Ein Beitrag von Roland Koch in der Frankfurter Allgemeine Zeitung
Wenn Millionen, die hart arbeiten, sehen, dass sie ohne eigene Anstrengung folgenlos annähernd das Gleiche verdienen könnten wie diejenigen, die das System ausnutzen, dann ist das nichts anderes als die Perversion des Sozialstaatsgedankens.
von Roland Koch
Bundesarbeitsministerin von der Leyen hat es vor gut einer Woche so formuliert: „Wer Geld von der Gemeinschaft bekommt, muss auch was dafür tun.“ Und: „Wir sollten bei denen, die nicht arbeiten wollen, genauer hinschauen und es nicht akzeptieren, wenn jemand ohne nachvollziehbaren Grund nicht oder nur wenige Stunden arbeitet.“
Man darf ein wenig überrascht sein, welch schroffe Reaktionen meine Kritik an noch nicht zufriedenstellenden Elementen der Grundsicherung für Arbeitsuchende („Hartz IV“) ausgelöst hat. Dabei ist es gut fünf Jahre nach Inkrafttreten des Hartz-IV-Systems wirklich an der Zeit, auch offensichtliche Schwachstellen anzusprechen. Und Missbrauch ist ein Phänomen, das man nicht verschweigen darf.
Zur Sache: Wir haben allen Grund, die überaus positive Entwicklung am Arbeitsmarkt seit Amtsantritt von Bundeskanzlerin Merkel herauszustellen. 1,3 Millionen oder fast 30 Prozent weniger Arbeitslose in vier Jahren, und das trotz des schwersten Einbruchs der deutschen Wirtschaft seit Bestehen der Bundesrepublik, stellen der unionsgeführten Bundesregierung ein gutes Zeugnis aus. Gleichzeitig sind rund 1,4 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen worden. Und das Bemerkenswerte an dieser Entwicklung ist, dass fast 90 Prozent dieser neuen Beschäftigungsverhältnisse sozialversicherungspflichtig sind. Ganz anders als noch zu Zeiten der rot-grünen Bundesregierung in der ersten Hälfte des Jahrzehnts, als trotz eines Aufbaus der Beschäftigung rund eine Million sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verlorengingen. Nur (Schein-)Selbständigkeit und geringfügige Beschäftigung erlebten zu rot-grünen Zeiten einen Boom. Die Entwicklung am Arbeitsmarkt seit 2005 hat erst die Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 auf 2,8 Prozent ermöglicht, dadurch Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleichermaßen entlastet und die Dynamik am Arbeitsmarkt gestärkt. Ein nicht zu unterschätzender Faktor in den derzeit und in naher Zukunft schwierigen Zeiten für den Arbeitsmarkt.
Wie aber sieht es bei der steuerfinanzierten Grundsicherung für Arbeitsuchende, also Hartz IV, aus? Hier können und dürfen wir nicht zufrieden sein. Die Zahl der Personen, die Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld beziehen, hat sich seit vier Jahren kaum verändert. Knapp 5 Millionen erwerbsfähige Menschen und weitere 1,8 Millionen mit diesen in einer Bedarfsgemeinschaft lebende Personen beziehen SGB-II-Leistungen. Das sind gerade einmal 15000 weniger als vor vier Jahren. Und auch wenn man hinter die Fassade dieser Zahlen blickt, ist da viel zu wenig Dynamik festzustellen, anders als etwa bei der Arbeitslosenstatistik. Erst jüngst hat das Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit (IAB) aufgezeigt, dass 45 Prozent der SGB-II-Bezieher seit Jahren dauerhaft im Leistungsbezug verharren. Und 40 Prozent derjenigen, die den Wiedereinstieg in Beschäftigung vorübergehend schaffen, sind spätestens nach einem Jahr erneut auf staatliche Unterstützung angewiesen. Diese Zahlen belegen: Hier dürfen wir nicht wegsehen.
Ich betone nochmals, dass sich jede Pauschalkritik an allen Hartz-IV-Empfängern verbietet. Viele, sehr viele Menschen sind unverschuldet langzeitarbeitslos geworden, sie haben jede Hilfe der Solidargemeinschaft verdient. Viele bemühen sich intensiv um eine Stelle. Nicht wenige von ihnen sind Menschen, die viele Berufsjahre in qualifizierten Jobs vorweisen können. Aber es ist völlig unbestritten, dass eine deutlich sichtbare Minderheit das bestehende System ausnutzt und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt einer großen Belastungsprobe aussetzt. Wenn Millionen von Bürgern, die jeden Tag hart arbeiten, sehen, dass sie ohne jede eigene Anstrengung folgenlos annähernd das gleiche Einkommen erhalten könnten wie diejenigen, die sich nicht anstrengen und das System ausnutzen, dann ist das nichts anderes als die Perversion des Sozialstaatsgedankens.
Und genau dafür gibt es klare empirische Evidenz. In einigen der dreizehn hessischen Optionskommunen sind mit Unterstützung der hessischen Landesregierung seit mehr als einem Jahr Sofortangebote an Langzeitarbeitslose eingeführt worden. Nach dem Vorbild der überaus erfolgreichen niederländischen Werkakademien werden Langzeitarbeitslose aller Altersgruppen und Qualifikationsniveaus in Teamarbeit intensiv und gezielt betreut, um den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt zu schaffen. Aktive Mitwirkungspflichten sind Voraussetzung für die Teilnahme. Die Erfahrungen vor Ort zeigen zweierlei: erstens beeindruckende Quoten der Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt von 40 bis 50 Prozent und zweitens eine Quote von 10 bis 15 Prozent von Teilnehmern, die ihren Antrag zurückziehen oder die sich einer aktiven Zusammenarbeit verweigern und als Folge von dem Programm ausgeschlossen werden. Diese Quote von 10 bis 15 Prozent stellt keineswegs Einzelfälle dar. Erfahrungen in anderen Ländern (Übersee, West- und Osteuropa bis hin in den Nahen Osten), die bereits seit vielen Jahren mit diesem Ansatz operieren, zeigen, dass diese Größenordnung durchaus repräsentativ ist.
Wer dem entgegenhält, die entsprechenden gesetzlichen Regelungen seien doch bereits vorhanden, dem kann man durchaus zustimmen, aber offensichtlich funktionieren sie nicht in ausreichendem Maße. Viele Reaktionen auf meine Aussagen, unter anderem auch von Fallmanagern, bestätigen, dass die teilweise langen Verzögerungsmöglichkeiten bei der Durchsetzung der Sanktionen durch Einsprüche und Klagen gegen die Verfügungen der SGB-II-Träger sowie die regelmäßig zu beobachtende Aufhebung der ausgesprochenen Sanktionen durch die Sozialgerichte die Mitarbeiter in den Arbeitsgemeinschaften und Optionskommunen davor zurückschrecken lassen, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Bei vielen der betroffenen Mitarbeiter entsteht so der Eindruck, der Gesetzgeber lasse sie allein. Hier muss Abhilfe geschaffen werden, um die Absicht auch gerichtsfest durchsetzen zu können. Dies muss Teil der ohnehin anstehenden Reform des Gesetzes sein.
Wir müssen das Instrumentarium der Sofortangebote massiv ausweiten, nach meiner Auffassung eben auch in Form gemeinnütziger Bürgerarbeit oder Gemeindearbeit, und dies gerade auch im Sinne derer, die den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt suchen. Wer in diesem Zusammenhang von einem repressiven Menschenbild spricht, sollte sich die Einrichtungen in den hessischen Optionskommunen einmal anschauen. Die überwältigende Mehrheit der Teilnehmer äußert sich zufrieden und ist dankbar für die sich ihr bietenden Möglichkeiten.
Ein weiteres Indiz für beträchtliche Fehlentwicklungen im bestehenden System ist die Praxis der Hinzuverdienstmöglichkeiten, also die Frage, in welchem Ausmaß eigenes Erwerbseinkommen bei der Aufnahme einer Beschäftigung auf die Transferleistung angerechnet wird. Mehr als 1,3 Millionen Hartz-IV-Empfänger, die erwerbstätig sind und aufstockend Transferleistungen beziehen, sind für Sozialdemokraten und Linke in unserem Land ein Indiz für Armutslöhne, für die „working poor“ unserer Gesellschaft. Ist das wirklich so? Wer sich die Zahlen genauer ansieht, muss zu einem anderen Schluss kommen. Nahezu 60 Prozent der sogenannten Aufstocker arbeiten für einen Betrag von weniger als 400 Euro im Monat, Tendenz steigend. Gerade unter den Alleinstehenden, die aus ihrem Erwerbseinkommen nicht noch eine Familie mitversorgen müssen und für die es insoweit noch relativ leicht ist, sich aus dem Transferentzug zu befreien, tritt dieses Phänomen häufig auf. Zwei Drittel der erwerbstätigen Aufstocker unter den Singles gehen aber nur einem Minijob nach. Keine 15 Prozent aus dieser Gruppe arbeiten für 800 Euro oder mehr. Ganz offensichtlich werden hier überwiegend nicht Teilzeit- oder Vollzeittätigkeiten mit Hartz-IV-Leistungen aufgestockt, sondern nur zeitlich sehr überschaubare Erwerbsarbeit, ohne dass die Intention besteht, diese auszuweiten.
Wir können doch nicht den Hinweis von renommierten Wissenschaftlern, die in diesem Zusammenhang von „Tarnkappenbeschäftigung“ sprechen, einfach ignorieren. Obwohl ich die Aufnahme einer wenn auch nur geringfügigen Beschäftigung als Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt sehr begrüße, so liegt es doch auf der Hand, dass zumindest eine beträchtliche Anzahl derjenigen, die dauerhaft nur für ein paar hundert Euro einige wenige Stunden im Monat arbeiten und ergänzend Hartz-IV-Leistungen beziehen, sich im System eingerichtet haben. Das ist bei Alleinerziehenden und Familien durchaus differenziert zu betrachten. Hier zeigt sich aber auch ein anderes Bild. Vergleichsweise deutlich mehr Hartz-IV-Empfänger, die Familie haben, arbeiten für 800 Euro und mehr und stocken den Rest staatlich gefördert auf. Die Zahlen belegen, dass das, was uns Wissenschaftler sagen, alles andere als graue Theorie ist. In Gesetz gegossene Fehlanreize in Kombination mit mangelhafter Betreuung durch die Jobcenter sind ursächlich für dieses Verhalten.
Wenn ein Langzeitarbeitsloser die ersten 100 Euro brutto wie netto hinzuverdienen kann und ihm mit zunehmendem eigenem Erwerbseinkommen prozentual immer mehr auf die Hartz-IV-Leistungen angerechnet wird, dann ist es ein durchaus rationales Verhalten, sehr bald die eigenen Bemühungen einzustellen. Erst recht, wenn der aufgrund geringer Qualifikation gezahlte Stundenlohn niedrig ist.
Ein Beispiel macht die Sache anschaulich: Ein Single mit einem Hartz-IV-Anspruch von 770 Euro (Regelsatz zuzüglich Unterkunftskosten in Frankfurt am Main) hat bei einer Erwerbstätigkeit im Ausmaß von 200 Euro im Monat ein verfügbares Einkommen von 920 Euro, 150 Euro mehr, als wenn er nicht arbeitet. Nimmt er dagegen eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung für 1000 Euro an, erhält er netto rund 1060 Euro. Die Anrechnung der zusätzlichen 800 Euro Erwerbseinkommen führt also zu einer Grenzbelastung von über 80 Prozent. Dass eine solche Regelung Fehlanreize setzt, dürfte klar sein.
Deshalb müssen wir dringend die gesetzlichen Hinzuverdienstregelungen so ändern, dass sie den Ausstieg aus dem Leistungsbezug und den Einstieg in sozialversicherungspflichtige (Vollzeit-)Beschäftigung fördern. Das ist eine Frage von richtig gesetzten Anreizen. Geringfügige Beschäftigung plus aufstockende Hartz-IV-Leistungen plus gegebenenfalls Einkommen aus Schwarzarbeit ist kein staatlich akzeptiertes Kombilohnmodell. Ich warne allerdings davor, die Anrechnungssätze bei höherem Einkommen lediglich zu reduzieren, den Status quo ansonsten aber beizubehalten. Das würde zu Hunderttausenden neuen Anspruchsberechtigten führen, die ihr Einkommen aufstocken – und damit zu zusätzlichen Lasten für den Steuerzahler. Nein, wir müssen das Anreizsystem endlich vom Kopf auf die Füße stellen, das heißt die Förderung geringfügiger Beschäftigung im Arbeitslosengeld-II-Bezug reduzieren und die Förderung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung erhöhen. Dann werden wir die erhoffte Wirkung erzielen, weil sich mehr Arbeit auch lohnt.
Von den Jobcentern müssen wir verlangen, dass sie ihre Vermittlungsbemühungen nicht reduzieren oder gar einstellen, sobald ein Transferempfänger einer geringfügigen Beschäftigung nachgeht. Vermittlung muss zumindest mittel- und langfristig auf ein Leben ohne aufstockenden Hartz-IV-Bezug ausgerichtet sein – vor allem bei Single-Haushalten.
Und wenn wir schon bei Anreizen sind, dann ändern wir am besten auch gleich die Mittelaufteilung zwischen Bund und Kommunen. Die Tatsache, dass der kommunale Anteil an den Hartz-IV-Leistungen bei Aufnahme einer Erwerbstätigkeit als Letztes abgeschmolzen wird, führt natürlich auch bei den Jobcentern zu Fehlanreizen. Die Arbeitsagentur hat kein gesteigertes eigenes fiskalisches Interesse, die von der Kommune zu tragenden Transfermittel zu reduzieren. Wenn aber beide Träger, Arbeitsagenturen und Kommunen, gleichermaßen von der Vermittlung in Arbeit profitieren, wird sich auch ein ganz anderes Engagement in den Jobcentern zeigen. Letztlich müssen wir zudem erfolgreiche Arbeitsagenturen und Kommunen belohnen, weniger erfolgreiche dagegen sanktionieren. Das ist in anderen Ländern seit Jahren gängige und erfolgreiche Praxis.
Natürlich ist mir bewusst, dass ein ganz beträchtlicher Teil der Hartz-IV-Empfänger über gravierende, zum Teil mehrere Vermittlungshemmnisse verfügt. Als große Gruppen werden immer wieder einerseits gering Qualifizierte, andererseits Alleinerziehende angeführt. Bei beiden Gruppen kommt es auf individuelle Hilfen an, um gezielt Arbeitsmarktnähe wiederherzustellen. Wir müssen bei den gering Qualifizierten allerdings anerkennen, dass wir nicht bei jedem das in der Vergangenheit Versäumte nachholen können. Das heißt dann durchaus auch, dass diese Menschen nicht von einer Qualifizierungsmaßnahme in die nächste geschoben werden, sondern sich ab einem bestimmten Zeitpunkt zunächst mit einer einfachen Tätigkeit und einem entsprechend geringeren Lohn zufriedengeben müssen, um sich dann im Job weiterzuqualifizieren. Alles andere wäre Augenwischerei.
Wenn das Hauptproblem bei den Alleinerziehenden in der Tat die fehlende Kinderbetreuung ist, wie manche behaupten, dann sollte es aus meiner Sicht überhaupt keine Frage sein, dass zumindest für den Wiedereinstieg eine Tagesbetreuung für die Kinder von der Arbeitsagentur organisiert und bezahlt wird. Langfristig ist die vorübergehende Übernahme der Kosten durch den Staat allemal sinnvoller als die fortgesetzte Dequalifizierung durch Arbeitslosigkeit bei den überwiegend ordentlich qualifizierten Alleinerziehenden. Allzu häufig haben wir allerdings in der Vergangenheit, auch in Bezug auf diese Thematik, einen unsäglichen Streit zwischen den Optionskommunen und dem Bund über den angemessenen Instrumenteeinsatz erlebt. Das darf es in Zukunft nicht mehr geben. Wenn die vor Ort Tätigen aus ihrer Sicht geeignete Maßnahmen ergreifen, darf es keine Verbote und Eingriffe des Bundes in die dezentrale Praxis geben.
Ich hoffe sehr, dass alle Beteiligten auf den Kern meiner hier nochmals erläuterten Aussagen zurückkommen und in einen sachlichen Diskurs eintreten. Wenn wir uns aufgrund falsch verstandener Tabus der Auseinandersetzung mit Missständen verweigern, entzünden wir die Lunte an der breiten Unterstützung des Solidarprinzips und des Sozialstaatsgedankens in unserer Gesellschaft. Dies zu verhindern, sehe ich als Aufgabe eines jeden verantwortungsvollen Politikers an.
Der Verfasser ist hessischer Ministerpräsident und stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU.
Bildung
// Energie
// Finanzen
// Flughafen Frankfurt
// GM
// Interview
// Opel
// Schule
// Steuerpolitik
// Wirtschaft