Koch: „Es ist eine Entscheidung der Vernunft“
Ministerpräsident Roland Koch im Interview mit der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Herr Ministerpräsident, Sie haben am Freitag zum letzten Mal den Hessentag eröffnet. Das war’s. Sind Sie froh?
Roland Koch: Ich mag den Hessentag, das ist eines der vielen schönen Dinge zum Abschluss.
FAS: Haben Sie die ganzen Trachtengruppen nicht satt?
Roland Koch: Nein. Ich freue mich, dass ich ihn zwölf Mal eröffnen durfte. Es ist ein schönes Ereignis. Ich bin in diesen zehn Tagen praktisch ununterbrochen in Stadtallendorf unterwegs. Und ich freue mich auch auf den Festzug am Schlusstag.
FAS: Als Sie Ihren Rücktritt kundtaten, sagten Sie, dass es Tage geben wird, an denen Sie das bereuen werden.
Roland Koch: Die Faszination des Berufes ist die Spannung zwischen öffentlicher Aktivität mit vielen Menschen und der Arbeit in einer großen Administration. Und neben alldem im Land nationale politische Verantwortung zu haben, das bietet kein anderes politisches Amt in Deutschland – nur das Ministerpräsidentenamt. Dass es Tage geben wird, an denen ich dem auch mal nachtrauern werde, da bin ich mir absolut sicher. Ich habe meinen Entschluss ja nicht aus Überdruss getroffen. Es ist eine Entscheidung der Vernunft.
FAS: Sie wollen für ein paar Monate zurück ins normale Leben. Niemand mehr, der Ihnen die Tür des Dienstwagens aufreißt. Schaffen Sie das noch selbst?
Regierungssprecher Dirk Metz: Sonst kommt er ja nicht in den Wagen rein.
Roland Koch: Der Mensch darf nicht mit dem Amt verwachsen. Da muss man vorher aufhören. Wobei Statussymbole wie Autos lächerlich sind. Für mich war das elf Jahre ein rollender Arbeitsplatz. Die ununterbrochene Präsenz, das Leben mit dem Gefühl, jede Sekunde kann ein Anruf kommen, der verantwortliche Entscheidungen fordert – das verändert auf Dauer. Da kommt man nicht von einer Minute auf die andere wieder raus.
FAS: Wenn Sie in einem anderen wichtigen Posten sitzen, kann das Telefon auch ständig klingeln.
Roland Koch: Ich will weiterhin eingespannt und engagiert bleiben. Für alles andere bin ich noch viel zu jung. Doch in der Politik kann bei einem Telefonanruf ein unkontrolliertes Flugzeug im Luftraum sein oder eine andere Katastrophe passieren. Eine politische Krise, die sofortige Reaktionen und Entscheidungen erfordert. Das begegnet einem in der Wirtschaft nicht in dieser Vielfalt. Man kann sich besser auf einen bestimmten Bereich konzentrieren.
FAS: Das hört sich an, als wollten Sie sich einen ruhigeren Job suchen.
Roland Koch: Einen ruhigeren nicht, aber einen anderen. Auch was die emotionale Belastung angeht.
FAS: Politiker sind Prominente. Sie können nicht mehr anonym durch die Straßen gehen. Sie werden überall im Land erkannt. Man spricht Sie an, will was von Ihnen. Was macht diese Erfahrung mit einem?
Roland Koch: Es schränkt den eigenen Freiheitsraum massiv ein. Wenn ich in eine Buchhandlung gehe und mir Bücher anschaue, was bei jedem normalen Bürger eine private Tätigkeit ist, muss ich damit rechnen, dass es die Menschen neben mir interessiert, welche Bücher ich angeguckt habe. Und dass es heute sogar noch Sekunden später via Twitter verbreitet wird. Das hat Folgen für die Spontaneität. Aber ich empfinde es nicht als lästig, dass die Leute mich kennen. Das ist ein Teil der Leistung eines Politikers, daran arbeitet man viele Jahre. Wen man nicht kennt, kann man nicht wählen. Also muss man bestimmte Dinge in Kauf nehmen.
FAS: Wie geht es Ihnen denn, wenn das Telefon mal ein paar Stunden nicht klingelt?
Roland Koch: Das genieße ich. Ich weiß aber natürlich nicht, wie das ist, wenn es über Tage andauert.
FAS: Und was ist mit dem Zustrom schmeichelnder Signale, die sagen: Sie sind wichtig, Sie sind gefragt, Sie sind bedeutend, Ihre Meinung zählt. Manchen Politikern wird das zur Sucht.
Roland Koch: Ich habe nie Politik gemacht wegen öffentlicher Anerkennung oder weil ich ständig in der Zeitung stehen will. Öffentliche Wahrnehmung ist für mich ein Instrument, kein Opfer. Auf die Gestaltungsmöglichkeit zu verzichten, das empfinde ich dagegen als Verlust.
FAS: Mit dem Bedeutungsverlust kommen Sie klar?
Roland Koch: Ohne Probleme.
FAS: War die Pressekonferenz am vergangenen Dienstag eine Bewerbungsrede?
Roland Koch: Nein, sie galt den Menschen, bei denen meine Entscheidung auf Unverständnis hätte stoßen können. So wie ich manche Leute abstoße, binde ich andere. Denen wollte ich meine Entscheidung verständlich machen.
FAS: Das Land steckt mitten in der Krise. Sie haben selbst Ihre Kompetenz hervorgehoben, sind als Wirtschafts- und Finanzpolitiker geschätzt. Begehen Sie Fahnenflucht?
Roland Koch: Am Ende zählt, dass ich eine Entscheidung treffe auf der Basis, was ich bewirken kann. An einem bestimmten Punkt tritt für Politiker ein Verschleißprozess ein, der größer ist als seine Gestaltungsmacht. Diesen Punkt muss er aus eigener Kraft finden. Das bedeutet keine Fahnenflucht. Man darf nicht den Eindruck erwecken, man habe eine Gestaltungsmacht, die man gerade verliert. Das nutzt niemandem und wäre Vertrauensmissbrauch.
FAS: Wann haben Sie den Tag Ihres Rücktritts festgelegt?
Roland Koch: Nicht den Tag, aber den Zeitraum: im Herbst letzten Jahres.
FAS: Wussten Sie da schon, dass die Kanzlerin in diesem Moment nach Abu Dhabi reist?
Roland Koch: Was da wieder alles hineingeheimnisst worden ist! Dass sie im Flugzeug sitzt, wusste ich erst, als sie auf meine SMS mit der Bitte um ein Telefonat eine Stunde lang nicht reagierte.
FAS: Sie sagten, Sie hätten Frau Merkel schon vor einem Jahr informiert. Hat sie versucht, Sie zu halten?
Roland Koch: Angela Merkel hat keinen Zweifel daran gelassen, dass sie ein Interesse an meiner Mitarbeit hat.
FAS: Wenn ein Angestellter in einem Unternehmen mit Kündigung droht, dann legt der Arbeitgeber vielleicht was drauf.
Roland Koch: Angela Merkel ist nicht meine Arbeitgeberin.
FAS: Wie sieht die Zukunft der Union aus?
Roland Koch: Sie ist die Partei, die die Chance hat, eine wirkliche Volkspartei zu bleiben. Unsere gesellschaftlichen Strömungen driften immer weiter auseinander. Aber das intellektuelle Grundgerüst, wie man eine Gesellschaft organisieren will, ist zwischen den Konservativen, Liberalen und Christlich-Sozialen, zwischen den Älteren und Jüngeren, die sich jetzt für die CDU organisieren, sehr homogen.
FAS: Sind denn Leute wie Sie in der Union überhaupt erwünscht?
Roland Koch: Ja. Die wird es auch immer geben. In der CDU haben wir eine spannende junge Generation, das wird sich alles entwickeln.
FAS: Seit Ihrem Rücktritt sind die Medien voller Berichte über Sie, sogar Liebeserklärungen gab es.
Roland Koch: Es hätte schlimmer kommen können. Ich habe keinen Anlass, mit meiner Entscheidung zu hadern. Und mit den Reaktionen auch nicht. Ich bin zufrieden mit dem, was darüber geschrieben wurde, mit allen Ausschlägen nach der einen und der anderen Seite. Dass viele Menschen, die mich persönlich kennen, dabei hinzufügen, dass ich persönlich sympathischer wirke als im Fernsehen, ist mir auch lieber als umgekehrt.
FAS: Gab es Reaktionen, mit denen Sie nicht gerechnet haben?
Roland Koch: Die Aufmerksamkeit ist größer, als ich erwartet habe. Aber an einem Tag, an dem man einen Lebensabschnitt beendet, schadet eine solche Erfahrung auch nicht.
FAS: Ungeachtet Ihres bundespolitischen Einflusses: die Hauptstadt bühne war nicht Ihre. Bundestag, Bundesregierung: Das ist eine Arena, die zu Ihrem Naturell gepasst hätte. Bedauern Sie, dass es diesen Teil Ihrer politischen Biographie nie gegeben hat?
Roland Koch: Wenn ich zu einem früheren Zeitpunkt ausgeschieden wäre, hätte mir vielleicht etwas gefehlt. Aber bis heute ist mein Gestaltungsspielraum signifikant größer als der jedes Bundesministers. Und die Bandbreite ist einzigartig.
FAS: Auf welche Erfolge und Misserfolge blicken Sie zurück?
Roland Koch: Ich will nicht in eigenen Bilanzen schwelgen. Den Ausbau des Frankfurter Flughafens als das wichtigste Infrastrukturprojekt Deutschlands, die erfolgreiche Bekämpfung des Unterrichtsausfalls, schnellere Genehmigungsverfahren. Auch die Aufholjagd bei den Hochschulen, die Milliarden kostete, hat enorme Erfolge gebracht, das kann man nicht nur an den Baulichkeiten sehen, sondern auch an der Internationalität der Professoren. Die Infrastruktur des Landes ist eindeutig besser geworden. Und was schlecht gelaufen ist, das überlasse ich der Aufarbeitung journalistischer Beobachter.
FAS: Dass Sie mit ausländischen Jugendlichen Wahlkampf geführt haben? Dass Sie in der Spendenaffäre nicht alles gesagt haben? Oder dass Sie das Wort „brutalstmöglich“ erfunden haben?
Roland Koch: Ich habe den Begriff ein einziges Mal verwendet, das war live im „heute journal“. Ich habe auch nichts gegen das Copyright auf dieses Wort, falls es so sein sollte. Wobei einem dadurch natürlich viele Klischees verpasst werden. Ich empfinde es aber nicht als Kritik, dass ich Dinge mit Klarheit und manchmal vielleicht auch mit Härte auf den Punkt bringe. Wenn ich zur Politik in Deutschland etwas beigetragen habe, dann, dass ich eine politische Debatte auf Ja-nein-Fragen bringe, damit entschieden werden kann. Das wird aber nicht von allen geschätzt.
FAS: Und die Spendenaffäre?
Roland Koch: Ich wurde in den Dschungel der Spendenaffäre hineingezerrt und habe etwas übernommen, was ich hinten und vorne nicht übersehen konnte. Dass ich mich in einer bestimmten Sekunde falsch verhalten habe, bestreite ich nicht. Trotz der nachhaltigen Aufklärungskampagne hat es mein Image verändert. Parteimitglieder hatten mir Nitroglycerin übergeben, ohne Gebrauchsanweisung.
FAS: Hat Sie das die Kanzlerschaft gekostet?
Roland Koch: Ich glaube nicht an die Geradlinigkeit von politischen Karrieren. Es hat mein Image in der Politik verändert und dadurch auch meine Handlungsmöglichkeiten reduziert. Es gibt seitdem ein größeres Misstrauen der Bürger gegen mich, bis zum heutigen Tag – das wäre ohne dieses Ereignis nicht so gewesen. Wenn ich gewusst hätte, in welchem Umfeld ich mich bewege, wäre das nie passiert.
FAS: Wie wird man damit fertig, für viele Menschen der Buhmann oder sogar ein Hassobjekt zu sein? Manche sehen ja in Ihrem Rücktritt gleichsam politischen Bilanzselbstmord.
Roland Koch: Und von anderen bekomme ich wunderbare Reaktionen. Richtig ist aber: Ich habe mir ein dickes Fell zugelegt. Hätte ich meinen persönlichen Wünschen und Gefühlen nachgegeben, hätte ich im Januar 2000 gesagt: Lasst mich in Ruhe, was habe ich mit dem Erbe aus den achtziger Jahren zu tun? Ich gehe zurück in meine Kanzlei. Doch wenn ich das gemacht hätte, wäre meine Partei nicht seit über zehn Jahren die bestimmende politische Kraft in Hessen. Ich wusste damals: Es geht nicht anders. Auch wenn der Preis ein Image ist, das ich nie im Leben haben wollte. Letztlich ist es mir zumeist gelungen, dass sich am Ende wieder alle mit meiner Meinung und nicht plump mit einem Image auseinandersetzen. Das heißt, mein Einfluss auf politische Debatten in Deutschland ist nicht eingeschränkt worden. Und eines dürfen Sie nicht vergessen: Polarisierung hat immer starke Aggression, aber auch starke Zustimmung zur Folge. Es muss Politiker geben, die beide Emotionen auslösen. Es hat in der Politik keinen Sinn, immer mit allem, was man sagt, die große Mehrheit der Menschen erfreuen zu wollen. Das ist die Aufgabe des Bundespräsidenten.
FAS: Politiker müssen viele Verletzungen aushalten. Auch von Seiten der Journalisten, aber schon allein durch die Art, wie sie selbst miteinander umgehen. Doch Sie, Roland Koch, haben wirklich die volle Packung abbekommen. Wie erträgt man das?
Roland Koch: Das ist ein Kampf des Kopfes gegen den Bauch. Der Bauch ärgert sich, und der Kopf sagt, es gehört dazu. Manchmal tut man dann gut daran, weniger Zeitung zu lesen.
FAS: Wird man nicht zum Menschenverächter, wenn man sich ständig distanzieren muss?
Roland Koch: Nein. Es ist eine Voraussetzung für die Politik, dass man Menschen sehr mag. Ich kenne Leute, die ärgern sich über achtzig Prozent ihrer Mitmenschen. Ich freue mich über achtzig Prozent.
FAS: Worüber freuen Sie sich?
Roland Koch: Ich sehe bei vielen Menschen, auch bei denen, mit denen ich politisch nicht einer Meinung bin, tolle charakterliche Leistungen. Die Zahl charakterlich ungeeigneter Menschen ist überschaubar im Vergleich zu denen, die ein ordentliches, gutes Leben führen.
Was denken Sie, mit wie vielen Menschen man in über einem Jahrzehnt als Ministerpräsident wunderbar zusammenarbeiten und Probleme lösen kann. Es ist einfach schön, mit Menschen umzugehen. Wie beim Hessentag: Da treffe ich unglaublich viele, nach 23 Jahren Landespolitik. Wenn man das nicht kann, sollte man sich in dem Beruf nicht so lange bewegen, dann macht er einen krank.
Das Interview führten Cornelia von Wrangel und Volker Zastrow.