Migration und Nationale Identität
Roland Koch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, erschienen am 18.10.2023
Klare Entscheidungen nach Prinzipien sind gefordert. Das erfordert ein gesamtheitliches Konzept zur Zuwanderung.
Migrationspolitik ist konstant eines der wichtigsten Themen in der unserer Gesellschaft, wie man schon an der Demoskopie ablesen kann. Mit den aktuellen Ereignissen im Mittelmeer und der Situation in Italien kommt das Thema auch wieder in den medialen Mittelpunkt. Dabei ist das Thema in sachlicher Hinsicht voller unterschiedlicher Facetten und zugleich emotional eines der wichtigsten mehrheitsbestimmenden Themen moderner Demokratien. Es geht um illegale Zuwanderung, berechtige Suche nach Asyl, aber auch um Arbeitsmigration mit großer Bedeutung für ein schnell älter werdendes Land. In diesen Tagen steuern wir auf einen neuen Höhepunkt der Debatte zu. Der Deutsche Bundestag berät ein neues Zuwanderungsrecht mit deutlich vereinfachten Bleiberechts- und Einbürgerungsoptionen. Der Bedarf an ausländischen Fachkräften wird immer dringlicher und gleichzeitig dominiert das Thema eines für die Länder und Gemeinden nicht oder kaum noch verkraftbaren Anstiegs der Flüchtlingszahlen.
Die Positionierung der Parteien geschieht mit großer Vorsicht. Die Rücksicht auf die Verletzlichkeit der zugewanderten Bevölkerung als auch die Sorge um das politische Verhetzungspotential rechtfertigen das auch. Seit dem Aufstreben der offen rechtsradikalen AfD treibt die Sorge, mit klaren Positionen eher das Geschäft dieser Radikalen zu betreiben, manche um. Andererseits führt diese Ängstlichkeit vor klaren Positionen gerade zu einer Stärkung dieser Partei, die keinerlei Rücksicht nehmen will. Die Diskussion um Zuwanderung ist immer eine Diskussion um die Verschaffung von Rechten oder die Zurückweisung von Ansprüchen. Die Antworten haben häufig existenzielle Folgen für bestimmte Gruppen von Betroffenen. Dennoch oder gerade deshalb darf die Politik nicht ausweichen. Klare Entscheidungen nach Prinzipien sind gefordert, so hart das für persönliche Schicksale auch sein mag. Das erfordert jedoch auch ein gesamtheitliches Konzept zur Zuwanderung und nicht eine isolierte Betrachtung einzelner Aspekte.
Die Debatten sind ja in ihren einzelnen Aspekten nicht neu. Das Thema der doppelten Staatsbürgerschaft hatte im Jahr 1999 so große Bedeutung, dass bei dem Versuch der Einführung der regelmäßigen doppelten Staatsbürgerschaft die Sozialdemokraten ihre sicher geglaubte Mehrheit in Hessen verloren. Die Gewichte der Themen haben sich verschoben, das Potential als zentrales Entscheidungsthema für nationale und regionale Wahlen ist geblieben. Die oft angefeindete von mir vertretene Position lautete. Seinerzeit: Ja zur Integration – Nein zur doppelten Staatsbürgerschaft.
Damals wie heute ist jedoch fast unmöglich, die Debatte in einem größeren Gesamtzusammenhang zu führen und sich auf dieser Basis dann auf Lösungen und Prioritäten der einzelnen Fragen zu verständigen. So ist die Debatte, ob Deutschland ein Einwanderungsland. – also vergleichbar zu den durch Einwanderung geschaffenen Nationen wie die USA, Kanada oder Australien oder lediglich ein Land mit einer hohen Zuwanderung ist, ein Definitionsstreit, den wir uns sparen können, weil er keine praktische Bedeutung hat. Der Anteil von Mitbürgern, die im Ausland geboren wurden, ist heute in Deutschland mit 17 Prozent auf dem Niveau von Kanada (18 Prozent) und höher als in den USA (14 Prozent), nur Australien mit 29 Prozent erlebt noch eine andere Dimension. In unseren großen Städten wird heute jeweils eine Mehrheit von Kindern mit einer familiären Migrationsgeschichte in zumindest einer Eltern- oder Großelterngeneration geboren. Das wird unser Land wesentlich prägen. Und, wie kritisch wir auch auf die Erfolge der Integration der letzten Jahrzehnte schauen müssen, wir sollten uns immer vor Augen führen, dass vieles gelungen ist, jedenfalls besser als bei den meisten unserer Nachbarn. Wer die in Gewalt mündenden Spannungen in Frankreich, Belgien, auch in Spanien oder ganz besonders in den USA beobachtet, sieht, dass unser Zusammenleben keineswegs so gespalten, gewaltfördernd und frustriert ist, wie an anderen Orten.
Dennoch, die Spannungen, Sorgen und objektiven Misserfolge nehmen entgegen allen Hoffnungen zu. Das liegt an zwei unterschiedlichen Phänomenen. Zum einen haben sich Hoffnungen auf eine schnelle Integration der zweiten Generation von Zuwanderern, insbesondere bei der dominierend großen Gruppe der Migranten türkischer und arabischer Herkunft, nicht erfüllt. Hier haben sich parallele Strukturen entwickeln können, die die vor Ort, besonders in den großen Industrie-Städten, stark belasten und auch politisch relevant werden können. Zudem sind in immer neuen Schüben Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Am Ende des Jahres 2023 wird die Gesamtzahl wohl höher sein, als in den herausfordernden Jahren 2015 und 2016. Der Zuzug aus der kriegerisch angegriffenen Ukraine ist dabei nicht mitgerechnet, was politisch zwingend ist, weil jedenfalls die Folgen für Wohnungsmarkt und Bildungssysteme vergleichbar sind. Die angemessene Regulierung dieser Zuwanderung jenseits des Kriegsschutzes, sei es im Bereich des Asylrechts oder bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus anderen Gründen, ist in den vergangenen vier Jahrzehnten nicht gelungen. Das führt heute dazu, dass die politischen Parteien der Mitte das Vertrauen großer Teile der Bevölkerung in die Fähigkeit der wirksamen Steuerung verloren haben. Geht diese Entwicklung so weiter, führt dies zur weiteren Stärkung von Parteien an den rechten und linken Rändern führt.
Die Unfähigkeit, die Probleme adäquat zu bewältigen, ist wiederum kein deutsches Phänomen. Man muss sich nur Donald Trumps langen Zaun oder die Lage rund um das Mittelmeer vor Augen halten, um das zu erkennen. Dennoch kommt in Deutschland eine zusätzliche Komponente ins Spiel. Wir sind in vielerlei Hinsicht ein Land, das sich selbst nicht sicher ist und das führt dazu, dass wir uns auch nicht sicher sind, was wir Menschen, die zu uns kommen, anbieten, oder auch, was wir von ihnen verlangen. Auf den Punkt gebracht, wir schleichen um das Wort Assimilation herum. Wir sprechen von Integration und machen weder uns noch denen, die hinzukommen, klar, was damit denn konkret gemeint ist. Ich erinnere mich an politische Debatten zu Anfang des Jahrtausends, dass die Verbindlichkeit des Erlernens der deutschen Sprache zu Beginn der Schulzeit schon des Verdachts des Rassismus ausgesetzt war. Das ist heute zwar vorbei, aber die mangelnden Sprachkenntnisse auch von Kindern der zweiten und dritten Zuwanderungsgeneration sind so gravierend, dass einerseits ihre Schul- und Berufskarriere stark gefährdet ist, aber auch der Unterricht für alle anderen Mitschüler stark an Qualität verliert.
Die Entwicklungen in der Türkei – aber nicht nur dort – haben uns gezeigt, dass es offenbar unabhängig von der deutschen Staatsbürgerschaft eine sehr relevante Zahl von Bürgern dieser Nationalität gibt, die sich im Zweifel immer wieder als „Staatsbürger im Exil“ empfinden und die Konflikte ihrer immer noch empfundenen Heimatnationen nach Deutschland tragen. Zuletzt haben wir das auch an den Auseinandersetzungen der eritreischen Bürger beobachten können. Gerade in den türkischen Familien ist offensichtlich zu spüren, dass sie ihre Kinder abschotten, um sie nicht an Deutschland zu „verlieren“. So entstehen national geprägte Sportvereine, es wachsen ethnische Stadtgemeinschaften zusammen inclusive Geschäften, Ärzten und selbstverständlich Religionsgemeinschaften. Ich jedenfalls kenne kein demokratisches Land, dass auf Dauer einen solchen Zustand der nicht vollzogenen Integration konfliktfrei gestaltet. Insofern ist die in der Bevölkerung vorhandene Besorgnis über diese Entwicklungen auch keineswegs eine mangelnde Offenheit und Internationalität oder gar eine nationalistische Borniertheit, sondern vollkommen nachvollziehbar. Falls die Bürger dann zudem den Eindruck haben, die Politik wolle sie dazu erziehen, diese Probleme zu ignorieren, entsteht eine immer gefährlichere Form der Abgrenzung und Radikalität. Dazu zählt dann auch das Scheinriesen-Phänomen, dass nämlich umso mehr Radikalität auftritt, je weniger die Menschen persönlich von den Herausforderungen betroffen sind.
Die Bundesregierung scheint diese Befindlichkeiten sehr weitgehend zu ignorieren und auch in den Unionsparteien ist seit den Debatten mit Angela Merkel in der Migrationskrise 2015/16 keine gemeinsame eindeutige Position mehr vorhanden.
Nachdem ich mich viele Jahre mit der Thematik beschäftigt habe, einerseits im Mittelpunkt der Doppelpass-Debatten stand und andererseits nach wenigen Jahren als Hessischer Ministerpräsident den türkischen Integrationspreis entgegennahm, komme ich heute zu vier grundlegenden Positionen, die meines Erachtens einer offenen gesellschaftlichen Debatte und Klärung bedürfen.
Erstens. Das Ziel der Integration ist die Entwicklung zu überzeugten deutschen Staatsbürgern mit eigener Geschichte und eigenen Weltanschauungen im Rahmen der in Deutschland über Jahrhunderte gewachsenen Kultur. Sie bereichern durch Vielfalt, aber ihr neues Heimatland erwartet zu Recht, dass sie Deutsche werden und das Beste für dieses, ihr Land, erreichen wollen. Die Amerikaner haben die Gewinnung ihrer Identität immer mit einem „Melting-Pot“, also einer Art Verschmelzung beschrieben. Das deutsche Denken in den Kategorien einer „Salat-Bowl“ -, jeder bleibt wie er ist und die Mischung wird schön bunt -, ist dagegen eher eine bequeme Illusion. Die Aufnahme in die nationale Gemeinschaft der Deutschen – und genau dass ist die Staatsbürgerschaft – steht am Ende eines Prozesses der Einbindung in die Gemeinschaft und ist kein hoffnungsvoller Vorschuss. Staatsbürgerschaft bedeutet Loyalität und wir sehen schon im Zusammenhang mit den intensiven heimatbezogenen Aktivitäten türkischer Mitbürger, dass diese Loyalität nicht oder nicht leicht teilbar ist.
Daher darf die doppelte Staatsbürgerschaft nach wir vor nicht die Normalität werden, auch wenn sie häufig nicht vermieden werden kann. Sie ist eben hauptsächlich „kein idenditätspolitisches Geschenk an die Einbürgerungswilligen, sondern eines an Drittstaaten, die an einer möglichst großen Auslandsdiaspora Interesse haben“, wie Hailbronner und Weber zu Recht in der FAZ schrieben (15.12.2022). Die Gefahr der Ausnutzung von Loyalitäts- und Machtansprüchen ist eine ebenso großes Herausforderung wie die Probleme bei den mit der Staatsbürgerschaft verbundenen Schutzansprüchen, sei es der Rechtsschutz -etwa in der Türkei – oder die Nothilfe -etwa bei der Afghanistan-Evakuierung oder einer Geiselnahme im Ausland-. Der deutsche Staat kann und wird selbstverständlich im Einzelfall immer wieder entscheiden können, die doppelte Staatsbürgerschaft hinzunehmen, gerade auch wenn deren Aufgabe mit besonderen Belastungen verbunden ist. Aber sie kann nicht die erwünschte Regel sein.
Zweitens. Arbeitsmigration ist nicht das gleiche wie Zuwanderung. Zahlreiche Menschen aus vielen Ländern haben gar nicht die Absicht der Einwanderung, sie wollen für kürzere oder längere Zeit zu Erwerbszwecken nach Deutschland kommen. Das klappt immer noch nicht zufriedenstellend. Das vor einigen Jahren beschlossene Fachkräfteeinwanderungsgesetzt hat keine befriedigenden Erfolge erzielt. Der jetzige Versuch einer neuen rechtlichen Grundlage inklusive Punktesystem verdient eine Chance, löst aber die bestehenden Hindernisse keineswegs auf. Wir brauchen die ausländischen Arbeitskräfte dringend und dennoch machen wir ihnen den Weg zu uns immer noch unsinnig schwer. Wir haben mittelalterliche bürokratische Prozesse zur Visumsvergabe, die statt Stunden mit modernster Datenverknüpfung oft Monate dauert. Man muss sich nur vor Augen führen, wie gut die amerikanischen Dienststellen uns kennen, wenn wir dort einreisen. Warum schaffen wir es nicht, ein türkisches Visum ebenfalls in Minuten bewilligen zu können. Es geht aber auch um prohibitive Verweigerungen von Anerkennungen von beruflichen Qualifikationen durch berufsständische Organisationen und überzogene Erwartungen an Sprachkenntnisse. Viele ukrainische Akademikerinnen können ihre frustrierenden Erlebnisse, nur als „ungelernte“ Arbeitskräfte arbeiten zu können, beitragen. Die CDU/CSU hat vorgeschlagen, für diese Arbeitsmigration eine eigene Behörde zu schaffen. Angesichts des völligen Zusammenbruchs der traditionellen Ausländerbehörden (Stichwort: nächtliches Campieren) und unseres dringenden Fachkräftebedarfs könnte das ein wichtiger Schritt sein.
Drittens. Deutschland und Europa werden sich mit aller gebotenen Härte gegen jeden Versuch wehren müssen, ohne Erlaubnis nach Europa und Deutschland einzureisen. Die aktuellen Fernsehbilder aus Lampedusa zeigen uns wieder, dass für die meisten jungen Männer, die sich auf die gefährliche Reise begeben haben, die Erreichung europäischen Bodens fast gleichzusetzen ist mit der Gewissheit des Bleibens. Unsere aus den schlimmen Erfahrungen der Hitler-Zeit geborene rechtliche Ausgestaltung des Zuwanderungsrechts ist so nicht mehr haltbar. Es spricht heute sehr viel dafür, dass auch das Recht auf Asyl in ein durch Bundesgesetz zahlenmäßig zu begrenzendes Kontingent umzuwandeln ist, was ja in diesen Tagen viele Zeitzeugen vom ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck, über Siegmar Gabriel bis zur früheren Bundestagsabgeordneten der Grünen, Marieluise Beck, vertreten. Das ermöglicht jede gebotene Offenheit und – beinahe – jede gewünschte Zahl, aber beendet dieses entwürdigende Pokerspiel, in dem jeder ein Gewinner ist, den ein Schlepper über die europäische oder insbesondere die deutsche Grenze gebracht hat. Wenn kein Aufenthalt im Schutz endloser Gerichtsverfahren mehr möglich ist und daher auch Abschiebungen nicht durch Prozesse verzögert werden können, entfällt ein entscheidender Grund, Schlepperbanden zu bezahlen und der illegale Zuwanderungsdruck wird sinken.
Im gleichen Zug könnten dann auch in den betroffenen Ländern zeitlich befristete Arbeits-Visa ausgestellt werden. So wie Gastarbeiter von 60 Jahren ohne spezifische Kenntnisse die deutsche Industrie mit aufgebaut haben, hat die Wirtschaft auch heute einen erkennbaren Bedarf an einfachen Arbeitskräften. Ob das dann vereinbar ist, muss man sehen. Aber so entstünde eine Perspektive für Menschen aus den betroffenen Ländern und zugleich für uns, ein bedeutendes Stück Kontrolle zurückzugewinnen. Ein solches Verfahren wäre ganz sicher auch die Basis für die Bedingung gegenüber den besonders betroffenen Ländern, Arbeitsmigration mit der sofortigen Wiederaufnahme illegaler Einwanderer zu verbinden.
Ein hartes Grenzregime schließt Zurückweisungen an den europäischen Außengrenzen ein. Die Industrie der Rettungsschiffe dient leider den Geschäften der Schlepper und bei Anwendung des Prinzips strikter Zurückweisung hilft sie keinem der Betroffenen. Solche humanitären Rettungskonzepte sind nur dann vertretbar, wenn die Schiffe die Schiffbrüchigen an den jeweiligen Ausgangsort ihrer Bootsfahrt zurückbringen. Ich hoffe, dass solche Überlegungen schon aus Gründen der Mitmenschlichkeit jedem von uns schwerfallen. Aber die Wirksamkeit dieser Maßnahmen, das Ende des Aufnahmedrucks in den Kommunen und die Entschlossenheit der Politik sind die Voraussetzung dafür, dass eine Akzeptanz der Bevölkerung für die Anstrengungen der Integration politisch möglich wird. Und auch das ist im Interesse der Menschlichkeit.
Viertens. Denn dieser Anstrengung wird es bedürfen. Die Schaffung einer sich immer weiterentwickelnden nationalen Gemeinschaft erfordert, Geduld, Toleranz, Solidarität und sehr viel Geld. Wir müssen erreichen, dass das normale Miteinander in unserem Land auch eine schnelle und chancenfördernde Integration in das soziale und wirtschaftliche Leben bedeutet.
Das beginnt mit der Sprache. Hier liegt die Verantwortung zuallererst bei den neuen Mitbürgern. Integration und Teilhabe gelingen nur, wenn Eltern mit ihren Kindern zuhause auch deutsch sprechen. So vorteilhaft ein bilinguales Aufwachsen sein mag, jedenfalls gehört die deutsche Sprache wegen der Kinder in jede dauerhaft in Deutschland lebende Familie. Denn die Kinder sollen es hier ja mal besser haben. Es gibt aber auch die Verantwortung des Staates. Alle Schulen müssen so ausgestattet werden, dass schnell Deutsch gelernt wird. Kinder ohne ausreichende Sprachkenntnisse in einer normalen Klasse dürfen nicht zugelassen werden. Die Jugend- und Sozialarbeit in den Schulen und den Gemeinden muss aus dem Schatten heraus in eine zentrale Rolle. Das wird Lehrkräfte, Räume und auch Bürgerengagement bis zur „Vorlese-Oma“ erfordern. Stadtplanung und Wohnungsbau spielen eine zentrale Rolle. In Städten wie Frankfurt ist es durch große Kraftanstrengung immer wieder vermieden wurden, dass ganze Stadtteile bestimmte ethnische Identitäten annahmen und die Zivilgesellschaft sich faktisch nicht mehr begegnen musste. Wo dies nicht gelungen ist, sind Abkopplung von den nationalen deutschen Sorgen und Entwicklungen, aber auch eigene Hierarchiesysteme bis zur Clan-Bildung die Folgen. Das muss wieder aufgelöst werden.
Es gibt extreme Erfolge von Unternehmensgründern mit Migrationshintergrund. Da bedarf es keiner spezifischen Hilfen, aber es wäre gut, wenn Deutschland seine Bedingungen für Unternehmensgründer so attraktiv machen würde, dass diese Leistungsträger nach einer guten Ausbildung nicht Deutschland verlassen wollen. Gleichzeitig muss klar bleiben, dass das Leben mit Bürgergeld und Arbeitsförderprogrammen keine Option ist, weil Arbeit und Ausbildung ein soviel besseres Leben ermöglicht. Üppige soziale Förderung ist eben gerade bei jungen Erwachsenen oft keine wirkliche Unterstützung fürs Leben. Zu dieser Einladung zur Anstrengung gehört auch die Ausbildung der Stärken, die aus dem Migrationshintergrund folgen. Ich verstehe noch immer nicht, warum türkisch keine Fremdsprache an deutschen Schulen ist, wie das so viele andere Sprachen bis zum Chinesisch auch sind. Berufliche Perspektiven als Vermittler in der globalen Gemeinschaft sind Wachstumsförderer, und zwar sowohl für das Selbstbewusstsein als auch für die Volkswirtschaft.
Kommunen werden Hilfe brauchen für den Bau von Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen, sie werden Gemeinschaftseinrichtungen dem Wachstum der Bevölkerung und veränderten Bedürfnissen anpassen müssen. Genau dort liegen die Aufgaben einer ernsten Anstrengung für eine neue Gemeinschaft.
Über die Kosten der Integration im Gesamten kann man nur spekulieren. Allein die Kosten für Asylbewerber und Flüchtlinge im Bundeshaushalt betragen rund 16 Milliarden Euro. Durch die Aufwendungen von Ländern und Kommunen kann man getrost das Doppelte ansetzen. Alle anderen Leistungen für die Unterstützung der Integration der mit Migrationserfahrung in Deutschland lebenden Menschen, insbesondere der Kinder, lassen sich nur schätzen. Aber dass man die gesamten Aufwendungen auf deutlich mehr als 50 Milliarden Euro im Jahr beziffern muss, ist sicher eher untertrieben. Effizient eingesetzt ist das schon eine ganze Menge, aber wenn es fünfundzwanzig Prozent mehr sein müssen, um die Aufgabe nicht scheitern zu lassen, dann müssen wir das woanders einsparen. Die Größe dieser Herausforderung zeigt aber auch, wie unehrlich es ist, die Zahl der jeweils neuen Zuwanderungen als unerheblich zu bezeichnen . Die Aufnahme von Menschen, die wir in unser Land integrieren wollen, kann eine gewisse Größenordnung nicht übersteigen, wenn nicht die materielle, aber auch die emphatische Integrationskraft nicht überschritten werden soll. „Unser Herz ist weit, aber unsere Möglichkeiten sind begrenzt“ hat Alt-Bundespräsident Gauck zurecht festgestellt.
Viele, die sich an diesen Diskussionen beteiligen und sie gleichzeitig so gerne vermeiden würden, fürchten um den Zusammenhalt unserer freiheitlichen und friedlichen Gesellschaft. Nationale Identität ist ein selbstverständlicher Wunsch jeder Gesellschaft, jedenfalls der meisten Menschen. Man kann und sollte diesen Wunsch nicht geringschätzen oder gar als gestrig oder rassistisch verdrängen. Man muss ihn vielmehr mit den Phänomenen der Migration in Übereinstimmung bringen. Die Gefahr ist aber bei einer Verdrängung des Problems und einer überzogenen Polarisierung gleich groß. Das zeigen die kollabierenden Kräfte der Kommunen und die demoskopischen Daten im Hinblick auf kommende Wahlen. Dass die AfD derzeit in vier Bundesländern als stärkste Kraft gemessen wird, muss aufschrecken. Mehr noch sollte aber die frustrierte, irritierte oder aggressive Stimmung in so vielen sonst völlig gemäßigten Bevölkerungskreisen als Verpflichtung zum überlegten konzeptionellen, aber eben auch konsequenten, Handeln empfunden werden.