Heute in Europa leben zu dürfen ist ein Glück. Wir müssen entscheiden, ob wir die Kraft und den Willen haben, in dem großen globalen Dorf der Zukunft unsere Kräfte zu bündeln, oder ob wir in kleinem Karo die Zukunft verspielen.
Ein Namensbeitrag von Roland Koch in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. Juli 2016
Die Tür ist zu. Mit einem lauten Knall, doch ziemlich überraschend zugeschlagen. Auf bei- den Seiten sitzen und stehen Menschen mit ratlosen Gesichtern und rasenden Herzen. Die einen haben die Tür aus Angst zugeschlagen, aber jetzt ist die Angst nicht weg, sie ist nur überraschenderweise allgemein. Auf beiden Seiten der Tür sucht man Halt. Einige Naive fragen schlicht, ob man noch mal von vorne anfangen könnte. Und wie so häufig nach der Scheidung eines Ehepaars in mittleren Jahren fragen sich alle, ob das wirklich sein musste.
Für einen politischen Essay ist das ein ziemlich schmalziger Anfang. Aber das, was wir so schlicht „Brexit“ nennen, ist Gefühl, Leidenschaft, Geborgenheit und Entfremdung. Es geht um das wenige Jahrzehnte alte Projekt, für die Generationen unserer Kinder und Enkel Raketenhagel und Bomben zu verhindern, Angst vor Nachbarn in ehrliche Sympathie zu wandeln und einer großen, globalen und schwer übersehbaren Welt Zusammenhalt und Optimismus entgegenzusetzen. Musiker, Literaten oder Maler können sich das Leben jenseits dieser europäischen Gemeinschaft schon längst nicht mehr vor- stellen. Millionen Arbeitnehmer sprechen täglich ausschließlich oder zumindest teil- weise eine ausländische Sprache – meistens Englisch – und sehen die ganze Welt als ihre Kunden. In Europa kennen die unter Vierzigjährigen deutsche Grenzen nur noch aus Erzählungen. Aus der Poesie des gemeinsamen Europas ist längst viel mehr Wirklichkeit geworden, als man in diesen Tagen lesen und hören kann.
Wer ein wenig abseits des Pulverdampfs des aktuellen Durcheinanders der englischen Scheidung steht, quält sich mit Antworten auf die so häufig gestellte Frage, was davon so kommen musste, warum und wie es nun weitergeht. Jetzt wird eine Konferenz die nächste Krisensitzung jagen, es wird Drohungen und Verhandlungen geben, Zeitpläne, Ausstiege und angehaltene Verhandlungsuhren. Die krisenerfahrene Bundeskanzlerin nimmt erst einmal Hektik und Hyperaktionismus aus der Angelegenheit. Alle wollen Ruhe schaffen und haben dennoch gerade damit gar keine andere Wahl, als den Ärger, die Frustration und die Ungewissheit zu verlängern. Erst der Austrittsantrag wird Klarheit über den Anfang des Ausstiegs schaffen. Aber das ist nicht das Entscheidende.
Die Politik dieser Tage wird dem Geist von Churchill, De Gasperi, Adenauer und de Gaulle, den Vätern des sich vereinigenden Europas, nicht gerecht. Sie hat wesentliche Grundfragen nicht beantwortet, sich hinter bürokratischen Verfahren verschanzt und die emotionale Klammer zerstört oder zumindest auf dem Dachboden verstauben lassen. Wir müssen beobachten, wie sich Eliten und Bevölkerung voneinander entfernen. Nicht nur in Großbritannien ist die EU, durchaus von manchem Politiker befördert, zum Blitzableiter meist hausgemachter Unzufriedenheit gemacht worden. Die faszinierende Erzählung von Europas Zukunft wird nicht mehr gehört. Politik und Gesellschaft müssen aus diesem Desaster Lehren ziehen und handeln.
Beginnt man die Suche nach den Ursachen dieser europäischen Zerrüttung, dann ist wahrscheinlich der dramatischste Irrtum der, dass die Beseitigung von nationalen Grenzen bedeute, dass Grenzen überflüssig und sinnlos geworden seien. Eine grenzenlose Welt war aber immer eine gefährliche Illusion. Seit Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert moderne Staaten auf der desillusionierenden Erkenntnis aufbaute, dass „der Mensch des Menschen Wolf“ ist, wissen wir, dass trennende Grenzen ihre Ambivalenz haben. Sie schützen nach außen, und sie geben im Inneren ein Gefühl der Sicherheit. Diese Erkenntnis ist nicht nationalistisch, auch wenn sie zum Zweck des Nationalismus missbraucht werden kann. Der Nationalist überhöht sich und ist in der Gefahr, den Nachbarn zu verachten. Der Patriot, der selbstbewusst genug ist, den Nachbarn zu achten, wird die Welt eher verstehen und gestalten als der staatenlose Internationalist, der betäubt von der Vielfalt immer dazu neigt, seine Heimat zu einer Ideologie zu stilisieren.
Konkret: Wer die Binnengrenzen Europas unbedeutend halten will, der muss die Außengrenzen Europas entschlossen festigen. Die Flüchtlingskrise des vergangenen Jahres hat den Europäern gezeigt, dass die Politik diese Aufgabe zurzeit nicht leisten will oder nicht leisten kann. Das unkontrollierte Überrennen der europäischen Außengrenzen hat in allen Nationen Europas die Bereitschaft zerstört oder zumindest erheblich beeinträchtigt, die eigenen, nationalen Grenzen aufzugeben. Das unkontrollierte Einwandern nach Deutschland war illegal und wahrscheinlich verfassungswidrig. Es war aber auch eine Folge der Unfähigkeit, Außengrenzen – auch mit der notwendigen Härte – zu sichern.
Lehre 1: Wer will, dass die Bürger Europas als eine Gemeinschaft leben sollen, der muss ihnen die Sicherheit geben, dass die Gemeinschaft der Staaten entschlossen und in der Lage ist, auf lange Zeit die Grenzen zu schützen – was immer dafür notwendig ist.
Eine Frontex-Grenzschutztruppe mit einigen zehntausend Polizisten und Soldaten unter europäischem Kommando wäre der erste Schritt. Er würde auf große Zustimmung stoßen. Und wenn nicht alle sofort mitmachen, wäre doch eine gemeinsame, voll integrierte Grenzschutzorganisation mit Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien und Griechenland ein historischer Anfang.
Die Grenze hat aber auch eine wesentliche Gestaltungswirkung für die Gemeinschaft nach innen. Wen wollen wir bei uns haben, und was erwarten wir von den einzelnen Bürgern der Gemeinschaft? Identität eines Volkes ist nichts Falsches oder gar Schlimmes. Kein normaler Mensch kann sich die ganze Welt selbst erklären. Rituale und Traditionen sind nicht von gestern, sie schaffen Verbindlichkeiten und Vertrauen, sie erlauben es, sich einzufügen. Ohne sie ist die Zukunft ein zerstörerisches Gegeneinander.
In Europa sind christlich-jüdische Werte, die daraus entstandenen Traditionen und Rituale die Statik des gemeinsamen Hauses. Das kann man guten Gewissens auch Leitkultur nennen. Kein noch so gut begründetes Toleranzgebot gibt das Recht, dieses Primat zu relativieren. Bei Anerkennung dieses Fundaments hat aber auch jeder Mensch anderen Glaubens, anderer Überzeugung oder anderer Disposition unbedingten Anspruch auf Respekt. Zahlreiche Bürger in Europa haben den Eindruck, dass ihnen die Möglichkeit genommen worden sei, in eigener Souveränität das Verhältnis von Identität und Fremdheit in ihrem Land selbst zu bestimmen. Regierungen aber, denen man genau das nicht mehr zutraut, verlieren ihre Mehrheit, ob in Polen, Österreich oder Frankreich.
Lehre 2: Europa ist mehr als ein zufälliger Treffpunkt verschiedenster Kulturen und Erfahrungen. Europa ist weltoffen und zugleich etwas ganz Bestimmtes. Wenige auf der Welt leben und empfinden ganz genauso wie wir. Das ist wunderbar. Aber wir wollen selbstbewusst darauf bestehen, hier genauso auch in Zukunft zu leben. Oder um es trivial zu sagen: Wer in Deutschland aus einem „Weihnachtsmarkt“ einen „Sternenmarkt“ macht, der provoziert Abschottung und Nationalismus. Auch diese Lehre wird große Zustimmung finden.
Neben der unabdingbaren Berücksichtigung dieser Grundeinstellung vieler Bürger gibt es auch einen Bedarf an präzisen Entscheidungen. Das Votum der Briten ist von der Ablehnung eines möglichen Beitritts der Türkei zur Europäischen Union nicht unmaßgeblich mitgeprägt worden. Dennoch werden in diesen Tagen in Brüssel in der Tat neue Verhandlungskapitel eröffnet. Dabei weiß jeder europäische Politiker, dass es in keinem Land der EU für einen solchen Beitritt eine Mehrheit gibt. Die überwiegende Zahl der Bürger spürt, dass eine belastbare Gemeinschaft voraus- setzt, dass es ein emotionales, kulturelles und damit auch religiöses Mindestmaß an gemeinsamem Fundament geben muss, damit das Vertrauen entsteht, das nötig ist, um Grenzen dauerhaft aufzugeben. Wer die Türkei ein wenig kennt und wer das Land in diesen Tagen beobachtet, der sieht, dass diese Voraussetzungen nicht gegeben sind.
Lehre 3: Der Plan, die Türkei in die EU aufzunehmen, muss aufgegeben werden, schon Verhandlungen über dieses konkrete Ziel können die Gemeinschaft zerstören. Zugleich muss die Türkei ein dauerhaft privilegierter Partner werden. Das wird natürlich nicht einfach. Angela Merkel musste erfahren, welchen Aufwand es bedeutet, Präsident Erdogan das Gesicht wahren zu lassen. Aber letztlich zeigen alle seine Schritte hin zu einer religiös dominierten Demokratie doch auch, dass er sich den Bedingungen einer Vollmitgliedschaft in der EU auch nach Lage seiner Interessen gar nicht anpassen kann.
In dieser Frage eröffnet der Brexit mitten in dem europäischen Desaster ausnahmsweise sogar spannende neue Perspektiven. Großbritannien wird das Referendum nicht ignorieren können und austreten. Aber niemand auf beiden Seiten des Ärmelkanals will dort eine starre WTO-Grenze sehen. Also müssen Lösungen im Rahmen der Europäischen Freihandelszone (Efta) gesucht werden. Wenn also das große Vereinigte Königreich Efta-Mitglied werden würde, wie es Norwegen oder die Schweiz heute schon sind, dann wäre das keine Notlösung, sondern ein sinnvolles politisches Konzept für beide Seiten. Und es würde der Türkei auf Augenhöhe mit der Nuklearmacht Großbritannien den idealen Platz an der Seite Europas ermöglichen. Wir würden angesichts der aktuellen Optionen wenig Widerstand in Europa gegen einen solchen Weg sehen.
Erst wenn wir diese Lehren, die nach meiner Überzeugung von der überwältigenden Mehrheit der Europäer geteilt würden, beherzigen und klar sagen, wer und was die Gemeinschaft der europäischen Nationalstaaten ausmacht, erst dann können wir uns wieder den inneren Herausforderungen stellen. Die Selbstvergewisserung der Nationalstaaten ist die Voraussetzung, über Institutionen, Vertiefung oder Erweiterung zu sprechen. So schwer es mir bei dem Bild vom „europäischen Haus“ fällt: Man muss anerkennen, dass ohne diesen Schritt alle Zukunftspläne für ein engeres Europa nur Wasser auf die Mühlen der Gemeinschaftsgegner sind.
Natürlich werden bei all diesen Turbulenzen wirtschaftliche Fragen die Politik weiter treiben. Schon wenige Tage nach dem Brexit können wir ja erleben, wie die Frage der Stabilität der italienischen Banken wieder den Börsenindex beherrscht. Auch wenn Friedenssicherung und internationaler Einfluss durch Größe an Bevölkerung und Wirtschaftskraft wichtige Elemente einer europäischen Zukunft sein werden – ohne eine Wohlstandsvision wird es keine Bereitschaft zur Akzeptanz transnationaler Entscheidungen geben. Hier droht Europa an seinem Erfolg zu leiden, denn es wurde in den zurückliegenden Jahrzehnten so monumental viel erreicht. Genau hier steht ja auch der Katzenjammer der „Brexiteers“ zu befürchten, wenn sie merken, dass Isolation keine neuen Arbeitsplätze und keinen sicheren Wohlstand bringt. Die Globalisierung wird auch in den kommenden Jahren zu Verwerfungen, Wohlstandsverschiebungen und Umbrüchen führen. Das können wir Europäer nicht ändern, denn die Kontinente der Welt, die sich jetzt mit einer eigenen Wohlstandsvision entwickeln, lassen sich nicht aufhalten.
Aber das bedeutet nicht, dass es den Menschen in Europa schlechtergehen muss. Eltern können auch in Zukunft hoffen, dass es ihren Kindern besser oder bei heute schon erheblichem Wohlstand mindestens genauso gut gehen wird wie heute. Das erfordert allerdings Anstrengungen und politische Entscheidungen. Von der Lissabon-Strategie aus dem Jahr 2000 und dem vollmundigen Versprechen, die „wettbewerbsfähigste Region der Welt“ zu werden, sind nur Enttäuschungen übrig. Wir haben uns in einem Wirrwarr von Standards verlaufen, die tatsächlich Wachstum strangulieren und die Arbeitskräfte an den falschen Stellen halten.
Die überzeugten Europäer, ob in Brüssel oder den nationalen Hauptstädten, haben ihre Arbeit nicht gemacht. Das Einwandern in Sozialsysteme ist zu Recht auch innerhalb Europas unerwünscht. Aber warum darf denn nicht schon längst jeder Europäer seine Kranken- und Rentenversicherung bei jedem Umzug innerhalb der EU mitnehmen? Es muss unbedingt eine gegenseitige Anerkennung von allen akademischen Abschlüssen geben – wobei wir Deutsche nicht gut reden haben, denn hierzulande kann man ja nicht einmal mit der Lehrerausbildung in Bayern in Nordrhein-Westfalen Lehrer werden. Funkfrequenzen, der kostbarste Rohstoff der kommenden Jahrzehnte, müssen europaweit vergeben werden. Europa und Nordamerika müssen trotz aller Ressentiments ein gemeinsamer Markt werden. Zusätzliche europäische Investitionen müssen in grenzüberschreitende Infrastrukturprojekte fließen, seien es Straßen, Eisenbahntrassen, Energienetze oder Telekommunikationsstrukturen.
Lehre 4: Ohne eine schnelle und überwiegend angebotsorientierte Wachstumsinitiative in Europa fressen die Angst und die Arbeitslosigkeit den Gedanken des gemeinsamen Europas auf. Da wird es manche Diskussion in Europa geben, aber unter dem aktuellen Druck wird man zu einer Einigung kommen.
Selbst wenn auch das noch gelänge, wäre Europa immer noch am Wanken. Denn das Thema Euro bleibt auf der Tagesordnung. Viele Ökonomen zweifeln nach wie vor am Konzept einer multinationalen Währung. Wenn derzeit eine nachhaltige weitere Vertiefung der europäischen Integration nicht möglich ist, dann stärkt das diese Zweifel, und jedes beliebige Ereignis kann die Kraft entfalten, den Druck der Spekulation gegen den Euro neu anzufachen.
Die gemeinsame Währung ist ein politisch-ökonomisches Produkt. Aus der Sicht Helmut Kohls war und ist die gemeinsame Währung der entscheidende Faktor, der die Vision eines gemeinsamen friedlichen und wohlhabenden Europas unumkehrbar macht. Das Ziel ist nur durch permanente Kompromisse, auch Kompromisse mit der reinen ökonomischen Theorie, erreichbar. Die gemeinsame Währung ist gerade für Deutschland ein großer Vorteil. Deshalb erwarten andere aber, dass wir Deutsche auch bereit sind, für diesen Vorteil zu bezahlen, sowohl mit Duldsamkeit als auch mit Geld. Das kann und muss man aushalten, sonst ist Europa am Ende, und die Konsequenzen wären weit fürchterlicher als die des Brexits. Es ist eine wirklich herausfordernde Aufgabe, unter den beteiligten Staaten die Grenze zwischen der Bereitschaft zu solidarischem Handeln auf der einen und zu zukunftssichernder Disziplin auf der anderen Seite genau auszuloten. Die Bürger Deutschlands sind bereit, Lasten zu tragen. Aber sie lassen sich nicht ausbeuten und für dumm verkaufen. Politik mit immer höheren Schulden ist und bleibt ein Verbrechen an der nächsten Generation. Auch wenn es in diesen Tagen wieder von der linken Seite anders zu hören ist: Das Verteilen von Subventionen begründet keine Gemeinschaft.
Lehre 5: Das Gerangel um die Einhaltung des Währungsvertrages muss ein Ende haben. Alle müssen wissen, dass die Währungsunion zerfällt, wenn die von der Europäischen Zentralbank eingeforderten strukturellen Reformen auf Dauer unterbleiben. Für diese ist jedes Land selbst und allein verantwortlich. Das wird Streit geben, und der muss durchgestanden werden. Diese, oft mit Deutschland verbundene, unbequeme Anpassung an ökonomische Realitäten werden viele in Europa als Last empfinden. Da fällt es leicht, alles auf „Brüssel“ zu schieben, so unwahrhaftig das ist. Die Anpassung wird nur gelingen, wenn Europa den Mut aufbringt, den Kurs zu ändern und die immer mehr alle Lebensbereiche gängelnde Vereinheitlichungssucht abzulegen.
Die Abkehr von dem Gedanken, dass der einheitliche Markt detailgenaue Regelungen fast aller Lebensbereiche erfordert, muss kraftvoll und sichtbar sein. Edmund Stoiber, ganz sicher einer der besten Kenner der europäischen Bürokratie, hat dieser Tage zu Recht darauf hingewiesen, dass in den Bereichen Umwelt- und Verbraucherschutz, Katastrophenschutz, Gesellschafts- und Arbeitsrecht eine erhebliche Rückübertragung auf die Nationalstaaten kein Problem wäre. Glühbirnen ab- schaffen, Staubsauger sparsamer machen oder immer neue Werbeverbote mögen ja noch so gute Ziele haben, aber Europas Bürger wollen das einfach zu Hause entscheiden. Und davon würden die Welt und auch Europa nicht zusammenbrechen.
Lehre 6: Nur durch den Rückzug der europäischen Regulierung aus Randbereichen der Gestaltung Europas und eine entsprechende Stärkung der nationalen Parlamente kann die Europäische Union Autorität und Ansehen zurückgewinnen. Die Zustimmung zu diesen Schritten würde jenseits der Lobbygruppen überwältigend sein.
Diese sechs Lehren könnten eine Arbeitsgrundlage sein. Aber selbst wenn sie, sicher gegen vielfältige Widerstände, beherzigt würden, wäre Europa noch nicht über den Berg. Parteien jenseits der Mitte werden in vielen Nationen ihre Polemik nicht beenden. Die Welt wird unübersichtlich bleiben. Angesichts des Wirrwarrs von Ereignissen und Einflüssen werden weiter Sündenböcke gesucht. Und zurzeit steht da die EU hoch im Kurs.
Das englische Referendum hat uns auch dafür ein Bild gegeben. Die „Alten“ erzählen ihren Kindern nicht mehr mit leuchtenden Augen vom Frieden, der Freiheit, dem selbstgeschaffenen Glück und der stolzen Geschichte Europas. Churchill ist stumm. Vielmehr sehen wir jetzt erste schockierte „Junge“, die sich von den Alten um die Zukunft betrogen fühlen, die sich ihre Zukunft erkämpfen möchten, für die Freiheit von Menschen, von Gütern und Dienstleistungen Teil der Träume und nicht der Ängste sind.
Die Kampagnenplaner der „Remain-Kampagne“ haben gedacht, für den Verbleib Großbritanniens in Europa mit dem „Project Fear“ werben zu können. Welch ein fataler Irrtum. Ich streite für dieses Europa, weil ich unsere Stärken sehe. Unsere christlich-jüdisch geprägte Überzeugung, dass der einzelne Mensch die volle Verantwortung vor Gott und seinen Mitmenschen trägt, macht sein Leben einzigartig. Wir Europäer haben mit dem unantastbaren Recht jedes Einzelnen, sein eigenes Glück zu suchen und zu gestalten, ein Unterscheidungsmerkmal gegenüber dem weit überwiegenden Teil der Menschheit. Das macht uns nicht besser, aber speziell. Daraus wachsen Chancen, wenn wir unsere Art zu leben in der Welt behaupten können.
Glücklicherweise wird die nichteuropäische Welt wohlhabender und selbstbewusster. Wir können ihr nützlich sein. Unsere liberale Lebensordnung ist kompliziert, aber sie befähigt uns auch, das Komplizierte und Vielfältige zu mögen und zu gestalten. Das ist eben auch sehr speziell. Im durch Erfolg und Leid gehärteten Europa heute leben zu dürfen ist ein Glück. Wir müssen entscheiden, ob wir bei allem Individualismus die Kraft und den Willen haben, in dem großen globalen Dorf der Zukunft unsere Kräfte zu bündeln, oder ob wir in kleinem Karo die Zukunft verspielen. Wir werden Erfindungen machen können, mit großartigen Beiträgen die Kultur der Welt bereichern, soziale Standards und Werte vorleben, die kaum jemand auf der Welt kennt. Wir werden auch unsere Werte zu verteidigen haben und müssen gelegentlich für uns und für andere in Not kämpfen, notfalls auch mit militärischen Mitteln. Die halbe Milliarde Europäer sind die kleinste Gemeinschaft in der globalen Ordnung der Zukunft. Aber sie können bestehen, sie können helfen, und sie können stolz sein. Gemeinsam haben wir Europäer die Chance, Freiheit und Wohlstand, Frieden und Stolz zu bewahren. Ja, dafür dürfen einem die Tränen kommen. Ich will diese Leidenschaft erleben, nicht nur zwei Wochen nach dem Brexit-Referendum, sondern in den kommenden Jahren. Und zwar auf Straßen und Plätzen, in Schulen und Betrieben, und von allen, die nicht wollen, dass nationalistische Rechte und gnadenlose Vereinfacher diesen Kontinent bedeutungslos, ärmer und von innen und außen weniger frei werden lassen.
Die, die an das freie und glückliche Europa glauben, haben zu lange Verträge verhandelt. Das war nicht nebensächlich. Aber die Lehre dieser Tage ist, dass Verträge einen Geist brauchen. Dieser Geist steht auf dem Spiel. Mag sein, dass das vergangene Jahrzehnt der Europäer viele – gerade in Deutschland – in einem romantischen Konsens verharren ließ, einer Haltung, die es als unfein erscheinen ließ, zu streiten. Globalisierungsangst und rechter Nationalismus haben diese Strategie zerstört. Darauf müssen sich Gesellschaft und Politik einstellen. Ich glaube, dass diese Aufforderung zum unbedingten Streit – für ein gemeinsames Europa der Nationen – die über allem stehende Botschaft sein muss.
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