Rede Verleihung des Deutschen Medienpreises an den Dalai Lama
Rede des Hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch anlässlich der Verleihung des Deutschen Medienpreises an den Dalai Lama
Baden-Baden, 10. Februar 2009
Sehr geehrter Herr Kögel, Eure Heiligkeit, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Ich freue mich sehr, dass ich diese Worte unter der Überschrift einer Laudatio hier an Sie richten darf. Obwohl eine Person der Weltgeschichte und der Zeitgeschichte wie der Dalai Lama ja eigentlich kaum noch einer Beschreibung bedarf, freue ich mich, diese Laudatio gerade hier beim Deutschen Medienpreis halten zu können. Denn wir sollten uns bewusst sein: Es gibt zwei existentielle Voraussetzungen dafür, dass die Idee vom Erhalt der tibetischen Kultur in diesem Jahrhundert überhaupt noch eine Chance hat – die eine ist die besondere Persönlichkeit des Dalai Lama und die andere ist die Macht der Medien. Alle weiteren Elemente, die dazu passen, sind sehr beweglich, sind vielen unterschiedlichen Einflüssen ausgesetzt. Aber wenn die Medien einmal entscheiden werden, dass sie das Thema des tibetischen Volkes und seines Schicksals nicht mehr interessant finden, werden die Menschen auf diesem Planeten gar nicht mehr wissen, was das Schicksal des tibetischen Volkes ist.
Das klingt theoretisch. Aber versuchen Sie sich einmal zu erinnern, ob Sie in den letzten acht, neun Monaten Bilder von Lhasa gesehen haben. Ob Sie Bilder gesehen haben um den Jokhang-Tempel herum, an dem auf jedem Haus ein Scharfschütze steht – Tag und Nacht. Ob Sie Bilder gesehen haben von Lhasa, das nachts ausschließlich von Militärposten an jeder Straßenecke beherrscht wird. Sie können diese Bilder nicht mehr sehen: Weil ein diktatorisches System auch in unserer Zeit, jedenfalls in entlegenen Plätzen der Welt, durchaus in der Lage ist, solche Bilder zu verhindern. Das zeigt, wie schnell eine Geschichte bedeutend und unbedeutend werden kann in den geschriebenen Zeilen und in den gesendeten Minuten der Medien. Und deshalb versinnbildlicht der Deutsche Medienpreis eine ungewöhnliche Symbiose: eine Symbiose zwischen einem ungewöhnlichen Menschen mit einem ganz außergewöhnlichen Volk und dessen besonderer Geschichte einerseits – und andererseits unserem Bestreben, dieses Volk der Weltgeschichte zu erhalten.
Dabei geht es um Kultur, um das, was der Dalai Lama als religiöses Oberhaupt einer wesentlichen Strömung des Buddhismus repräsentiert. Es geht auch für viele, die sich mit dem tibetischen Volk befassen, um die Besonderheiten des Entwickelns einer Gesellschaft in Abgeschlossenheit. Die Tibeter haben sehr lange sehr allein gelebt. Und sie haben dabei besondere Strukturen gefunden. Manche Strukturen, die wir als Europäer für uns wahrscheinlich gar nicht akzeptieren würden, weil sie mit ihrer Ausprägung von einem Gottesstaat mit unserem heutigen Verständnis von Demokratie völlig unvergleichbar sind. Aber sie haben ihre Kultur, ihre Identität, ihre Medizin, ihren Weg als ein Millionenvolk, als Nomaden unter Bedingungen eines kärglichen Plateaus zu leben, in einer Weise gefunden, dass daraus ein sehr gläubiges Volk, ein Volk von Mönchen geworden ist. Fast keines dieser Elemente finden wir irgendwo anders auf der Welt. Und schon gar nicht in dieser Kombination. Darin liegt jenseits aller Fragen von Menschenrechten – aller Fragen der konstitutionellen, demokratischen, heutzutage durch die Weltgemeinschaft verfassten Ansprüche – die Faszination Tibets.
Der Dalai Lama hat es geschafft, einen Teil der Erfahrungen dieses besonderen Volkes zu einem Allgemeingut der Menschen in einer Welt zu machen, die häufig sehr nach Orientierung sucht, die häufig sehr verunsichert ist. Er hat es geschafft, Menschen neugierig zu machen auf das besondere Schicksal seines Volkes. Und vielleicht sollte man dann auch hinzufügen: Das, was mich persönlich in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder motiviert hat, mich für die Sache der Tibeter in einer besonderen Weise zu engagieren – das Kämpfen für das Selbstbestimmungsrecht, für das Existenzrecht, für die kulturelle Identität eines Volkes –, ist auf der Welt kein Einzelfall. Von manchem Freiheitskampf und Streben nach Unabhängigkeit haben wir viel gehört. Wir Europäer brauchen nicht behaupten, dass es dies bei uns nicht geben würde: Ob im Baskenland, ob in Nordirland, vor gar nicht allzu langer Zeit auch in Südtirol haben Menschen jeweils geglaubt – berechtigt oder unberechtigt –, für ihre Form von Unabhängigkeit und Freiheit kämpfen zu müssen. Sie alle standen dann jedes Mal in der Zeitung, wenn sie eine Bombe geworfen oder ein Attentat verübt hatten. Viele von ihnen waren damit sogar erfolgreich. Viele, die Bomben geworfen haben, sind später Staatsmänner geworden.
In unserer heutigen Zeit sind die Tibeter das einzige Volk und der Dalai Lama der einzige religiöse Führer, die sich entschieden haben, ohne dieses so oft erprobte Mittel der Gewalt ihr Freiheitsrecht zu verteidigen. Was für eine Botschaft würden wir kommenden Generationen hinterlassen, wenn ausgerechnet dasjenige Volk auf der Strecke bliebe, welches als einziges friedlich geblieben ist? Schon die Diskussion, die der Dalai Lama vor wenigen Wochen mit einer großen Zahl von Tibetern aus der ganzen Welt in Dharamsala geführt hat, hat immense Signalwirkung: Ist der Weg, den er eingeschlagen hat, nämlich gewaltlos für die Selbstbestimmungsrechte des tibetischen Volkes zu kämpfen, noch richtig? Ja, überhaupt noch zu verantworten mit Rücksicht auf das Volk, das in den chinesischen Grenzen heute lebt? Und was ist das für eine moralische und intellektuelle Leistung, dass er am Ende dieser frei und offen geführten Diskussion die breite Zustimmung findet, diesen Weg des friedlichen Kämpfens beizubehalten – trotz all der negativen Erfahrungen und auch des Drängens einer jungen Generation, möglicherweise doch endlich die Mittel der Gewalt zu nutzen, die andere längst benutzt haben! Dazu braucht man eine große Persönlichkeit. Und man braucht ein besonderes Maß an innerer Ruhe und innerem Vertrauen.
Mich hat in all unseren Gesprächen immer fasziniert, dass Seine Heiligkeit offenbar nicht den geringsten Zweifel daran hat, dass Menschen letztlich zu dem richtigen Ergebnis kommen, wenn sie die richtigen Informationen erhalten. Wir erleben dies am Beispiel, wie interessierte chinesische Kreise einige der Religionsführer des tibetischen Volkes geradezu okkupieren: Den Panchen Lama hat China zunächst entführt, dann hat es als seinen Nachfolger eine andere Person ernannt. Die Erfahrung des Dalai Lama war, so erzählt er, dass immer, wenn die Beteiligten die richtigen Lehren des Buddhismus erfahren haben, sie am Ende auch in ihrer Überzeugung dem richtigen Weg gefolgt sind. Ein solch ungeheures Maß an Optimismus und Überzeugtheit muss man erst einmal haben, um die Gelassenheit behalten zu können, ein Volk dazu zu bringen, auch unter schwersten Sorgen und unter schwerstem Druck noch friedlich zu bleiben. Es ist nicht garantiert, dass das so bleibt. Es gehört nach meiner festen Überzeugung zu den größten Irrtümern der chinesischen Führung zu glauben, dass der Tod des Dalai Lama eine Chance für die Befriedung des öffentlichen Images der Chinesen sein würde. Vielmehr liegt genau darin die größte Herausforderung für die innere Stabilität Chinas, wenn der Dalai Lama nicht mehr zur Verfügung steht: eine Vereinbarung darüber zu treffen, wie denn die weitere Entwicklung nicht nur der tibetischen Kultur, sondern in Wahrheit auch die freie Religionsausübung in einem so großen Land wie China insgesamt ermöglicht wird.
Es gibt Kollegen von uns hier in der Bundesrepublik – Frau Vollmer zum Beispiel, die langjährige Bundestagsvizepräsidentin –, die unseren chinesischen Gesprächspartnern immer wieder versucht haben zu erklären, was wir unter Konkordaten verstehen. Das ist wahrlich nicht ganz einfach. Aber es sagt etwas über das Verhältnis zwischen Staat und Religion aus; und darüber, wie beide Ebenen institutionell miteinander umgehen können. Für diesen Umgang zwischen Religionsgemeinschaften und Staat bedarf es der Menschen, die in der Lage sind, solche Verabredungen zu treffen. Und es bedarf der Autorität von Menschen, den Gläubigen diese Regeln zu vermitteln. Wenn sich eine politische Führung bewusst dieser Führer beraubt, hat sie damit nicht die Religion zerstört. Aber sie hat die Fähigkeiten der religiösen Menschen zerstört, in einen rationalen Dialog einzutreten. Der tibetische Konflikt muss weiterhin auf der Tagesordnung stehen. Und solange er auf der Tagesordnung steht, gibt es unter der Führung des Dalai Lama nur eine Antwort auf die Frage, wie dieser Konflikt zu lösen ist: durch Dialog. Aber es gibt die berechtigte Sorge, dass immer noch zu viele in China glauben, das Problem durch Vermeidung dieses Dialogs lösen zu können.
Das sehen wir in diesen Tagen wieder – oder eben auch nicht. Denn die Bilder, die Sie nicht sehen aus Lhasa, sind das Ergebnis eines nunmehr einjährigen Einreiseverbotes für Journalisten. Die Bilder, die Sie nicht sehen, sind aber keine Gewähr dafür, dass der März 2009 ein friedlicherer Monat wird als der März im vergangenen Jahr oder vor 50 Jahren. Wir wollen hoffen, dass es so ist, denn niemandem schadet jede Art von Gewalt mehr als dem tibetischen Volk. Und wir wollen alles in unserer Macht Stehende tun, um dort wo wir politisch arbeiten, alle zu beruhigen, die an Anderes denken. Aber zu sagen, dass der Tag, an dem die chinesische Armee das Land endgültig unterjocht hat – der 28. März 1959, wenige Tage nachdem der Dalai Lama, wahrscheinlich in letzter Sekunde, Lhasa verlassen hat und ins indische Exil nach Dharamsala gegangen ist –, dass nun dieser 28. März ein Tag der Befreiung sei, das wird im tibetischen Volk niemand akzeptieren. Und es wird Aggressionen auslösen: Es führt eben genau zum Gegenteil von dem, was eigentlich auf der Tagesordnung steht.
Die chinesische Regierung begleitet ja auch durchaus solche Bemerkungen, wie die von mir gemachten, mit Interesse und Aufmerksamkeit. Deshalb will ich es auch hier erneut sagen: Es steht außer Zweifel, dass es heute keine neuen Diskussionen mehr über die Grenzen Chinas geben kann. Das sagt der Dalai Lama seit bereits mehr als 20 Jahren. Es steht außer Zweifel, dass Tibet von der Verbesserung der sozialen Bedingungen und den materiellen Möglichkeiten Chinas profitiert. Auch dies sagt der Dalai Lama seit langer Zeit. Aber es bleibt das, was vorhin zitiert worden ist: Ein Volk will nicht nur essen, sondern will auch seine Geschichte leben. Man will stolz auf die Väter und Mütter und die Generationen davor sein. Ein Volk will am Ende auch schlicht und ergreifend seinen Glauben praktizieren können; und es will nicht daran gehindert werden, auch zu demjenigen zu beten, der diesen Glauben repräsentiert. Die einfachste Lösung wäre eine Autonomie innerhalb des Staatsgebietes, wie es sie in vielen Staaten Europas und anderswo längst gibt. Und die übrigens so auch in der chinesischen Verfassung verankert ist – also nichts wäre, was das Land umstürzen würde. Die Tibeter haben gerade in den letzten Monaten sehr präzise und sorgfältig formuliert, was man dem tibetischen Volk in den Schulen, auf regionaler Ebene und in all den Dingen, die nichts mit Militär, Außenpolitik oder den großen Fragen der Steuerpolitik zu tun haben, an autonomen Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen könnte. Das hat der Dalai Lama legitimiert und seinen Unterhändlern mit auf den Weg gegeben – doch es ist auf chinesischer Seite mit einem Federstrich alles weggewischt worden. Wenn es dabei bleibt, gleicht dies einem erneuten Versuch, die tibetische Geschichte aus den Überschriften der Welt zu verdrängen.
Sie treffen hier einen nach meiner festen Überzeugung zutiefst herzensguten Menschen. Sie treffen hier einen Menschen mit einer ungeheuerlichen Kraft, der auch im praktischen Leben – rund um die Welt: gestern in Venedig, heute Abend hier – ein Programm für sein Volk absolviert, das jedem, der eine gewisse Vorstellung davon hat, was das im persönlichen Leben bedeutet, höchsten Respekt abnötigt. Aber Sie treffen auch einen Menschen, der – jedenfalls solange ich ihn kenne, und Sie selbst werden das am Ende dieses Tages beurteilen können –, keinen Raum verlassen kann, ohne eine Faszination zu hinterlassen. Eine Faszination, die ihm die besondere Chance gibt, als einzelner Mensch das Schicksal eines Volkes mehr zu beeinflussen, als es den meisten von uns nicht nur nicht gegeben, sondern, Gott sei Dank, auch nicht als Belastung auferlegt ist. Deshalb braucht er unsere Unterstützung. Er braucht Preise wie diesen. Nicht für sich selbst, wahrlich nicht. Sondern um seine Mission zu erfüllen, um das Bewusstsein für die Situation des tibetischen Volkes in der Welt wachzuhalten. Darum kreist dieser Konflikt: Ob es gelingt, die tibetische Frage offen auf dem Tisch zu haben, oder ob es der anderen Seite gelingt, durch allgemeines Vergessen die tibetische Frage vom Tisch zu nehmen.
Das ist zwar zunächst eine sehr friedliche Dimension des Konflikts, aber für das tibetische Volk zugleich eine sehr existentielle. Dass der Dalai Lama in dieser Situation für die Friedlichkeit der Mittel steht, ist etwas, auf das nach meiner festen Überzeugung die ganze Welt stolz sein darf. Und es ist ein guter Grund, ihm einen wichtigen Preis zu verleihen und ihm auch für die Zukunft unsere Sympathie auszusprechen.
Herzlichen Glückwunsch zum Deutschen Medienpreis!