Die deutsche Politik trägt den Stempel des Einflusses von Wolfgang Schäuble seit einem halben Jahrhundert. Das gilt auch für seine Partei, die CDU. Schäubles langjähriger Parteikollege Roland Koch denkt anlässlich seines Todes an ein Leben im Dienste der Verantwortung zurück.
Es war im Jahr 1979, nach meiner ersten kurzen Rede auf einem CDU-Bundesparteitag, als Wolfgang Schäuble mich anrief und mir sagte, Helmut Kohl habe ihn gebeten, mich einmal nach Bonn einzuladen. Zu Gast beim Parlamentarischen Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, das war für einen gerade frisch gewählten Kreisvorsitzenden der CDU schon etwas Besonderes. Für mich persönlich war es der Beginn eines jahrzehntelangen Dialogs zwischen uns, viele Jahre dann auch als Amtsträger, immer aber zwischen zwei Menschen, die sich gegenseitig vertrauten, eine gemeinsame grundlegende Idee von den Zukunftshoffnungen für Deutschland und Europa zu haben.
Wolfgang Schäuble hätte seinen Dienst am deutschen Volk beinahe mit dem Leben bezahlt. Er blieb immer von dem schrecklichen Attentat gezeichnet, auch wenn es seine Leistungsfähigkeit nur sehr selten beeinträchtigt hat. Niemand musste mit ihm über Fanatismus reden, sein Wort hatte die Balance zwischen Eindeutigkeit und Bestimmtheit auf der einen und Empathie und Kompromisswillen auf der anderen Seite. Es gab bis zuletzt keinen Politiker einer demokratischen Partei, der nicht mit ihm reden wollte. Den einen galten die Gespräche als unwiederholbare intellektuelle Anregung und Herausforderung, den anderen als Beweis der eigenen Fähigkeit zum Diskurs.
Seine großen Erfolge, seien es der Einigungsvertrag nach dem Fall der Mauer, seine entscheidende Rede zur Bestimmung Berlins als Bundeshauptstadt oder seine mit der „schwarzen Null“ zum deutschen Markenzeichen gewordene solide Haushaltspolitik, immer war es seine zu Kompromissen führende Geradlinigkeit, die sein Werk zum Erfolg machte.
Schäuble war ein vollendeter Techniker der Macht. Er kannte alle Wege, alle Personen und alle Kniffe. Ihn zu unterschätzen, war immer ein Fehler. Zugleich war er risikofreudig und damit verletzlich. Seine Ungeduld war nicht der beste Ratgeber. Aber es gibt niemanden, der ihn als Opportunisten bezeichnen würde. Er unterschied sich immer von der großen Zahl von Politikern, die Meinungsumfragen als Gebrauchsanweisungen benutzen. Für ihn waren sie Bestandsaufnahmen, er maß die Distanz zu seinen Zielen und entwarf Strategien, gab Interviews und hielt Reden, um diese Distanz zugunsten seiner Überzeugungen zu verringern. Sein letztes Interview an Weihnachten mit dem Hinweis, dass unser Wohlstand uns entgegen dem Zeitgeist mehr und längere Erwerbsarbeit abverlangen wird, ist Beleg und Vermächtnis zugleich.
Wolfgang Schäuble hatte Visionen, und er war nicht bereit, sie als Träume zur Seite zu schieben. Das galt für das Lebensglück der Freiheit. Und es galt für Europa. Mit dem Schäuble/Lamers-Papier im Jahr 1994 und der Forderung nach unterschiedlichen Geschwindigkeiten im Integrationsprozess Europas setzte er zwei Wegmarken. Zum einen hat dieser Kontinent ohne bessere Integration keine Chance im globalen Wettbewerb, und zum anderen kann und darf man auch unter dem großen Dach Europas nicht auf den Letzten warten. Die zögerliche Haltung Deutschlands gegenüber den Initiativen Macrons, der es auch in heutiger Zeit riskierte, einen proeuropäischen Wahlkampf zu führen, hat ihn bis zuletzt besorgt gemacht. Der Vertrag von Aachen und das Deutsch-Französische Parlamentsabkommen von 2019 waren eine Brücke von der Vision zu Realität, ganz nach seinem Geschmack.
Die deutsche Politik trägt den Stempel des Einflusses von Wolfgang Schäuble für fast ein halbes Jahrhundert. Das gilt auch für seine Partei, die CDU. Auch wenn sein Vorsitz kurz war und unter keinem günstigen Stern stand, geprägt hat er sie wie kaum ein anderer. Dass das letzte Gespräch der Konkurrenten um die Kanzlerkandidatur 2021 mitten in der Nacht in seinem Büro stattfand, ist ein bemerkenswerter Beleg für seine Rolle und Bedeutung.
Vielleicht hätte er in der zweiten Hälfte der 90er Jahre Kanzler werden können. Kohl sah in ihm den Freund und zugleich den Politiker, der nicht nur Freunde um sich versammelt hatte. Das Zerwürfnis der beiden kongenialen Nachkriegspolitiker war für Schäuble eine Last, für Deutschland möglicherweise eine verpasste Chance. Lotse in schwierigster Zeit, verlässliche Wegmarke über Jahrzehnte, das war es auf jeden Fall.
In seinem Buch „Und der Zukunft zugewandt“ (1994) schrieb Wolfgang Schäuble über den Beruf des Politikers: „Politik kann keine modelltheoretischen Entscheidungen treffen und durchsetzen, muss sich vielmehr immer neuen Bedingungen stellen. Sisyphos muss weiter den Stein den Berg heraufrollen. Mitunter wird der Fels zurückrollen (…) Entscheidend aber ist, dass Sisyphos nicht gleichsam unter den Stein gerät, sondern der Aktive bleibt, der sich immer wieder aufs Neue zur Tat durchringt.“ Er wäre zufrieden, wenn wir ihn so in Erinnerung behalten.
Erschienen im Cicero am 27.12.2023.
Bildung
// Energie
// Finanzen
// Flughafen Frankfurt
// GM
// Interview
// Opel
// Schule
// Steuerpolitik
// Wirtschaft
M | D | M | D | F | S | S |
---|---|---|---|---|---|---|
1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 |
8 | 9 | 10 | 11 | 12 | 13 | 14 |
15 | 16 | 17 | 18 | 19 | 20 | 21 |
22 | 23 | 24 | 25 | 26 | 27 | 28 |
29 | 30 | 31 |