Koch: „Ich wollte mit kantigen Formulierungen immer die Mitte der Gesellschaft erreichen. Komplexe Fragen müssen in der Politik letztlich in Ja- oder Nein-Antworten münden und nicht in Wenn-dann-Sätze.“
Ministerpräsident Roland Koch im Focus über den schwierigen Abschied aus der Politik und die hohe Kunst der Polarisierung
Focus: Sie sind schon mit 14 Jahren in die Junge Union eingetreten. Jetzt steigen Sie nach 38 Jahren aus der Politik aus. Müssen Sie sich mit Entzugserscheinungen vertraut machen?
Roland Koch: Ich war zwar schon mit 14 ein politisch interessierter Mensch. Doch der Eindruck täuscht: Ich war nur elf Jahre Berufspolitiker. Bis zu meiner Wahl zum Ministerpräsidenten 1999 bin ich verschiedenen Berufen nachgegangen und habe eine Anwaltskanzlei betrieben. Aber, keine Frage: Für mich wird das jetzt ein harter Schnitt.
Focus: Sind Sie wehmütig? Traurig?
Roland Koch: Bis jetzt geht es mir noch gut dabei. Aber mir ist klar, dass mir die ersten Tage im September schwerfallen werden, wenn die ganze Belastung, der Druck abfällt. Ich bin allerdings sicher: Ich werde es verkraften. Ich werde bestimmt Aufgaben finden, in denen das, was in der Politik verlangt wird, wieder zur Geltung kommt.
Focus: Viele wurden völlig überrascht von
Ihrem Abschied. Ist Roland Koch ohne Politik überhaupt Roland Koch?
Roland Koch: Sie hätten mir einfach früher glauben sollen: Ich habe immer gesagt, dass ich irgendwann eine solche Entscheidung treffen werde. Ich kann mir ein neues Leben vorstellen, und Sie und die übrige Öffentlichkeit werden sich daran gewöhnen.
Focus: Da werden die Leute ganz Unterschiedliches vermissen: Die einen vergöttern Sie geradezu, für andere sind Sie der Beelzebub. Wie lebt es sich als wandelndes Feindbild?
Roland Koch: Natürlich verletzt das auch. Ich habe mich nie daran gewöhnt. Es hätte mich auch unsensibel gemacht. Ich bin jedoch überzeugt, dass Polarisierung in einer demokratischen Gesellschaft zur Entscheidungsfindung gehört.
Focus: Die Kampagne gegen den Doppelpass 1999 und die harten Forderungen gegen Jugendkriminalität 2008 waren notwendig?
Roland Koch: Wenn man Menschen interessieren will, sind eindeutige Aussagen, auch wenn sie mal zu Empörung führen können, wichtig. Das ist ein Stück der demokratischen Auseinandersetzung, die zu den Pflichten und Lasten der Politiker gehört. Sie müssen den Prozess antreiben, damit am Ende entschieden wird und sich etwas verändert.
Focus: Wollen Sie sagen, Sie haben den Fiesling gegeben, um Entscheidungen zu beschleunigen?
Roland Koch: Menschen, die mich besser kennen, wissen, dass es nicht meine Art ist, menschlich unfreundlich daherzukommen. Ich lege nur Wert darauf, dass auch unangenehme Fragen gestellt werden. Debatten dürfen nicht unterbleiben, nur weil sie gefühlsbeladen sind. Emotionen, die nicht ausgesprochen werden dürfen, sind schädlich für die Gesellschaft.
Focus: Im Urteil von Menschen, die Sie aus der Nähe kennen, schneiden Sie sehr positiv ab. In öffentlichen Sympathie-Rankings schlägt sich das nicht nieder. Fühlen Sie sich verkannt? Bleibt ein bitterer Nachgeschmack zum Abschied?
Roland Koch: Nein. Ich glaube, dass ich mit dem, was ich getan habe und wie ich es getan habe, in der Politik etwas bewegt habe. Aber es bleibt nicht in den Kleidern hängen, wenn Sie merken, dass die Öffentlichkeit Sie negativ beurteilt. Im Kontakt mit Bürgern habe ich oft zu hören bekommen: „Sie sind ja viel netter als im Fernsehen.“
Focus: Wie erklären Sie sich das?
Roland Koch: Das hängt vielleicht damit zusammen, dass ich in meinem politischen Leben nicht bereit war, darstellerische Kompromisse zu machen. Ich bin kein Schauspieler und wollte nie einer werden. Ich kann es nicht gut. Deshalb habe ich das auch nie versucht. Andere kommen ohne schauspielerische Fähigkeiten besser zur Geltung. Wenn ich den Strich darunterziehe, kann ich mich über Chancen, Politik zu gestalten und zu beeinflussen, wahrlich nicht beschweren. Übrigens auch nicht über die Zahl der Menschen, die mich unterstützen. Viele sehen mich bei aller Härte als Beweis dafür, dass man mit einer klaren Position viele Menschen binden und auch Wahlen gewinnen kann.
Focus: Sie sind eine Ikone der Konservativen. Freut Sie das?
Roland Koch: Wer ärgert sich schon über Zuspruch und Zustimmung? Ja, ich gehöre zu den Menschen, die Gedanken und Werte von Konservativen in ihre Politik einbeziehen. Wir dürfen keine Gesellschaft werden, in der sich keiner mehr traut zu sagen, dass er konservativ ist.
Focus: Aber irgendwas muss doch mit dem Konservativen nicht stimmen, wenn selbst in Ihrer Partei kein einziger Promi zu sagen wagt: „Ich bin ein Konservativer.“
Roland Koch: Ich bin der Meinung, dass das Konservative etwas Gutes ist. Das Thema wird mich auch in Zukunft interessieren. Ich habe auch gelegentlich versucht, das Wort neu zu definieren.
Focus: Nämlich wie?
Roland Koch: Konservative wollen Veränderungen unter Beachtung von positiven Erfahrungen. Das Konservative versucht, nach dem Prinzip von Maß und Mitte die Welt zu gestalten.
Focus: Manchmal wird über das Konservative geredet, als sei es eine Krankheit.
Roland Koch: In einer Medienwelt, die ständig auf das Neue schielt, ist das Beständige weniger interessant. Als toll gilt dann fast automatisch, wenn sich etwas ändert. Änderung an sich ist dann schon gut. Das ist doch eine der Regeln auf dem immer schneller sich drehenden Nachrichtenmarkt…
Focus: Sie meinen, dass der Druck, immer Neues zu präsentieren, das Bewährte langweilig erscheinen lässt?
Roland Koch: Manchmal entsteht der Eindruck, dass der, der nicht ungeprüft jeden Drang zu etwas Neuem unterstützt, unter der Anklage steht, er bremse das eigentlich Notwendige. Konservative Programme sind eine wirklich intellektuelle Angelegenheit. Man muss sehr genau gucken, was klugerweise so bleiben und was geändert werden soll.
Focus: Woran denken Sie zum Beispiel?
Roland Koch: Konservative Familienpolitik nimmt heute Rücksicht auf die Tatsache, dass Männer und Frauen gleich gut ausgebildet sind. Konservative Politik will die Gleichberechtigung. Das ist heute anders als vor 50 Jahren.
Focus: Was ist denn In Zeiten erwerbstätiger Mütter noch Erkennungszeichen konservativer Familienpolitik?
Roland Koch: Die besondere Verantwortung der Eltern. Die SPD sagt: „Familie ist, wo Kinder sind.“ Wir reden über Verantwortung. Die Ehe als Gemeinschaft hat eine Schlüsselstellung.
Focus: Ein aktuelles Beispiel: Auch gleichgeschlechtliche Paare übernehmen Verantwortung füreinander. Sollten auch sie die Verantwortung für ein Kind durch die Adoption besiegeln können?
Roland Koch: Ich bin gegen ein solches Adoptionsrecht. Ein Kind hat das Recht, von den Eltern, von Mann und Frau, erzogen zu werden. Das bedeutet allerdings keineswegs, dass man intolerant ist gegenüber gleichgeschlechtlichen Paaren. Aber das geschlechtliche Zusammensein von Mann und Frau ist die Voraussetzung für den Fortbestand der Gesellschaft.
Focus: Welche Bedeutung hat bei solchen Fragen das christliche Menschenbild für Sie?
Roland Koch: Für mich ein ganz zentrales. Es geht darum, dass jeder Mensch ein Ebenbild Gottes ist. Das heißt, dass seine Würde unverletzbar ist. Dass sein Anspruch auf Freiheit unverletzbar ist. Wenn jeder das Ebenbild Gottes ist, ist jeder verpflichtet, auf den Nächsten Rücksicht zu nehmen und nicht nur sich selbst zu sehen.
Focus: Aber Menschen bleiben fehlbar.
Roland Koch: Leider. Deshalb gibt es nicht das Paradies auf Erden. Das hat sich nach der Sache mit dem Apfel immer wieder erwiesen. Jeden Tag. Deshalb darf niemand mit dem Anspruch leben, er habe die Wahrheit gepachtet. Wenn man sich das klarmacht, weiß man, warum man für Demokratie ist und warum man für Toleranz wirbt.
Focus: Wie weit geht zum Beispiel ihr Respekt vor dem Islam? Beim Thema Kopftuchtragen wird es ja sehr konkret.
Roland Koch: Die jüdisch-christliche Tradition prägt unsere Gesellschaft, sie prägt Europa. Und aus diesem Geist haben wir auch unsere Verfassung entwickelt. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Freiheit der Religion, die Unversehrtheit der Person gehören dazu. Keine religiöse Praxis oder Kultur kann dazu in Konkurrenz treten. Deshalb kämpfen wir gegen Zwangsbeschneidung, gegen die Unterdrückung der Frau bei der Ausbildung oder gegen religiöse Symbole, die auf Solidarisierungszwang ausgerichtet sind.
Focus: Ihre Leidenschaft werden viele In der öffentlichen Debatte vermissen.
Roland Koch: Keine Sorge, ich werde nicht völlig aus dem öffentlichen Leben verschwinden. Ich habe schon vor, mich ab und an zu Wort zu melden.
Focus: Bei welchem Thema zeigt denn Ihre Partei echte Leidenschaft? Wofür brennt die CDU?
Roland Koch: Bürgerliche neigen nicht dazu, gleich die Revolution anzuzetteln. Sie zeigen meist Leidenschaft, wenn die persönliche Freiheit attackiert wird – sei es in der Wirtschaft, der Religion oder sonstwo. Beim Respekt vor dem Leben geht es ans Eingemachte. Eine der intensivsten Debatten der letzten Jahre, an die ich mich erinnere, war die Debatte über das Embryonenschutzgesetz. Bei der Frage, ob man Finanzgesetze so rum oder andersrum strickt, kann man die Leidenschaft aber in Grenzen halten.
Focus: Ihr Parteifreund Norbert Röttgen sieht ein grundlegendes Problem: Viele vermissen Antworten auf die Frage, was die CDU will. Sehen Sie das auch so?
Roland Koch: Die Menschen sind in der Tat verunsichert. Immer mehr Themen werden gezwungenermaßen auf der politischen Bühne schnell hintereinander verhandelt und in den Medien mal mehr, meist weniger differenziert dargestellt. Da verlieren die Bürger den Überblick.
Focus: Hängen bleibt, dass die Union in der Koalition mit der FDP völlig außer Tritt ist.
Roland Koch: Viele irritierte schon zuvor, dass wir mit der SPD regiert haben. Dass wir dann aber im schwarz-gelben Bündnis so lange wie ergebnislos über Steuerpolitik diskutiert haben, führte nicht gerade zu neuer Klarheit.
Focus: Die Umfragewerte mit knapp über 30 Prozent sind miserabel. Ist die Union überhaupt noch eine Volkspartei?
Roland Koch: Wer die Umfragen liest, wird nicht sagen können, wir hätten kein Problem. Aber das ist durch Kommunikation lösbar. Wir müssen unsere Politik besser erklären, zumal Deutschland in Europa mit seiner Wirtschaft und dem Arbeitsmarkt glänzend dasteht. Die schlechte Stimmung wird ein ärgerliches Intermezzo bleiben. Das Ziel der Union sind bundesweit 40 Prozent plus X an Stimmen. Das ist machbar. Auf gemeinsamen Präsidiumssitzungen von CDU und CSU werden wir in überschaubarer Zeit verbindliche Standpunkte zu strittigen Fragen finden, von der Wehrpflicht über Hartz-IV-Sätze bis zur Energiepolitik.
Focus: Wie das? CDU und CSU führen sich doch momentan wie feindliche Parteien auf!
Roland Koch: Weil dieser Eindruck entstanden ist, stecken wir ja in Schwierigkeiten. Früher bestiegen Helmut Kohl und Franz Josef Strauß einen Berg und räumten auf diesem Weg Konflikte aus. So einfach funktioniert das heute wohl nicht mehr. Wir müssen uns aber zusammenraufen. Es geht nicht, dass Kompromisse gleich wieder aufgekündigt werden. Die FDP erwartet zu Recht in Koalitionsgesprächen, dass die Union ihre Position vorher abgestimmt hat.
Focus: Warum haut die Kanzlerin dann nicht auf den Tisch?
Roland Koch: Angela Merkel ist auf die Kompromissbereitschaft der anderen beiden Vorsitzenden angewiesen. Horst Seehofer und Guido Westerwelle müssen lernen, die Verantwortung in gleicher Weise zu übernehmen wie die Kanzlerin.
Focus: Provoziert das schlechte Bild des bürgerlichen Lagers nicht geradezu Rufe nach einer Partei rechts der Union?
Roland Koch: Gegen Abspaltungstendenzen hilft eine klare An- und Aussprache. Ich wollte mit kantigen Formulierungen immer die Mitte der Gesellschaft erreichen. Komplexe Fragen müssen in der Politik letztlich in Ja- oder Nein-Antworten münden und nicht in Wenn-dann-Sätze. Rechte oder linke Populisten leben in der Regel von einem Thema. Das ist zum Glück zu wenig.
Focus: Sie galten als politisches Wunderkind. Viele glauben, dass Sie die Politik hinschmeißen, weil Sie nicht Kanzler werden konnten?
Roland Koch: Diese ewige Unterstellung ist etwas ermüdend. Ich habe immer gesagt, dass ich nicht ewig hessischer Ministerpräsident bleiben und mit dem Amt verwachsen möchte.
Focus: Wenn Sie als möglicher Nachfolger Angela Merkels nicht mehr in Frage kommen, wer steht dann als Führungsreserve bereit?
Roland Koch: Die Stelle ist doch gut besetzt. Warum machen Sie sich da schon Gedanken?
Focus: Wenn Sie politisch Bilanz ziehen, fällt Ihnen etwas ein, was Ihnen leidtut, was Sie gern ungeschehen machen würden?
Roland Koch: Niemand bei Verstand glaubt, immer alles richtig gemacht zu haben. Ich werde Ihnen jetzt aber nicht den Gefallen tun, mich selbst öffentlich zu geißeln.
Focus: Sind Sie für einen Job in der Wirtschaft gerüstet?
Roland Koch: Die Wirtschaft hat vielfältige Parallelen zur Politik. Jedenfalls, wenn man eine exekutive Verantwortung hat wie ein Ministerpräsident. Ich stand an der Spitze einer Organisation mit 150.000 Mitarbeitern, die viele Milliarden Euro im Jahr verwaltet. Mich hat immer fasziniert, Entwicklungen anzustoßen und ökonomisch stabil zu machen. Ob ich als Berater arbeite oder in der Exekutive eines Unternehmens, wird man sehen. Mit der Entscheidung lasse ich mir noch etwas Zeit. Ich freue mich auf einige Monate der Entschleunigung.
Focus: Kann Jemand wie Sie einfach abhängen?
Roland Koch: Ich habe eine ganze Menge Ideen. Dass ich leidenschaftlich gern koche, hat sich herumgesprochen. Vielleicht mache ich ja ein Kurzpraktikum in einer Großküche, um mal eine Weile nahe bei den Profis am Herd zu sein.
Focus: Viele Politiker denken: „Ich stehe In der Zeitung, also bin ich.“ Machen Sie sich Sorgen, dass Sie künftig unter Selbstzweifeln leiden?
Roland Koch: Es gibt Politiker, die die Rampe suchen. Ich habe die Medienpräsenz eher als Pflicht verstanden. Die Aufmerksamkeit der Presse und des Fernsehens war jedenfalls nicht der Grund, warum mir die Politik so viel Spaß gemacht hat.
Das Interview führten Magarete van Ackern und Thomas Zorn.