„Nein, ich habe keine Entzugserscheinungen“
WirtschaRoland Koch im FAZ-Interview
Herr Koch, Sie wirken entspannter als früher. Ist eine Last von Ihnen abgefallen, seit Sie nicht mehr Ministerpräsident sind?
Nein, mir hat das Tragen dieser Verantwortung ja wirklich Spaß gemacht – insofern musste keine Last von mir abfallen. Dennoch hat sich aber eines sehr geändert; ich arbeite noch immer sehr viel, aber das Wochenende bietet mit jetzt doch eine ganz andere Chance auf Entspannung, als das in der Politik der Fall war. Auch der Umstand, dass in der Politik häufig ein Anruf – und potentiell eigentlich in jeder Sekunde des Tages – eine oft weitreichende, schnelle Entscheidung nötig macht, kommt im unternehmerischen Leben viel seltener vor. Die ständige und unmittelbare Verfügbarkeit von führenden Politikern zählt zu den in der Öffentlichkeit sehr unterschätzten Lasten der Politik.
Gibt es eigentlich viele Menschen, die Ihnen zum Ablegen solcher Lasten, zum Ausstieg aus der Politik gratulieren?
Leider treffe ich relativ viele Menschen, die sagen: „Da haben Sie aber recht, dass Sie jetzt endlich mal etwas anderes machen.“ Und dies mit einem Unterton sagen, der andeutet: Wie kann man so etwas eigentlich so lange machen, wie kann man sich das antun, diese Prostitution gegenüber den Journalisten, diesen Arbeitsdruck? Diesen Menschen möchte ich nicht im Nachhinein recht geben, indem auch ich noch sage: Was für ein Glück, dass ich aus der Politik ausgestiegen bin. Nein, ich habe meine Aufgabe gerne und mit Leidenschaft erfüllt. Und es ist wichtig, dass es Politiker gibt, die gerne Politik machen.
Was an der Politik fehlt Ihnen?
Ich habe eigentlich alles erlebt, fast alles genossen, da fehlt mir nichts mehr. Ich habe mich ja zu einem Zeitpunkt entschlossen, noch einmal etwas Neues zu erkunden, an dem ich mir sagen konnte: Ich habe wirklich alles in der Politik erlebt, was man erleben kann. Und vieles von dem, was mir in der Politik Spaß gemacht hat – neue Strukturen schaffen, Menschen mit völlig unterschiedlichen Interessen zusammenführen, strategische Dimensionen eröffnen -, begegnet mir ja auch im Wirtschaftsleben.
Also wirklich gar keine Entzugserscheinungen?
Keine Entzugserscheinungen. Ich halte Begrenzungen der Zeit für etwas Sinnvolles, wenn man Macht ausübt. Denn ich habe Macht ausgeübt, lange Zeit sogar, und da muss man aufpassen, dass sich das nicht verselbständigt.
Wollen Sie sagen, Ihr Entschluss, die Politik zu verlassen, war älter als dessen Umsetzung?
Ja, ich bin irgendwann an einen Punkt gelangt, an dem ich zu der Einschätzung gelangte, es sei vernünftig, dass es mit der Politik dann auch einmal zu Ende ist. Dass der Wähler mir dann im Jahr 2009 nach der de facto verlorenen Wahl von 2008 und der Unfähigkeit der Opposition, daraus einen Sieg zu machen, noch einmal die Chance gab, eine klare Mehrheit aus CDU und FDP zu verfestigen, war natürlich großartig. Aber es änderte nichts an dem eigentlichen Signal, dass es an der Zeit war aufzuhören. Insofern bin ich in einem sehr zufriedenen Zustand gegangen. Und der hat sich bis heute nicht geändert, was sicherlich auch daran liegt, dass ich sehr schnell eine neue und sehr spannende Aufgabe angetragen bekam.
Stimmen Sie der These zu, dass ein fähiger Politiker wohl ein Unternehmen führen, aber ein guter Unternehmer nicht unbedingt erfolgreich Politik machen kann?
Vielleicht muss man differenzieren: Für diejenigen Politiker, die Regierungserfahrung haben, mag die These gelten. Die Summe der Lebenserfahrung, die sich aus Regierung und Administration ergibt, ist sehr gut verwendbar in der Führung eines Unternehmens. Der entscheidende Unterschied ist die öffentliche Wahrnehmung von Entscheidungen. Der Mediendruck ist beachtlich, die politische Konkurrenz macht Tempo. Nicht, dass die unternehmerischen Entscheidungen nicht wahrgenommen würden. Natürlich hat alles, was ich heute bei Bilfinger Berger mit Verantwortung für letztlich 60.000 Menschen tue, Auswirkungen auf den Börsenkurs und auf Analysten. Ich muss also genau überlegen, was passiert, wenn die Entscheidungen bekanntwerden.
Aber ohne den Zeitdruck der Politik?
Genau. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich in maximal zwei Stunden alle wichtigen lenkenden Elemente geprägt, überzeugt haben muss, weil sonst die eigenen politischen Freunde oder Koalitionspartner beginnen, sich zu positionieren, so dass ich sie nicht mehr von einem anderen Weg überzeugen kann, weil sie sonst ihr Gesicht verlieren – diese Wahrscheinlichkeit ist im Unternehmen sehr gering. Im Unternehmen ist die Möglichkeit, andere von der eigenen Meinung zu überzeugen, auch deshalb größer, weil sich andere Akteure gar nicht öffentlich geäußert haben und deshalb auch nicht ihr „Gesicht verlieren“ können. Sie werden weder in den Medien gefragt, noch muss es sie in die Öffentlichkeit drängen.
Und solche Mechanismen verstehen Unternehmer, wenn sie in die Politik wechseln würden, nicht?
So hart möchte ich es nicht formulieren, aber der Wechsel aus der Wirtschaft in die Politik würde in den Anfangsmonaten sehr viel mehr Begleitung, Betreuung und Erfahrungstransfer benötigen als umgekehrt. Aber ich möchte eigentlich niemanden entmutigen, Politik ist genauso erlernbar wie Management. Ich habe nur bei Menschen, die ich aus der Wirtschaft in die Politik geholt habe, dieses große Erstaunen darüber festgestellt, dass eben alles gleich in der Zeitung steht. Und dass man wissen muss, dass man sehr schnell Etiketten verpasst bekommt, ohne dass man das selbst steuern kann oder zutreffend finden muss.
Gab es Tage, an denen Sie nach dem Ausscheiden aus der Politik aufwachten und dachten, Sie müssten jetzt gleich in die Staatskanzlei?
Nein. Aber das gehört ja zu den glücklichen Teilen meines persönlichen Weges, dass ich nicht von heute auf morgen ausgeschieden bin, sondern ich konnte über einige Monate einen Prozess daraus entwickeln, der mir Freude gemacht hat. Ich verhehle nicht, dass es mir auch Freude gemacht hat, dass ich den Zeitpunkt meines Ausscheidens selbst bestimmt habe und dass der Nachfolger, den ich mir gewünscht habe, Ministerpräsident geworden ist. Ich schaue mit einem sehr großen Maß an Zufriedenheit auf diese Phase meines Lebens. Hätte ich eine Wahl verloren und nicht gewusst, was ich danach mit meinem Leben anfangen sollte, wäre die Sache anders. Bei mir hat sich die alte Binsenweisheit bestätigt: Solange es hinter der Frontscheibe interessant ist, schaut man nicht so oft in den Rückspiegel.
Verfolgen Sie eigentlich noch aufmerksam die hessische Landespolitik?
Ich erwische mich dabei, dass ich mit Erstaunen sehe, dass eigentlich Plenarsitzung gewesen sein müsste. Ich komme durch die jetzigen Erfahrungen auch zu der Einschätzung, dass vieles in der Politik, was mich mit Vorbereitung und Umsetzung viele Stunden meines Lebens gekostet hat, selbst für einen politisch interessierten Menschen kaum sichtbar wird. Dass also Aufwand und Nutzen in keinem vernünftigen Verhältnis stehen. Wenn das schon bei jemandem wie mir der Fall ist – was kommt von Landespolitik dann noch bei den normalen Menschen an?
Das war Ihnen früher nicht klar?
Ich sehe das heute jedenfalls deutlicher als zu den Zeiten, als ich die Zeitungen gut füllte und einen dicken Pressespiegel bekam. Denn wenn man zwanzig Presseartikel über sich liest, muss man sicher denken, dass das Gesagte oder Getane viel Beachtung gefunden habe. Was die Presseausschnitte verschweigen, ist, an welcher Stelle die Artikel gestanden haben, aber vor allem, wie stark sie eigentlich gelesen werden. Ich selbst habe mir übrigens immer vorbehalten, die F.A.Z. jeden Tag und in allen Teilen selbst zu lesen.
Das werden wir auf jeden Fall zitieren.
Ich wusste, dass das kommt.
Wie nutzen Sie Ihre freien Wochenenden?
Das ist etwas Schönes. Ich habe jetzt mehr Zeit, mich mit den Menschen zu treffen, mit denen ich freundschaftlich verbunden bin. Oder auch mal einen Tag mit meiner Frau wegzufahren. Sie dürfen aber schon davon ausgehen, dass ich auch in meiner neuen Funktion nicht gerade Däumchen drehe. Was ich durchaus dabei unterschätzt hatte, ist das Ausmaß an Papier, das auf mich zukommt. Gerade als Newcomer in einem Unternehmen, der eine gewisse Sucht hat, über alles Bescheid zu wissen, müssen Sie an einem Wochenende bei den zu lesenden Blättern Papier schon an eine vierstellige Zahl denken. Aber der große Vorteil ist, dass ich mit die Zeit dafür selbst einteilen kann.
Anders als in der Politik.
Für einen Politiker sind die Wochenenden eine sehr fremdbestimmte Zeit. In der viele Menschen im ganzen Land erwarten, dass da ein fröhlicher, aufgeräumter, auf nichts anderes als diese Veranstaltung seit Tagen gierender Ministerpräsident erscheint. Und natürlich sind viele Veranstaltungen wichtig, und ihr Besuch ist ein wichtiger Teil der Aufgaben eines Ministerpräsidenten. Aber wenn jeder müde Mundwinkel als ein Element des Desinteresses gedeutet wird, dann ist das kein Vergnügen.
Wie unterscheidet sich Ihre jetzige Arbeitswirklichkeit von der in der Politik? Können Sie sich zum Beispiel länger mit einer Sache beschäftigen, ohne dauernd unterbrochen zu werden?
Das ist sicherlich der Fall, ja. Wir sitzen im Vorstand in der Tat oft zehn, zwölf Stunden zusammen. Ansonsten sollte man das aber nicht idealisieren. In einem Unternehmen, das im Jahr acht Milliarden Euro bewegt und seine Mitarbeiter in vielen Ländern der Welt beschäftigt, müssen die Verantwortlichen natürlich auch viel Zeit mit Reisen verbringen.
Warum ist es so, dass heute Politik bei einer Vielzahl von Menschen schlecht angesehen ist?
Demokratie muss immer um Ansehen und Zustimmung werben. Die Unterschiede in der Zufriedenheit mit Demokratie sind – unabhängig von direkter oder repräsentativer Ausformung – auf der ganzen Welt marginal. Ich glaube, die Politik muss damit leben, dass die meisten Bürger das Angenehme für selbstverständlich halten und die individuelle Belastung überbewerten. Je größer der Wohlstand, desto intensiver der Versuch des Einzelnen, Lasten von sich abzuwehren. Nach dem Motto „Chancen brauche ich eigentlich nicht mehr, aber jede Veränderung birgt für mich Risiken“.
Sehen Sie eigentlich einen Zusammenhang zwischen schlechterem Informiertsein der Bürger und der Einführung des Privatfernsehens?
Nein. Aber die Chance, sich zu individualisieren, ist größer geworden. Das führt auch zu der Option, sich Informationen aus Politik und Wirtschaft stärker zu entziehen. Und gleichzeitig wird die Welt komplexer. Wir registrieren da also zwei gegenläufige Bewegungen. Und wenn beide aufeinandertreffen, fühlen sich die Menschen überfordert und ziehen sich zurück.
Inwieweit kommen Ihnen Ihre alten politischen Verbindungen bei Ihrer heutigen Arbeit zugute?
Das sollte man nicht überschätzen, aber international sind sie oft wichtig. Nicht zur Geschäftsanbahnung, aber um Strukturen und Abläufe einschätzen zu können. Wir beschäftigen uns im Unternehmen ja viel mit Fragen, die mit Energie, Infrastruktur und mit industriellen Großprojekten zu tun haben. Da hilft es, wenn erfahrene Personen aus anderen Ländern die Lage beurteilen, etwa, wenn neue Regierungen an die Macht kommen. Und selbstverständlich muss ein Unternehmen wie Bilfinger Berger sich mit der Währungskrise beschäftigen: Was passiert mit dem Euro?
Ja, was passiert mit ihm?
Ich sehe die Lage längst nicht so depressiv wie die F.A.Z. Ich glaube, dass der Euro überleben wird, aber dass wir durchaus noch einen schwierigen Weg vor uns haben. Jeder, der sich nur ein bisschen mit den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts beschäftigt hat, wusste, dass nach einer Bankenkrise eine Staatsfinanzierungskrise kommt. Es darf nur nicht der Fall eintreten, dass zu viele Akteure zu verunsichert sind. Denn ich habe zurzeit sehr viele Kunden mit vollen Auftragsbüchern. Aber die lesen ständig in der Zeitung, dass alles schwierig werden kann. Und dieser Attentismus ist das Gefährliche. Deshalb muss die Politik in absehbarer Zeit das Problem lösen. Das wird teuer werden, sicher viel teurer, als die Deutschen glauben. Aber noch teurer würde es, wenn man das Problem nicht löst.
Wäre ein verkleinerter europäischer Währungsraum eine Lösung?
Ich kann nur sagen, dass die objektiven Vorteile Europas viel größer sind, als es die Bürger derzeit empfinden. Wenn Sie mich als Manager fragen: Ein Unternehmen wie Bilfinger Berger hat überhaupt kein Interesse an einem verkleinerten Währungsraum. Wir sehen täglich die Vorteile des Euro und erleben täglich die Schwierigkeiten mit anderen Währungen, etwa im Geschäft mit Norwegen.
Um Deutschland machen Sie sich keine Sorgen?
Die Deutschen unterschätzen, in welcher Weise wir gegenüber den meisten anderen Ländern der Welt strukturell im Vorteil sind. Insofern haben wir, wenn wir nicht alles falsch machen, ein eher goldenes Jahrzehnt vor uns.
Nimmt die Bundesregierung gelegentlich noch Ihren Rat in Anspruch?
Dass ich die Kontakte mit allen Menschen, die ich bisher geschätzt habe, plötzlich verlieren sollte, wäre ja ein bisschen unmenschlich.
Die Fragen stellten Werner D‘Inka und Peter Lückemeier.