Ein Beitrag von Roland Koch, Hessischer Ministerpräsident a.D., in International Journal for Nuclear Power
Sicherlich hat es manchen schon zu lange gedauert, bis die Bundesregierung nach den Sommerferien 2010 die Grundannahmen für ihr energiepolitisches Zukunftsszenario öffentlich vorgestellt hat. Verglichen damit ist anschließend die Entscheidung im Bundestag und Bundesrat zur Verlängerung der Laufzeit der Kernkraftwerke in Deutschland als ein Element der aus dem Energieszenario abgeleiteten zukünftigen energiepolitischen Strategie vergleichsweise schnell über die Bühne gegangen. Damit sind 12 Monate nach Antritt der christlich-liberalen Regierungskoalition in dieser in der Öffentlichkeit so lange und so streitig diskutierten Frage wichtige Fakten geschaffen worden. Diese Entscheidung ist eine logische Konsequenz aus dem Wahlergebnis vom 27. September 2009. All denjenigen, die jetzt wieder zu neuen öffentlichen Protesten aufrufen und sich durchaus auf Meinungsumfragen zugunsten der von ihnen vertretenen Positionen berufen können, muss immer wieder gesagt werden, dass Entscheidungen in der Demokratie durch Wahlergebnisse vorbestimmt werden und nicht durch Meinungsumfragen. Und ganz sicherlich kann bei der Frage der Verlängerung der Laufzeit der Kernkraftwerke kein einziger Wähler in Deutschland behaupten, er habe nicht genau gewusst, welche programmatischen Erklärungen CDU, CSU und FDP zur Energiepolitik abgegeben haben.
Die wieder militanter werdenden Auseinandersetzungen und die Castortransporte haben bereits gezeigt, dass die demokratische Tugend der Duldsamkeit jedenfalls für die Aktivisten der Demonstrationen gegen den störungsfreien weiteren Betrieb der kerntechnischen Anlagen nicht erwartet werden kann. Allerdings können Kriminelle, die den Schienenverkehr in Gefahr bringen, Straßen blockieren und Polizisten angreifen, sich nicht einmal auf diese Meinungsumfragen berufen. Die Mehrheit der Menschen akzeptiert die Regeln der Demokratie, nur kleine Minderheiten versuchen mit illegitimen Mitteln der Gewalt einmal getroffene demokratische Entscheidungen unverwirklichbar zu machen.
Eines ist bei dieser Debatte den Gegnern der Atomkraft zweifellos wieder gelungen. Sie bestimmen die öffentliche Tagesordnung und die Diskussionen zu diesem Thema. Dabei ist die Laufzeitverlängerung von Kernkraftwerken ein bedeutender, keinesfalls aber der zentrale Punkt des zukunftsweisenden Energiekonzepts der Bundesregierung. Das vorgelegte Konzept wird ja von vielen Seiten kritisch beäugt. Zur Wahrheit gehört nicht nur, dass Umwelt- und Naturschützer zu den alten Ritualen der Aufregung über die Laufzeiten von Kernkraftwerken zurückkehren, sondern auch, dass außerordentlich ehrgeizige Ziele für den Anteil der regenerativen Energien an der Gesamtenergiebilanz der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2020 und folgende aufgestellt wurden. Gerade die notwendigen Einsparungen im Bereich des Wohnungsbestandes werden uns noch vor manche, den einzelnen Bürger emotional sehr viel nachhaltiger betreffende Debatte stürzen, als dies die eher politisch motivierte Debatte um die Kernkraft ist. Die Bundesregierung hat angesichts der skeptischen Betrachtung der Bevölkerung bezüglich einer Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken richtig gehandelt, den Gesamtkontext dieser Entscheidung breit anzulegen. Wir behalten dabei eine deutsche Sonderrolle, die der Tatsache geschuldet ist, dass die deutsche Bevölkerung gegenüber der Kernkraft sehr viel skeptischer ist, als die Bevölkerungen nahezu aller anderen Industrieländer der Welt. Mit den gefundenen Regeln wird die objektive ökonomische Notwendigkeit der weiteren Nutzung der Kernenergie ausdrücklich bestätigt, gleichzeitig aber bleibt es bei dem deutschen Sonderweg, die Ausstiegsszenarien aus der Produktion fossiler und nuklearer Brennstoffe möglichst ambitioniert zu halten. Das wird den Verbraucher viel Geld kosten und auch die Industrie bezüglich der Energiepreise vor große Herausforderungen stellen. Deshalb wird es auch immer wieder notwendig sein zu betrachten, wo die Grenzen der Belastbarkeit von Bürgern und Industrie sind, bei denen eine noch so ehrgeizige Umweltpolitik die Grenzen des Machbaren überschreitet.
Die Sicherung und Fortentwicklung unserer Industriegesellschaft zu ermöglichen, ist nahezu alternativlos. Es wäre bloße Sturheit zu glauben, dass in Deutschland fossile Energien und nukleare Energie zur Energiegewinnung länger genutzt werden, als dies unbedingt technisch und ökonomisch möglich ist. Andererseits darf niemand glauben, dass der Wohlstand in Deutschland so hoch sei, dass man sich alle Formen von kostentreibenden Eskapaden leisten kann, die in einer globalisierten Welt den Wettbewerb verzerren. Deshalb werden Stromeinspeisevergütungen in historisch unwirtschaftlichen Größenordnungen ebenso eine Episode bleiben, wie Bauvorschriften zur Dämmung von Altbestand, die berechtigte Interessen der Mieter an möglichst niedrigen und stabilen Wohnungspreisen nicht einfach vernachlässigen dürfen.
Wenn das Konzept der Bundesregierung erfolgreich verwirklicht wird, wird die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2050 eine nahezu vollständig auf regenerativen Produktionsquellen basierende Energieversorgung haben. Diese Energie wird ganz sicher zum überwiegenden Teil weder auf den Dächern deutscher Wohnhäuser noch durch die die Landschaft oft sehr belastenden Windräder in deutschen Mittelgebirgen produziert. Aber offshore vor den Küsten der Nord- und der Ostsee und in den solargetriebenen Kraftwerken in Südeuropa und Nordafrika kann man zu vertretbaren Preisen eine industrielle Stromversorgung sicherstellen. Doch auch diese Form der Energieversorgung kostet eine Menge Geld. Sie wird aber letztlich wegen der auch hier möglichen Zentralisierung und der daraus entstehenden Synergie-Vorteile bei weitem nicht die Kosten verursachen, die durch eine dezentrale Solar- und Windwirtschaft in Grenzen des deutschen Festlandes verursacht würden.
Die Aufrechterhaltung des traditionellen Mixes der unterschiedlichen Ressourcen zur Stromproduktion trägt dazu bei, dass in den Jahrzehnten des Übergangs einerseits auf einer industriell gesicherten Basis eine ausreichende Einspeisekapazität im Bereich der Grundlast in das Netz der hoch industrialisierten deutschen Wirtschaftsgesellschaft gesichert ist. Andererseits ist diese wirtschaftliche Kraftanstrengung erst durch die Verbindung von relativ geringen Produktionskosten und den aus den Unternehmensgewinnen abgeschöpften Abgaben denkbar. Nur unter Nutzung der Kernenergie kann für die nächsten 10 – 20 Jahre erreicht werden, dass die Bundesrepublik ein überdurchschnittlich auf industrielle Produktion setzendes, im internationalen Vergleich der Wirtschaftsnationen sehr erfolgreiches und wohlhabendes Land bleibt. Natürlich setzt dabei eine solche Energiepolitik auch Kräfte frei, die ihrerseits wieder zum Wirtschaftsaufschwung beitragen. Wir wissen nicht zuletzt aus der Apollo-Mission der Amerikaner, wie viele Erfindungen und Weiterentwicklungen gemacht werden, während man an den notwendigen zusätzlichen Lösungen zur Verwirklichung der Vision einer modernen regenerativen Energiewelt arbeitet. Nüchtern betrachtet bedeutet das, dass diejenigen, die heute versuchen, sich im wahrsten Sinne des Wortes gegen diese Energiepolitik „querzulegen“, die ökonomischen Voraussetzungen dafür gefährden, dass es zu einem grundlegenden Wandel der deutschen Energiepolitik kommen kann.
Natürlich wird auch in dieser – hoffentlich letzten – Runde der Auseinandersetzung über die Kernenergie wiederum nicht nur auf der Straße, sondern auch in Gerichtssälen gekämpft werden. Es ist in den letzten Ausgaben dieser Zeitschrift ausführlich dargelegt worden, dass es gute Gründe gibt, die Besorgnis über diese Art der juristischen Auseinandersetzung in Grenzen zu halten. Dennoch verwundert es, welchen Fundamentalismus bis hin zur Behinderung der Parlamentsentscheidung in der Nacht der Abstimmung des Deutschen Bundestages die Opposition an den Tag gelegt hat – inklusive der sofortigen Ankündigung von Klagen nach der Feststellung der Bundesregierung, es handele sich nicht um ein der Zustimmungspflicht des Bundesrates unterliegendes Gesetz. Bei aller juristischen Feinsinnigkeit fällt es mir aufgrund meiner eigenen Erfahrung in den Verhandlungen des Bundesrates Anfang des Jahrzehnts schwer, zu akzeptieren, dass die gleichen Sozialdemokraten und Grünen, die damals den Ausstieg aus der Kernenergie für eine nicht zustimmungspflichtige Entscheidung hielten, nun die Verlängerung der Zeit, bis es zu einem Ausstieg kommt, mit einer solchen Inbrunst als zustimmungspflichtig beanspruchen.
Diese Scharmützel werden für weitere Verunsicherung sorgen und leider einige Zeit in Anspruch nehmen. Das ist insbesondere deshalb bedauerlich, weil durch die Vereinbarung der Bundesregierung mit der Energiewirtschaft auf die deutsche Energiewirtschaft neben den Vorteilen längerer Laufzeiten natürlich beachtliche wirtschaftliche Herausforderungen zukommen. In den ersten Jahren der längeren Laufzeit wird damit kein großer Gewinn zu machen sein und je länger die Laufzeit ist, umso mehr Spekulationen darüber geben, wie endgültig eine solche Verlängerung eigentlich ist. Dabei bleibt zu hoffen, dass sich die Energieversorgungsunternehmen der Tatsache bewusst sind, dass sie nicht nur bei der Verabredung von Kosten, sondern auch bei der Erbringung der entsprechenden energiepolitischen Leistung in einer symbiotischen Form mit der nationalen politischen Autorität verbunden sind. Aufgrund der vorliegenden juristischen Expertisen sind diese Unternehmen gut beraten, von einer Wirksamkeit des Verlängerungsbeschlusses von Bundestag und Bundesrat und auch davon, dass die jetzt getroffenen Beschlüsse Bestand haben, auszugehen. Jedes Abwarten verteuert und verlängert die Sache und erschwert die öffentliche Diskussion.
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