürlich ist die Integration eine Herausforderung für beide Seiten im Aufeinanderzugehen, die mehr Aspekte hat als nur die Sprache. Wir müssen reden über kulturelle Verhaltensweisen, zum Beispiel im Umgang mit Schule, über religiöse Prägungen, zum Beispiel im Verhältnis von Mann und Frau, von Jungen und Mädchen, und ihren Rollen in Schule und Gesellschaft. Wir müssen vor allem über Erziehungspraktiken diskutieren. Letztendlich müssen wir gelegentlich auch über rituelle und religiöse Formen des Lebens – Stichwort Schlachtung und Tierschutz – reden. In dieser Diskussion prallen dabei unterschiedliche Aspekte, verschiedene Hintergründe und Herausforderungen aufeinander. Beide Seiten stehen somit vor einem großen Berg verschiedener Aufgaben. Jede einzelne Maßnahme, jeder einzelne Schritt steht immer unter dem Risiko, dass damit eine Abspaltung in Parallelgesellschaften oder ein Druck zur Assimilation hingenommen wird. Alleine diese Frage führte in den vergangenen Jahrzehnten zu vielen Missverständnissen und resultierte oft darin, dass gar nichts geschehen ist, weil alle Beteiligten sich am Ende untätig zurückgelehnt haben. In Wahrheit sind bei vielen Menschen, die alleine und sehr verunsichert durch das Leben gehen, Frustrationen entstanden. Dabei sind auch Fehler gemacht worden. Ich glaube, es war richtig, dass der Integrationsbeirat bei uns in Hessen zum Ergebnis gekommen ist, dass eine einheitliche Qualifikation in der Sprache des Landes, in der wir gemeinsam leben, die entscheidende Voraussetzung dafür ist, alle anderen Fragen im wahrsten Sinne des Wortes vernünftig besprechen zu können. Die Sprachqualifikation ist in diesem Sinne eine Chance, denn sie kann als Plattform zur Erarbeitung von Lösungen dienen.
Diese Erkenntnis ist leider noch nicht so tradiert, dass wir mit ihr schon lange Erfahrung hätten. Gerade in dieser Frage sind wir in der Bundesrepublik Deutschland durch manche Irrwege gegangen. Sätze, die heute Herr Dr. Bilgin, ich oder viele andere in Ihren jeweiligen Gruppierungen sagen, waren noch vor 15 Jahren Sätze, die man nicht sagen wollte, konnte oder durfte. Vor 30 Jahren, da gebe ich meinem Kollegen Al Wazir recht, waren sie sogar oftmals Sätze über die kein Mensch nachgedacht hat. Das ist der Weg, den wir in den vergangenen drei Jahrzehnten zurückgelegt haben, wobei wir hier die ersten 20 Jahre einmal nicht erwähnen, in denen das Problem außerhalb der Werksgelände eigentlich gar nicht vorkam. Damit ist viel Schaden entstanden. Die Entscheidung, sich heute auf die Sprachqualifikation zu konzentrieren, ist deshalb wahrscheinlich eine Reaktion auf diese Entwicklung. Es kommt zunächst darauf, an Prioritäten zu setzen und das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen. Die Bequemlichkeit, die hinter den Diskussionen von vor 15 Jahren saß, ist ja nicht zu unterschätzen. Bequemlichkeit ist etwas, was uns interkulturell vereint. Wir alle haben eine gewisse innere Neigung zur Bequemlichkeit, die Völker verbindend wirkt. Das ist Schulkindern und, wie ich glaube, auch uns Menschen im Übrigen weltweit gemein. Es ist natürlich viel einfacher für einen Staat zu sagen: „Das ist doch herrlich, wenn jeder seine eigene Sprache spricht.“ In Antiquariaten sind heute noch Bücher zu finden, die davon gesprochen haben, dass es doch toll sei, wenn ein Grundschullehrer auf junge Menschen mit ganz unterschiedlicher Sprache trifft. Theoretisch können diese ja spielerisch die Sprache ihrer Mitschüler adaptieren und sich einander annähern, bis daraus ein gemeinsames Ganzes entsteht. Im richtigen Leben hat das jedoch selten oder nie stattgefunden, weil eine solche Herausforderung an Lehrerinnen, Lehrer und alle Schüler jenseits der normal zu erwartenden Leistung liegt. Es gibt zwar einzelne erfolgreiche Beispiele, aber das sind eben Ausnahmen und nicht die Regel. Weder sind unsere Lehrerinnen und Lehrer dafür geeignet, noch ist der Wille, diese Herausforderung anzunehmen, von einem fünf-, sechs- oder siebenjährigen Kind ernsthaft zu erwarten.
In der Regel befindet sich dann eine jeweilige Minderheit in einer schwierigen Situation, da die Mehrheit der Mitschüler sich anders ausdrückt als man selbst. Oftmals ziehen sich diese Kinder zunächst in ihre eigene Gruppe zurück, weil dies der viel schnellere und leichtere Weg ist. Folglich entsteht dann, im Alter von vier oder fünf Jahren, eine erste Spaltung in den Klassen, die oft eine Einteilung in „chancenreich“ und manchmal leider „chancenlos“ nach sich zieht. Beispielsweise haben wir in dieser Stadt die Sorge, dass eine nennenswerte Zahl von 16-, 17- und 18-jährigen jungen Menschen in diese zweite Gruppe der Chancenlosen fällt. Zu einem nicht unbeachtlichen Teil handelt es sich dabei um Jugendliche türkischer Abstammung, was nichts Besonderes über die Gemeinschaft der türkischen Bürger ausweist. Hessen ist insgesamt das Bundesland mit dem höchsten Ausländeranteil unter den Flächenländern in der Bundesrepublik Deutschland. Abgesehen von den Stadtstaaten liegt der ausländische Bevölkerungsanteil bei 13,7 Prozent oder 13,8 Prozent. Gut ein Viertel davon ist türkischer Herkunft, ob sie nun dort geboren sind oder ihre Eltern von dort stammen. Deshalb ist es auch völlig logisch, dass sie die stärkste ethnische Gruppe sind, die in den Statistiken auftaucht. Wir haben nicht Dutzende, sondern wahrscheinlich Tausende von jungen Menschen im Alter von 16 bis 22 Jahren, die nicht am normalen Ausbildungsweg in die Gesellschaft teilnehmen und daher sich keine gesicherten Erwerbsperspektive aufbauen können. Dies liegt oftmals am schlechten Schulabschluss, wenn sie denn überhaupt einen haben. Viele Migranten haben erhebliche Probleme einen Abschluss zu erreichen, weil sie der deutschen Sprache nicht in einer Weise mächtig sind, um mit ihren Mitschülern, die diese Sprachqualifikationsprobleme nicht gehabt haben, zu konkurrieren. Das ist einer der Fehler, die vor 15 Jahren gemacht wurden, mit dem wir noch weitere zehn Jahre zu kämpfen haben werden.
Ich hoffe, dass wir heute dank aller gemeinsamen Anstrengungen in einer Situation sind, dass wir in zehn oder 15 Jahren über diesen Fehler nicht mehr sprechen müssen. Obwohl es eigentlich nicht Thema der heutigen Veranstaltung ist, will einmal sagen: Trotz aller Investitionen in diesem Bereich stehen wir immer noch vor einer großen und nicht vollständig gelösten Aufgabe. Wir müssen sicherstellen, dass diejenigen, die heute 16, 17 oder 18 Jahre alt sind, nicht das gleiche Schicksal erleiden. Nach meiner Einschätzung können sie nichts dafür, sondern sind – und das ist eine Verantwortung von Politik – das Opfer falscher Politik. Sie sind sicherlich auch das Opfer falscher Einschätzungen in der Gesellschaft gewesen. Sie haben keine faire Chance bekommen, die deutsche Sprache zu lernen, weil ihnen nicht ausreichend klar war, dass dies die von den staatlichen Institutionen verlangte Voraussetzung für den Berufseinstieg ist. Das muss jetzt geändert werden. Sie wissen, wie viele unterschiedliche Anstrengungen hier in Hessen auf der Basis der Verabredungen des Integrationsbeirats dafür unternommen worden sind und auch weiterhin unternommen werden. Dazu gehört auch, dass der Integrationsbeirat von Anfang an ganz klar unseren Willen bekundet hat, alle Kinder in den Kindergarten zu schicken. Unabhängig von ihrer Herkunft ist das für uns der Beginn des gemeinsamen Lebens von jungen Menschen in diesem Land.
Anfangs, noch vor fünf oder sechs Jahren, war der prozentuale Anteile von Kindern aus Immigrantenfamilien, die in den Kindergarten gehen, weitaus geringer als der Anteil von Kinder, die hier traditionell mit diesem System aufgewachsen sind. Im Vergleich zu dieser schwierigen Ausgangslage, die sich auch in den Statistiken niederschlug, gibt es heute schon große Erfolge. Wir sind dabei, ein einheitliches Bildungskonzept für die ersten zehn Lebensjahre zu entwickeln. Der Kindergarten wird immer mehr integrativer Bestandteil unserer Vorstellung über die Bildung und Ausbildung junger Menschen. Dieser Bildungsweg, der zwar formal erst in der Grundschule beginnt, hat aber eben seine wichtige Vorgeschichte. Gerade deshalb gilt: Je mehr wir dort investieren, desto früher und effektiver können wir die Probleme in der Sprachqualifikation angehen. Schon heute wird ein beträchtlicher Teil der Mittel, die das Land Hessen für die Kindergärtenfinanzierung an die Kommunen überweist, für Sprachqualifikationsprogramme ausgegeben. Wir haben inzwischen mehr als 7.000 Erzieherinnen und Erzieher in der Frage des Umgangs und Einübens einer gemeinsamen Sprache geschult. Wir haben drüber hinaus die hart klingende Entscheidung getroffen, dass niemand mehr am Unterricht der ersten Klasse teilnimmt, wenn er nicht der deutschen Sprache ausreichend mächtig ist. Es macht keinen Sinn, Kinder in eine Regelklasse zu setzen, wenn sie dem Unterricht nicht folgen können und daher keine Chance haben, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Ein hoch motiviertes Kind, das seine Lehrerin oder seinen Lehrer nicht ausreichend versteht, wird nie gute Leistungen erbringen. Wenn es aber keine guten Leistungen erbringen kann, wird es sehr schnell das Interesse verlieren und sagen: „Was soll ich bei der Sache, wenn ich gar nicht mitmachen kann? Ich habe nie eine faire Chance, die anderen haben eine bessere.“ Deshalb muss das erste Schuljahr anders aufbaut werden. Dank der Sprachtests, die wir eingeführt haben, können wir heute die Kinder mit Problemen in der deutschen Sprache frühzeitig identifizieren. Anfangs hat sich gezeigt: bis zu 10.000 Schülerinnen und Schüler des Landes brauchen eine zusätzliche Qualifikation, bevor sie hinreichend der deutschen Sprache mächtig sind, um am Unterricht der ersten Klasse teilzunehmen. Zu dieser Bilanz gehört auch die Tatsache, dass der überwiegende Teil dieser Kinder aus Immigrantenfamilien kommt. Es sind aber nicht nur Kinder mit einem solchen Hintergrund. Rund acht bis zehn Prozent der jungen Menschen, die wir bitten, einen Sprachkurs zu besuchen, haben in ihrer Familiengeschichte keinerlei Migrationserfahrungen. Das heißt, wir reden durchaus über ein gesellschaftspolitisches Phänomen in unserem Land.
Es ist also nicht so einfach, dieses Problem in „wir da und ihr da“ zu unterteilen. Es gibt beispielsweise Eltern, die einfach vergessen haben ihren Kindern etwas vorzulesen oder einfach nicht oft genug mit ihren Kindern reden. Es gibt auch Kinder, die bei ihrer Einschulung beträchtliche Schwierigkeiten haben sich auszudrücken. Es fällt ihnen schwer einen Baum oder einen Menschen mit seinen Armen und Beinen zu beschreiben. Sie können auch oftmals den Inhalt von vorgelesenen Texten nicht verstehen, geschweige denn einigermaßen wiedergeben. Wir müssen daher beginnen, ihnen die Ausdrucksfähigkeit in ihrer Sprache so weit beizubringen, dass sie in der Schule dem Unterricht folgen können. Die Schaffung dieser gemeinsamen sprachlichen Voraussetzung ist unsere Aufgabe, in der wir heute sehr viel weiter sind als noch vor einigen Jahren. Ich behaupte nicht, dass unsere Anstrengungen in diesem Bereich ausreichend sind. Es ist aber ein guter Anfang gemacht, auf dem man aufbauen kann.
Wir wissen, dass Migrationserfahrungen nie in der ersten Klasse beendet sein werden, nur weil man die deutsche Sprache erlernt hat. Die weitere Integration dieser jungen Menschen eröffnet dabei zugleich Chancen und Herausforderungen. Die unterschiedlichen kulturellen Erfahrungen des Elternhauses können nicht nur für das Land, sondern auch für den jeweils Betroffenen ein Vorteil sein. Umgekehrt gilt jedoch auch, dass dieser unterschiedliche kulturelle Hintergrund hemmend wirken kann, was oft zur Zurückhaltung in der Schule führt und die Entwicklung eines gesunden Selbstbewusstseins beeinträchtigt. Die Unterstützung durch das Elternhaus spielt auch eine wichtige Rolle, denn Eltern, die selbst nie eine Schule besucht haben, begleiten den schulischen Weg ihrer Kinder anders als Eltern, die selbst in dieser Schule waren. Gute und schlechte Schüler sind selbstverständlich unter den Kindern der Migranten genauso verteilt wie unter uns Deutschen. Mit Blick auf die Eltern wird jedoch häufig deutlich, dass sie möglicherweise eine andere Förderung erfahren haben. Beispielsweise engagiert sich die Hertie-Stiftung mit Projekten in diesem Bereich. Obwohl theoretisch heute jeder in unserem Schulsystem die gleichen Startvoraussetzungen hat, ist es in der Praxis so, dass nicht alle gleichermaßen diese Chancen wahrnehmen können. Die Förderung der Chancengleichheit kann also nicht bei der Schaffung gleicher Startvoraussetzungen am Beginn der Schullaufbahn enden, sondern muss auch Anstrengungen in der Folgezeit beinhalten. Dabei muss jedoch klar sein: als staatliche Autorität erwarten wir, dass die Lehre der deutschen Sprache Priorität hat. Die Sprachqualifikation darf aber zugleich nicht auf die deutsche Sprache verengt werden.
Deutschland besitzt einen großen Vorteil ökonomischer Art, den wir oft nicht ausreichend ausspielen. Die meisten Menschen, die heute hier leben und die Schulen besucht haben, beherrschen zumeist mindestens eine zweite Sprache, wenn nicht sogar eine dritte. Wenn Sie das mit der Ausbildung in Amerika oder Großbritannien vergleichen, oder einen Blick auf die Ausbildung unserer französischen Nachbarn werfen, wird dieser Vorteil klar deutlich. Heutzutage gibt es zwei oder drei sehr starke und bedeutende Sprachen. Dazu gehört sicherlich neben dem Englischen, das heute eindeutig die dominierende Weltkommunikationsform ist, auch die französische und russische Sprache. Speziell das Russische wird trotz seiner abnehmenden Bedeutung immer noch von einem beachtlichen Teil unserer Bevölkerung gesprochen. Dementsprechend muss es aufgrund des hohen Anteils von Bürgerinnen und Bürgern mit türkischer Herkunft so sein, dass das Türkische für uns in einer überschaubaren Zeit eine solch bedeutende Sprache wird. Das ist kein Verlust, sondern ein Gewinn für uns alle. Deshalb haben wir selbstverständlich daran ein Interesse. Wir werden in den Schulen weiter über diese Frage diskutieren, denn eine Umsetzung dieser Ideen setzt zunächst einmal die Ausbildung unserer Lehrer voraus. Dabei geht es jedoch nicht um die Frage der Zukunft des muttersprachlichen Unterrichts. Türkisch muss ein normales Fach sein, das man genau so als zweite oder dritte Fremdsprache belegen können sollte, wie das heute schon mit Chinesisch oder Japanisch möglich ist. Es wäre geradezu verrückt, wenn wir dieses sprachliche Potenzial nicht nützen und dies zur Normalität in unserer Gesellschaft werden lassen. Speziell Eltern fällt die Entscheidung zu, inwieweit sie beispielsweise die Bilingualität ihrer Kinder von frühesten Jahren an zulassen wollen. Auch dort gilt wieder: Bilingualität in der Erziehung ist ein Vorteil, denn Kinder erlernen Sprachen viel leichter. Bilingualität ist aber nicht einfach umzusetzen, denn sie ist eine Herausforderung für jede Familie. Eltern müssen sich daher von vorneherein überlegen, ob sie die notwendige Disziplin haben, sich dieser Herausforderung zu stellen.
An diesem Punkt der Diskussion muss allerdings wieder offen gesagt werden: Ich treffe Kinder mit ihren Eltern und muss erleben, dass kleine drei- oder vierjährige Jungen und Mädchen, manchmal auch türkischer Herkunft, mich einfach nicht verstehen. Wenn diese Kinder dann im vierten Lebensjahr langsam anfangen, in der Familie deutsch zu lernen, damit man hoffentlich über den Vorlaufkurs hinwegkommt und in die erste Klasse eingeschult wird, stehen viele vor einem Problem. Bilingualität bedeutet nämlich eben nicht, dass zuerst sichergestellt wird, dem Kind die Muttersprache beizubringen, um dann Deutsch als eine Art Fremdsprache zu erlernen. Wahre Bilingualität stellt sich nur ein, wenn Kinder beide Sprachen zugleich lernen, wobei sie in der einen mit der Mutter und der anderen mit dem Vater sprechen. Das Problem darin wird dann offenkundig, wenn diese Kinder, die ja dauerhaft in Deutschland leben, in einer anderen Sprache als Deutsch träumen, denken und handeln. Da der Staat damit nichts zu tun hat, können wir das nicht verbieten. Es ist aber klar, dass dies ein Nachteil für die Kinder ist. Die Frage, ob sie die türkische Sprache können sollten oder nicht, steht nicht zur Disposition. Sie sollen sich mit ihren Eltern, Großeltern, Verwandten und Freunden auch dann unterhalten können, wenn diese möglicherweise nicht hier in Deutschland leben. Sie sollen dies in einer fließenden, natürlichen Weise tun. Möglicherweise sollten sie auch in beiden Sprachen denken können. Was wir jedoch auf jeden Fall vermeiden wollen ist, dass ihnen Deutschland immer fremd bleibt, weil sie niemals das Denken und Handeln in der deutschen Sprache gelernt haben. Darüber müssen wir offen sprechen, denn in diesem Punkt sind wir noch nicht weit genug gekommen. Diese Herausforderung wird oft missverstanden, denn zu ihrer Beantwortung sind wir auf die Hilfe derjenigen angewiesen, die betroffen sind.
Wenn ich das hier sage, ist das bestenfalls wieder ein Anlass, dass irgendjemand sich angegriffen fühlt. Wenn jedoch Herr Dr. Bilgin und sein Verband dies im gleichen Ton ansprechen, ist das möglicherweise ein Denkanstoß für unsere Diskussion. Gerade im gemeinsamen Ringen um Lösungen sehe ich eine wichtige Aufgabe für einen solchen Kongress. Sicherlich stehen hinter den angesprochenen Problembereichen viele gesellschaftspolitische Fragen. Die Diskussion um die Frage der Bilingualität ist ein gutes Beispiel dafür, was wir uns gegenseitig in der Debatte als normal zumuten können. Einer der Vorträge hat sich mit der Frage von Bildung und Weltbürgertum auseinandergesetzt. Ich betrachte den Begriff des Weltbürgers mit großer Vorsicht. Ich sage dies offen, denn ich glaube, dass dieser Begriff zu mehr Missverständnissen führt als dass er Probleme löst. Es gibt wenige wahre Weltbürger. Weltbürger sind Menschen, die eine besondere Fähigkeit dazu haben, sich in unterschiedlichen Kulturen mit gleich hohem Identifikationsgrad einzuleben, zu integrieren und wieder zu lösen. Es gibt große Menschen und Literaten, bedeutende Wissenschaftler und Forscher, sowie allgemein bedeutende Persönlichkeiten aus allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, die das schaffen. Viele dieser Weltbürger erlangen Berühmtheit, weil sie aus dem Rahmen fallen. Ihre außergewöhnliche Begabung macht sie zudem zu ungewöhnlichen Vermittlern, denn sie können durch den Wechsel zwischen den Welten das Verständnis füreinander auf beiden Seiten erhöhen. Ich weiß nicht, ob ich das könnte. Ich kenne jedenfalls viele, die es nicht können. Aus diesem Grund mache ich mir Sorgen, wenn wir ein solch außergewöhnliches Beispiel zum Regelmodell für Erziehung und Integration machen würden. Es ist ja schon faszinierend, wenn wir gelegentlich junge Menschen sehen, die im Abitur fünf oder sechs Sprachen fließend sprechen. Dies ist bewundernswert, weil es etwas mit dem Kopf, mit dem Denken, mit der Fähigkeit zu tun hat, sich in einem Land zuhause zu fühlen. Wenn wir über Integration sprechen, dann wird es Punkte geben, über die etwa der Integrationsbeirat in anderer Form und auch vernünftiger reden kann als das in der Vergangenheit möglich war. Trotzdem werden wichtige Fragen weiterhin offen bleiben: „Was ist mein Kind und was wird mein Enkelkind sein? Ist es ein Deutscher, eine Deutsche, weil ich mich entschieden habe, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen und hier dauerhaft zu leben? Identifiziert sich mein Kind mit der deutschen Wahlheimat, obwohl ich es in der Sprache meiner eigenen Eltern und Großeltern großgezogen habe und es sich auch in diesen sozialen Kreisen bewegt? Oder ist es eine junge Türkin oder ein Türke, der zwar nicht mehr in seinem Heimatland lebt und nun die Sprache seiner Wahlheimat spricht, obwohl es dieses Land immer aus der Perspektive eines Außenstehenden betrachten wird?“ Es fällt vielen Menschen der jeweils aktuellen Generation sehr schwer, diese Fragen für sich selbst zu beantworten. Deshalb muss man sie nicht immer mit den Fragen nach ihrer Identität provozieren. Wir, die wir politische Verantwortung tragen, stehen auch vor der Herausforderung die weitere Entwicklung auf diesem Feld vorauszusehen. Hierbei kann uns gerade ein Blick auf unsere eigene Geschichte als Leitfaden dienen.
Deutschland hat auch unter migrationsgeschichtlichen Gesichtspunkten über die Jahrhunderte hinweg schon manche Veränderungen erlebt. Gerade die politischen Umwälzungen des letzten Jahrhunderts haben dazu geführt, dass einstmals Deutsche ihre Identität aufgegeben haben und eine neue an deren Stelle getreten ist. Wir wissen daher mit großer Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder und Enkel heutiger Immigranten irgendwann einmal nur noch durch ihren Namen erkennbar sein werden.
Möglicherweise werden wichtige Traditionen und auch die Religion weitergegeben. Ansonsten werden sich ihre Einstellungen durch die Gebäude und Landschaften, in denen sie leben, schrittweise verändern, bis sie sich höchstwahrscheinlich selbst mit der Fußballnationalmannschaft identifizieren. Trotz der vielen Gegner eines solchen Annäherungsprozesses, die täglich versuchen gegen diese Entwicklung anzukämpfen, muss man politisch die Voraussetzungen schaffen, um den jungen Menschen diesen Wandlungsprozess zu erleichtern. Dabei müssen wir beachten, dass diese jungen Menschen nicht mit den Nachteilen dieser Entwicklung alleine gelassen. Am Ende dieses Weges befinden sie sich nämlich oft in einem Dilemma: Einerseits kann die zunehmende Anpassung an die umgebende Gesellschaft zur Entfremdung mit den Eltern führen, die häufig an alten Traditionen und Werten festhalten wollen. Andererseits birgt dieses Festhalten an Traditionen die Gefahr, dass sie sich nicht mit ihren Mitschülern und der umgebenden Gesellschaft identifizieren können, was wiederum das Ausleben ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten beeinträchtigen kann. An dieser Stelle endet immer wieder das Gespräch. Diese Frage nach der Identität ist der Kern vieler politischer Debatten, die wir auch in Zukunft haben werden. In diesem Zusammenhang ist es wahrscheinlich das klügste, wenn man jede Generation die Frage nach den Prioritäten selbst beantworten lässt.
Die Voraussetzung dafür, dass jeder junge Mensch eigenverantwortlich diese Entscheidung für sich treffen kann, ist, dass er die formalen Voraussetzungen erfüllt, um sich in der Gesellschaft uneingeschränkt und ungehindert bewegen zu können. Die wichtigste von ihnen ist die Sprache. Wenn er sie beherrscht, kann er an den demokratischen Prozessen teilnehmen. Er ist dann auch nicht nur Teil unserer Rechtsordnung, sondern kann aktiv an der staatlichen Ordnung teilnehmen, wenn er dazu bereit ist, die deutsche Staatsbürgerschaft zu übernehmen. Wie wir alle hat er dann alle Möglichkeiten in die Berufswelt einzusteigen. Bei all dem entscheidet er selbst. Er kann selbst bestimmen, wie er mit den Spannungen im Elternhaus umgeht, wie weit er sich auf die umgebende Gesellschaft einlässt oder wo er selbst seine Heimat sieht. Am Ende ist gerade mit diesem Wort viel ausgedrückt. Ich glaube, dass es keinen Menschen gibt, der gerne ohne eine Heimat lebt. Dort liegen die Grenzen des Weltbürgers. Ich glaube deshalb, dass es einen Weg jenseits der Assimilation gibt, der aber trotzdem dazu führt, dass sich die Frage, „Wo ist deine Heimat?“ über Generationen hinweg verschiebt. Dieser Wandlungsprozess muss behutsam begleitet werden. An einer Stelle bedarf es aber der Härte und Klarheit: Die Idee, sich an seine alte Heimat zu klammern, gefährdet die Chance, sein neues zu Hause als potenzielle Heimat zu empfinden, denn man hat nie versucht, sich mit ihrer Kultur und Sprache auseinanderzusetzen.
Deshalb muss die Entscheidung, dauerhaft in Deutschland zu leben, auch zugleich eine Entscheidung sein, in der deutschen Sprache zu denken und zu träumen. Dies bedeutet nicht die türkische Sprache zu vergessen oder der Heimat der Eltern und Großeltern den Rücken zu kehren. Es sollte vielmehr eine Entscheidung sein, die deutsche Sprache in den Mittelpunkt zu stellen, damit die Kinder und Kindeskinder, über die wir hier reden, sie wirklich auch als ihre Muttersprache empfinden. Hier kommt wiederum die Idee der Bilingualität ins Spiel, die eine Chance eröffnet, beide Sprachen, die der alten und neuen Heimat, zugleich zu erlernen. Aber der Reihe nach. Wir befinden uns mitten in diesem Wechsel. Der war noch vor 15 Jahren anders. Es ist selbst heute noch nicht selbstverständlich, über dieses Thema offen zu sprechen. Gerade deshalb lohnt es sich, dass wir hier darüber reden. Ich bin Ihnen, Herr Dr. Bilgin, und allen anderen außerordentlich dankbar, dass Sie hier ein solches Forum dafür geschaffen haben. Sie arbeiten an etwas Wichtigem für alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Es ist ein Beitrag zum Zusammenleben und zum friedlichen Mit- und Nebeneinander von Deutschen und Migranten. Alle Beteiligten können glücklich sein über diese Diskussion, die wir offen führen. Vielen herzlichen Dank, dass Sie sie nicht nur aufgenommen haben, sondern dass Sie sie aus dem Inneren heraus führen. Ich glaube, Sie können stolz darauf sein, was Sie in den letzten Jahren dabei erreicht haben. Ein Beleg dafür ist die große Zahl an Mitbürgerinnen und Mitbürgern aus allen Teilen der Gesellschaft, die bereit sind zu sagen: „Wir engagieren uns in dieser Frage. Wir sprechen im wahrsten Sinne des Wortes eine gemeinsame Sprache.“ Insofern danke Ihnen ganz herzlich und wünsche Ihnen viel Erfolg für die Zukunft.