Ein Namensbeitrag von Roland Koch in der Zeitschrift „Der Landkreis“
Zwischen 2001 und 2003 wuchs das deutsche Bruttoinlandsprodukt um gerade einmal ein Prozent. Der Economist kürte Deutschland zum „kranken Mann Europas“. Die strukturellen Schwächen unseres Landes lähmten zunehmend die wirtschaftlichen Aktivitäten. Im Fokus aller Reformüberlegungen stand dabei zu Recht der Arbeitsmarkt. Innerhalb von nur zwei Jahren war die Zahl der registrierten Arbeitslosen um 13 Prozent auf mehr als 4,6 Millionen bis Anfang des Jahres 2003 gestiegen. Die strukturelle Arbeitslosigkeit wuchs seit den 1970er Jahren treppenförmig an. Selbst nach Boomjahren mit dem entsprechenden Beschäftigungsaufbau gelang es nicht, sich auf dem zuvor erreichten Niveau der Arbeitslosigkeit zu stabilisieren. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen, darunter insbesondere der Geringqualifizierten, wuchs dramatisch. Deutschland bildete hier das Schlusslicht in Europa. Insoweit war es ebenso mutig wie konsequent, dass die damalige Bundesregierung unter Bundeskanzler Schröder mit der so genannten Agenda 2010 weit reichende Reformen vor allem des institutionellen Arbeitsmarktregimes in den Blick nahm.
Die hessischen Gesetzesinitiativen
Impuls- und Taktgeber der Entwicklung hin zu tiefgreifenden Arbeitsmarktreformen war allerdings nicht allein die von der Bundesregierung beauftragte Kommission für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt – nach ihrem Vorsitzenden kurz Hartz-Kommission genannt. Mehrere Vorstöße aus den Ländern zielten auf grundlegende Veränderungen bei der Arbeitslosen- und Sozialhilfe, also auf den Reformbereich, der die spätere Grundsicherung für Arbeitsuchende beinhaltete. Die Hessische Landesregierung unter meiner Führung hatte dazu bereits zu Beginn des Jahres 2002 dem Bundesrat einen ersten Gesetzentwurf vorgelegt, das so genannte OFFENSIV-Gesetz [Optimal Fördern und Fordern – ENgagierter Service In Vermittlungsagenturen].
Ausschlaggebend für diesen Gesetzesvorstoß waren u.a. zwei Delegationsreisen von Mitgliedern der Hessischen Landesregierung sowie des Hessischen Landtags in den hessischen Partnerstaat Wisconsin in den Jahren 1999 und 2001. Dort hatte ich intensiven Einblick in das Sozialhilfemodell W2 (Wisconsin works) erhalten, bei dem Sozialhilfeempfänger in Job-Centern für den Wiedereinstieg in das Berufsleben besonders individuell gefördert, aber auch stärker gefordert wurden. Das Wisconsin-Modell fungierte im Zeitverlauf aufgrund seiner beeindruckenden Erfolge zur Blaupause der US-amerikanischen Sozialhilfereform unter der Clinton-Administration.
Mit dem hessischen OFFENSIV-Gesetz sollte die Betreuung und Vermittlung von Arbeitslosen- und Sozialhilfeempfängern in Job-Centern zusammengeführt und aus einer Hand gewährleistet werden. Die Länder sollten in einen Ideenwettbewerb um die besten Lösungen eintreten, damit die notwendige Reform von Arbeitslosen- und Sozialhilfe beginnen konnte. Leitmotiv war dabei der Grundsatz, der auch im Verlauf der späteren bundesgesetzlichen Regelungen in aller Munde war: „Fördern und Fordern“.
Trotz der Ablehnung des Gesetzes durch die Fraktionen der damaligen Regierungskoalition im Deutschen Bundestag Ende 2002 nahm die Hessische Landesregierung mit den vier im Januar 2003 gestarteten Job-OFFENSIV-Centern eine Vorreiterrolle für eine innovative Arbeitsmarktpolitik in Deutschland ein. Die Zuständigkeiten und Hilfen der Arbeits- und Sozialämter wurden gebündelt. Auf dem Weg zu einer tief greifenden Reform des deutschen Arbeitsmarktes, die an den strukturellen Hemmnissen für die Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen und Hilfebedürftigen ansetzte, konnte dies aber nur ein erster Schritt sein. Denn die notwendigen Änderungen bedurften bundesgesetzlicher Regelungen.
Deshalb begannen wir in Hessen bereits Ende 2002 mit den Vorbereitungen für einen eigenen Gesetzentwurf zur Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, der Gegenentwurf zum Vorschlag der Bundesregierung (Hartz IV) sein sollte.
Verbindendes und Trennendes beider Gesetzentwürfe
Trägerschaft und Finanzierungsmodell
Einig waren sich die damalige Bundesregierung, die Opposition und weite Teile der Länder, dass das ineffiziente Nebeneinander einer vom Bund aus Steuermitteln finanzierten, an die Höhe des letzten Nettolohns anknüpfenden Leistung (Arbeitslosenhilfe) und einer weitestgehend von den Kommunen aus Steuermitteln finanzierten bedarfsabhängigen Fürsorgeleistung (Sozialhilfe) einem effizienteren System Platz machen sollte. Ziel war es, die Vermittlungsbemühungen für diejenigen zu bündeln und zu verbessern, die lange Zeit keiner Beschäftigung am ersten Arbeitsmarkt nachgegangen waren. Den erwerbsfähigen Sozialhilfeempfängern sollte zukünftig auch das breite arbeitsmarktpolitische Instrumentarium zur Verfügung stehen, um sie auf diese Weise wieder an den Arbeitsmarkt heranzuführen.
Tragende Säulen unseres Existenzgrundlagengesetzes (EGG) waren die dezentrale Trägerschaft des Arbeitslosengeldes II, die deutliche Verbesserung der Arbeitsanreize für Langzeitarbeitslose und der Ausbau des staatlich geförderten Niedriglohnsektors.
Mit dem EGG sollte die Abkehr von der zentralistisch ausgerichteten und zu bürokratischen Betreuung und Vermittlung von Langzeitarbeitslosen durch die Bundesanstalt für Arbeit erfolgen. Die Nähe zu den Menschen, vor allem zu denen mit zahlreichen Vermittlungshemmnissen, als unabweisbare Voraussetzung für wirksame Hilfen und nachhaltige Integration konnten aus unserer Sicht nur dezentrale Strukturen vor Ort und damit die Kommunen als Träger der neuen Leistung sicherstellen. In dieser Hinsicht hatten wir starke Unterstützer aus den Reihen des Deutschen Landkreistages. Die Bundesregierung wollte dagegen die Aufgaben bei der umbenannten Bundesagentur für Arbeit zentralisieren.
Die grundsätzlich verschiedenen Ansätze für die Trägerschaft der neuen Leistung zogen entsprechend gegensätzliche Finanzierungsvorschläge nach sich. Der Hartz IV-Entwurf sah eine Umverteilung von Umsatzsteuerpunkten der Länder zu Gunsten des Bundes – dynamisch anwachsend bis zum Jahr 2007 – in Höhe von 7,2 Umsatzsteuerpunkten vor, um so die Entlastung der Kommunen bei den Sozialhilfeausgaben gegenzufinanzieren. Dies hätte zu gravierenden Verwerfungen zwischen den Ländern, aber auch zwischen den Kommunen geführt, weil zwei Finanzströme sachfremd miteinander verknüpft wurden: einerseits das Umsatzsteueraufkommen der Länder, das sich nach den Einwohneranteilen der Länder bemisst; andererseits die Sozialhilfekosten gemäß der Zahl der Sozialhilfebezieher in den Ländern. Länder mit hohen Sozialhilfeausgaben (v.a. die Stadtstaaten) wären weit überproportional entlastet worden, Länder mit geringen Sozialhilfeausgaben (v.a. Bayern und Baden-Württemberg) hätten dagegen eine massive Belastung zu verkraften gehabt. Allein aus diesem Grund bestand von Beginn an keine Realisierungschance für den Vorschlag der rot-grünen Bundesregierung.
Der hessische Vorschlag plädierte dagegen für eine länderspezifische Erstattung des Bundes, die den Kommunen für die Übernahme der Kosten der alten Arbeitslosenhilfe und weiterer, zuvor vom Bund getragener Kosten zukommen sollte. Dazu war eine Änderung des Grundgesetzes vorgesehen. Damit sollte ursachenadäquat der unterschiedlichen Länderbelastung durch Kosten der Arbeitslosenhilfe Rechnung getragen werden.
Stärkung der Arbeitsanreize und Ausbau des Niedriglohnsektors
Darüber hinaus war es zur Erhöhung der Beschäftigungschancen von Geringqualifizierten – immerhin fast 40 Prozent aller damals registrierten Arbeitslosen – erforderlich, dass die Rahmenbedingungen für einen Ausbau des in Deutschland vergleichsweise unterentwickelten Niedriglohnsektors nachhaltig verbessert wurden. Die hinter unserem Reformvorschlag stehende Philosophie war die eines Paradigmenwechsels von der Sozialhilfe als Lohnersatzleistung hin zur Lohnergänzungsleistung. Dazu diente neben der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe auf dem Niveau der bisherigen Sozialhilfe, verschärften Zumutbarkeitskriterien und einer engmaschigeren Betreuung der Hilfeempfänger auch ein attraktives Kombilohnmodell aus eigenem Erwerbseinkommen und staatlicher Lohnergänzung. Ziel war es, die finanziellen Anreize einer Arbeitsaufnahme auch bei zunehmendem Beschäftigungsumfang deutlich zu erhöhen und damit einen gleitenden Übergang in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu ermöglichen.
Noch vor dem Bund präsentierten wir unseren Gesetzesvorschlag im Juli 2003 und stießen damit innerhalb der Unions-geführten Länder und der Bundestagsfraktionen von CDU/ CSU und FDP auf breite Unterstützung, mit der Folge, dass der hessische Entwurf nicht nur von den damaligen Oppositionsfraktionen im Deutschen Bundestag übernommen und in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht, sondern auch von der Mehrheit der Länder im Bundesrat beschlossen wurde.
Schwierige Kompromissfindung im Vermittlungsausschuss
In zwei Vermittlungsausschüssen kam es schließlich zu einem Kompromiss, der als Regelfall die Schaffung von Arbeitsgemeinschaften aus Agenturen für Arbeit und Kommunen für die Betreuung der Langzeitarbeitslosen vorsah. Damit kam es – entgegen den ursprünglichen Zielsetzungen – zu einer getrennten Aufgabenträgerschaft bei gemeinsamer Aufgabenwahrnehmung, die in der Umsetzungsphase zwingend zu Reibungsverlusten führen musste. Hessen setzte durch, dass es im Wege einer Experimentierklausel 69 Kommunen in Deutschland erlaubt wurde, für die eigenständige Betreuung der Langzeitarbeitslosen zu optieren. Mit diesem Optionsmodell wurden die Weichen für einen Wettbewerb zwischen eher zentralen und eher dezentralen Betreuungsformen gestellt. Es brauchte mehrere Jahre und zwei vom Deutschen Landkreistag maßgeblich initiierte Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, um die verfassungswidrigen Arbeitsgemeinschaften aufzulösen und durch Job-Center als gemeinsame Einrichtungen zweier Partner auf Augenhöhe zu ersetzen. Auch die Anzahl der Optionskommunen wurde mittlerweile auf 110 erhöht, die Experimentierklausel wurde abgeschafft, so dass die Optionskommunen dauerhaft als Träger zugelassen sind und über entsprechende Planungssicherheit verfügen.
Die späte politische Einigung und die gegenüber den Schätzungen der damaligen Bundesregierung um mehr als 50 Prozent höheren Fallzahlen mit entsprechend dramatischen Kostensteigerungen für Bund und Kommunen führten zu einem mehr als holprigen Start bei der Umsetzung der neuen Grundsicherung für Arbeitsuchende. Die Vermittlungstätigkeiten rückten zunächst vollständig in den Hintergrund, weil der Fokus auf die Sicherstellung der Leistungsgewährung und die Umstellung auf die neuen Organisationsstrukturen gelegt werden musste.
10 Jahre später – Bilanz und bleibende Herausforderungen
10 Jahre nach Inkrafttreten der Grundsicherung für Arbeitsuchende zeigt sich viel Licht, aber auch noch Schatten. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in Deutschland hat deutlich um mehr als 3,5 Mio. zugelegt. Besonders erfreulich daran ist, dass das Beschäftigungswachstum in den letzten sieben Jahren weitestgehend auf den Anstieg von Normalarbeitsverhältnissen zurückzuführen ist. Gleichzeitig ist es gelungen, durch die Ausweitung des Niedriglohnsektors in Deutschland Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren, die vor der Reform geringe Chancen hatten. Die Arbeitslosigkeit hat sich von über 5 Mio. auf rd. 2,7 Mio. nahezu halbiert. Weit überproportional tragen dazu die Kurzzeitarbeitslosen (SGB III) bei. Aber auch die Anzahl der SGB II-Bezieher ist im Bestand um fast 20 Prozent gegenüber dem Spitzenwert zurückgegangen. Nichtsdestotrotz zeigt der Trend bei der Dauer der Langzeitarbeitslosigkeit seit Jahren nach oben. 64 Prozent der SGB II-Bezieher sind zwei Jahre oder länger im Hilfebezug, vor vier Jahren waren es noch 55 Prozent. Mehr als 46 Prozent sind gar länger als vier Jahre auf SGB II-Leistungen angewiesen.
Mit innovativen Ansätzen in der Betreuung und Vermittlung von Langzeitarbeitslosen konnten beträchtliche Erfolge erzielt werden – ein Ergebnis des Wettbewerbs zwischen den verschiedenen Organisationsmodellen. So sind beispielsweise die Werkakademien nach niederländischem Vorbild, die in den hessischen Optionskommunen frühzeitig mit großem Erfolg praktiziert worden sind, mittlerweile fester Bestandteil des Instrumentekastens der gemeinsamen Job-Center von Bundesagentur für Arbeit und Kommunen.
Die oft kritisierte „Aufstockerei“, also der ergänzende staatliche Transferbezug bei Erwerbstätigkeit, gehörte von Beginn an zu den erklärten Zielen der Reform, insbesondere für Personen, die in größeren Bedarfsgemeinschaften leben. Deren Anspruchslohn, definiert durch die Höhe des ALG II und die Unterkunftskosten, liegt so hoch, dass er bei geringer Qualifikation durch Erwerbstätigkeit von nur einer Person in einer Bedarfsgemeinschaft in der Regel nicht erzielt werden kann. Gerade deshalb greift der Kombilohn (Erwerbseinkommen plus staatliche Aufstockung). Das gilt im Übrigen selbst bei einem Mindestlohn von 8,50 Euro. Gleichwohl zeigt eine differenziertere Betrachtung der Personen, die ergänzend zu ihrer Erwerbstätigkeit staatliche Transfers beziehen, dass das Thema richtig gesetzter finanzieller Anreize auch weiterhin auf der Tagesordnung steht. Denn im Durchschnitt erzielen die Aufstocker nur etwa 300 Euro durch Erwerbstätigkeit. Die meisten gehen nur einem Minijob nach. Vor diesem Hintergrund sollte kritisch hinterfragt werden, ob die Hinzuverdienstregelungen, also die Anrechnung von ALG II auf Erwerbseinkommen, mit einer hohen Freistellung bei sehr geringem Einkommen nicht grundlegend neu justiert werden müssten.
Die Finanzierungsregelung des SGB II spiegelt die grundlegende Problematik der geteilten Aufgabenträgerschaft – mit Ausnahme der Optionskommunen – wider. Der in den letzten Jahren vom Bund übernommene gestiegene Finanzierungsanteil an den Unterkunftskosten und die jüngst erfolgte Zusage des Bundes, in den nächsten Jahren weitere 500 Mio. Euro pro Jahr aus diesem Bereich zu finanzieren, ändert nichts daran, dass eine v.a. für die Kommunen verlässliche und dauerhafte Finanzierung weiterhin aussteht. Auch diesbezüglich ist ein Blick über die nationalen Grenzen hilfreich. Ein festes, den Kommunen zugewiesenes Jahresbudget – analog den US-amerikanischen block grants – wäre auch unter Anreizgesichtspunkten eine herausfordernde, aber durchaus überlegenswerte Alternative.
Zusammenfassend lässt sich mit Blick auf 10 Jahre SGB II feststellen, dass die tief greifende Reform maßgeblich dazu beigetragen hat, dass Deutschland vom „kranken Mann“ Europas zur Lokomotive Europas mutiert ist. Diese Erfolge sollten nicht durch eine Aufweichung wesentlicher Kernelemente der Reform auf´s Spiel gesetzt werden. Der für bestimmte Regionen sehr problematische flächendeckende Mindestlohn ist daher eher kontraproduktiv, ebenso wie Überlegungen zur Aufweichung von Regelungen, die für eine ausgewogene Balance von Leistung und Gegenleistung stehen.
Bildung
// Energie
// Finanzen
// Flughafen Frankfurt
// GM
// Interview
// Opel
// Schule
// Steuerpolitik
// Wirtschaft
M | D | M | D | F | S | S |
---|---|---|---|---|---|---|
1 | ||||||
2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 |
9 | 10 | 11 | 12 | 13 | 14 | 15 |
16 | 17 | 18 | 19 | 20 | 21 | 22 |
23 | 24 | 25 | 26 | 27 | 28 |