Rede Avicenna-Preis
Rede des Hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch anlässlich der Verleihung des Avicenna-Preises an die „Allianz der Zivilisationen“
Paulskirche Frankfurt, 10. Mai 2009
Sehr geehrter Präsident Sampaio, verehrte Frau Dr. Eskandari-Grünberg, sehr verehrter Herr Dr. Bilgin, geehrte Kollegen aus den Parlamenten in Europa, in der Türkei, in der Bundesrepublik, im Hessischen Landtag und in dieser Stadt!
Ich freue mich, dass wir heute die Preisverleihung des Avicenna-Preises in der Paulskirche vornehmen können – an einem so wichtigen Ort und nach einer harten Arbeit, die zu diesem Preis geführt hat, für die Herr Dr. Bilgin schon so ehrenvoll angesprochen worden ist und die wir ihm ganz persönlich zu verdanken haben.
Der Avicenna-Preis soll etwas bewirken. Und das, was er bewirken soll, besteht nicht darin, dass sich alle an einem Sonntagmorgen hier in der Paulskirche treffen. Der Avicenna-Preis soll zum Nachdenken anregen, zum Bestätigen von Ideen, zum Hinterfragen von Thesen – und das alles deshalb, weil wir in einer Gesellschaft leben wollen, die offen ist, die die ganze Welt zu sich einlädt, die aber auch Ansprüche an die Welt hat und zugleich auch weiß, dass das Zusammenleben auf der Welt nicht nur einfach ist. Schließlich gibt es eine Menge Unkenntnis, Missverständnisse und ganz handfeste, unterschiedliche Interessen, Lebenserfahrungen und Überzeugungen. Das wird uns auch immer so begleiten.
Ich habe vor einiger Zeit eine Geschichte über einen Forscher gelesen, der nicht weit von hier im Senckenberg-Museum tätig ist. Es handelt sich dabei um einen Paläanthropologen, also um einen Menschen, der sich mit den Menschen von ganz, ganz viel früher beschäftigt. Der Wissenschaftler ist Professor Friedemann Schrenk. Anfang der 90er Jahre machte er mit seinem Ausgrabungsteam in Malawi einen Sensationsfund, der ihn seit dieser Zeit beschäftigt. Es war ein urzeitliches Knochenfragment, der Unterkiefer eines Menschen, den die Wissenschaftler „Homo rudolfensis“ nennen, geschätzte 2 Millionen Jahre alt. Seit dieser Zeit gilt die These als gefestigt, dass die Wiege der Menschheit wahrscheinlich Afrika war. Der einheimische Mitarbeiter, der mit Professor Schrenk den Kiefer sah und ausgrub, hatte damals natürlich nicht erahnen können, welche weitreichende Dimension der anthropologischen Forschung er im wahrsten Sinne des Wortes in den Händen hielt. Einige Jahre später hat Herr Professor Schrenk ihn in einer Fernsehsendung gefragt, was er damals denn ursprünglich geglaubt habe, woher die Menschheit käme. Darauf hat sein Mitarbeiter geantwortet: „Aus Amerika!“ Und auf die Frage, warum Amerika, hat er geantwortet: „Na, weil alles aus Amerika kommt!“
Ich glaube, diese Geschichte mit ihrer Dimension von 2 Millionen Jahren zeigt uns ein bisschen von dem, was als Herausforderung vor uns steht. Wir müssen uns zunächst einmal alle miteinander jeweils die Arbeit machen – und wir müssen alle miteinander die Chance dazu haben –, einigermaßen präzise zu erfahren, was und wer der Andere ist. Wahrscheinlich ist Avicenna ein extrem guter Repräsentant dieses Gedankens. Und deshalb ist er, nicht nur weil die Medizinergilde der Gießener einen so großen Einfluss hat, sondern auch darüber hinaus, der richtige Namensträger für diese Initiative.
Wir werden immer wieder in der hoffentlich lange währenden Geschichte dieses Preises darum ringen, welche Person oder Institution die richtige ist, um unter dem Gesichtspunkt ausgezeichnet zu werden, etwas dazu beigetragen zu haben oder etwas dazu beizutragen, die Irrtümer zu entlarven und zugleich die Kraft zu haben, die wahren Auseinandersetzungen auf eine rationale Basis zu führen, ohne sie zu verschweigen. Denn auch das ist wahr: nicht erst seit Samuel Huntington existiert der „Clash of Civilizations“, die Auseinandersetzung um Lebensprinzipien, die uns jeweils als Individuen wichtig sind, die sich aber sehr voneinander unterscheiden können. Diese Unterschiede können so weit reichen, dass selbst unser Menschenbild auf dieser Welt nicht überall das gleiche ist. Wir wissen, dass manche Debatte über Menschenrechte damit beginnt zu fragen, was der Mensch eigentlich ist – ein individuelles oder ein kollektives Wesen. Oder dass man über die Frage streitet, ob der Mensch ein vorrangig naturwissenschaftlich erklärbares Wesen ist, das aus Molekülen und Zellen besteht, oder ob er in einer wie auch immer geglaubten Verantwortung vor einer Macht jenseits dessen steht, was wir im Irdischen kennen. Über solche Fragen sind Kriege geführt worden. Ja, es werden immer noch Kriege geführt, es werden Bomben geworfen, es zerstören sich Menschen selbst, im Namen solcher Gedanken.
Es wäre töricht zu glauben, dies seien alles Irrtümer und Missverständnisse. Denn dann wird man nie erkennen, wo die Herausforderung des Dialogs und der Debatte liegt. Nein, es geht in der Tat um den Begriff, den Frau Dr. Eskandari-Grünberg schon genannt hat: der Toleranz in einer harten Form – nämlich zunächst einmal in der Form, dass man anerkennen muss, dass man wirklich sehr unterschiedlicher Überzeugung sein kann, dass Menschen sich und die Welt und ihre Zukunft sehr unterschiedlich sehen können. Das ist für sich gesehen nicht schlimm. Wenn man genügend Abstand zu den jeweiligen Auseinadersetzungen des Tages hat, liegt darin vielleicht sogar eine der großen Chancen der Menschheit. Dennoch kann nicht geleugnet werden, dass solche Unterschiede im Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlicher Herkunft und Überzeugung zu einem handfesten, herausfordernden Problem werden können.
Wir hier in Deutschland, gerade hier in dieser Stadt Frankfurt am Main und diesem Bundesland Hessen, wir leben von der Internationalität. Wenn man so will, stellen wir uns also bereitwillig diesem Problem. Wir werden es aber nur bewältigen können, wenn wir die Kraft haben, es auch als Problem zu akzeptieren und wenn wir ein Interesse daran haben, das, was ein Missverständnis ist, von dem zu trennen, was tatsächlich einen Unterschied darstellt. Daran haben wir alle sehr hart miteinander zu arbeiten – das geht nicht immer nur leicht von der Hand, sondern manchmal passiert bereits in der Diskussion über das Problem schon wieder ein neues Missverständnis. Aber ich denke, wir sind dabei auch schon ein Stück weit voran gekommen. Es gibt diese unterschiedlichen Wahrnehmungen, es gibt diese Herausforderungen und Probleme, und wir müssen schauen, wie wir damit umgehen.
So verstehe ich auch die Allianz der Zivilisationen. Ich gebe zu, in der Diskussion der letzten Tage hat mich fasziniert, dass die Initiative in besonderer Weise durch die Tatsache legitimiert wird, dass zu den Gründern Menschen gehören, die ganz unterschiedlicher Meinung sind. Ich will ausdrücklich sagen, dass ich möglicherweise mit einem, der sicher kein Christdemokrat ist, wie der derzeitige spanische Ministerpräsident, manche politisch unterschiedlichen Überzeugungen haben könnte und haben werde. Ich bestreite auch ganz und gar nicht, dass ich in einigen sehr prinzipiellen Fragen mit Ministerpräsident Erdoğan nicht einer Meinung bin. Aber ich finde es gut, dass – gemeinsam mit dem damaligen Generalsekretär der Vereinten Nationen – diese drei glauben, dass es klüger sei, einen Prozess des Miteinanderringens auf institutioneller Ebene zu organisieren, als gegenseitig voreinander davonzulaufen. Und deshalb bekommt aus meiner Sicht die Allianz zu Recht diesen Preis. Sie sorgt dafür, dass die Unterscheidung zwischen Missverständnissen und tatsächlich unterschiedlichen Überzeugungen unter denen ausgetragen wird, die unterschiedliche Überzeugungen haben. Sich darauf einzulassen, darin liegt die kulturelle Leistung derer, die die Allianz gegründet haben und die heute daran mitwirken. Darum haben sie den Preis verdient, unabhängig von der Meinung des Einzelnen.
Gerade diese Tatsache, dass wir dort unterschiedlicher Meinung sind, führt doch auch dazu, dass sich jeder darüber freuen muss, dass andere sich auf diesen Prozess einlassen. Es schafft auch für jeden selbst Maßstäbe, an die man messend herangehen kann. Und machen wir uns nichts vor, wir werden in dieser Diskussion auch auf sehr schwierige Fragen stoßen. Die Moderatorin hat es nett mit dem Missverständnis über das Kopftuch ausgedrückt. Ja, da gibt es Missverständnisse. Aber da ich gerade einige Tage mit Bürgern aus Hessen in Saudi-Arabien war, kann ich sagen: es geht nicht nur um Missverständnisse, sondern es geht unter den Religionen um das Verständnis und die Definition von Religion und um andere handfeste, unterschiedliche Überzeugungen. Es geht durchaus auch um Punkte, an denen wir jenseits des Elements von Toleranz möglicherweise sagen: „Das wollen wir nicht!“ So, wie auch meine saudi-arabischen Gastgeber an bestimmten Stelen sagen: „Das wollen wir nicht!“ Das macht uns auf beiden Seiten Schwierigkeiten; manches verstehen wir nicht. Meine Frau hat während dieses Besuchs die Abaja getragen, mit Respekt davor, dass die Überzeugung des saudi-arabischen Volkes eben ist, dass man eine bestimmte Kleidungsvorschrift einhalten muss, wenn man eine Frau ist, weil es sonst eine Verletzung der religiösen Gefühle darstellt. Das fällt nicht leicht. Und deshalb dürfen wir hier sagen: „Das wollen wir hier nicht!“ Ohne, dass wir damit religiöse Gefühle verletzen. Wenn man nach Saudi-Arabien einreist, dann muss man sie halt tragen, weil man dort sonst religiöse Gefühle verletzt.
Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass wir uns darüber klar werden und herausarbeiten müssen, was Dinge sind, über die man einfach reden kann, und was Dinge sind, bei denen wir am Ende konkrete Entscheidungen treffen müssen, weil sie für eine Gesellschaft – will sie friedlich zusammenleben – konstitutiv sind. Und dazu müssen wir wissen, worüber wir sprechen. Das ist die Aufgabe der Allianz der Zivilisation. Sie tut dafür schon eine Menge, indem sie nach meiner Überzeugung an der richtigen Stelle anfängt: bei jungen Menschen, die wissen müssen, was ihnen in einer Gesellschaft, die in Zukunft immer vielfältiger und globaler werden wird, an Herausforderungen bevorsteht – und wie sie sich darauf einlassen können.
Das heutige Preisgeld ist vollständig für den Youth Solidarity Fund vorgesehen. Durch die Förderung von internationalen Jugendbegegnungen soll genau an dieser Stelle gearbeitet werden, um all das gegenseitig zu erfahren, wovon ich gesprochen habe.
Es ist übrigens auch ganz interessant, dass die Allianz ein System entwickelt, das die Parteipolitiker in Deutschland in ihren Parteizentralen inzwischen ebenfalls kennen: den Rapid Response Media Mechanism. Es handelt sich um ein breites Netzwerk aus Experten und Journalisten, die immer dann aktiviert werden, wenn irgendwo auf der Welt etwas passiert, das eine Gefahr gerade dafür sein könnte, dass wieder durch das Missverständnis die tatsächlichen Auseinandersetzungen davon verdeckt werden und nur noch oberflächliche Eindrücke bestehen bleiben. Wer nicht glaubt, dass es das gibt, der mag sich für eine kleine Sekunde an die Fernsehnachrichten des letzten Jahres zu erinnern versuchen und sich mal überlegen, wo er dort einen Marktplatz gesehen haben könnte. Wo haben Sie in der Tagesschau oder sonst irgendwo im Fernsehen einen Marktplatz gesehen? Was war da? Es gibt eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Sie entweder einen Marktplatz gesehen haben, auf dem Demonstrationen stattfanden. Oder einen Marktplatz gesehen haben, auf dem irgendwo auf der Welt möglicherweise gerade eine Bombe explodiert ist.
Die meisten Marktplätze auf der Welt sind weder Schauplatz von Demonstrationen, noch explodiert auf ihnen, Gott sei Dank, eine Bombe. Aber immer mehr Menschen denken daran, dass sie, wenn sie in bestimmte Länder gehen, nicht mehr auf den Marktplatz gehen sollten, weil da eine Bombe explodieren kann. Und keiner diskutiert über die Schönheit, über den Platz, über die kulturellen Sitten, über die Herkunft und alles, was damit verbunden ist. Es sei denn, es beginnt wieder jemand zu erklären: „Vorsicht! Es könnte sein, dass unsere weltweiten Medien ein Bild zeichnen, das mit dem wahren Bild der Dinge vor Ort nur noch teilweise übereinstimmt.“ Ich wünsche mir sehr, dass die Initiative der Vereinten Nationen Schule macht. Ich danke Ihnen, Herr Präsident Sampaio dafür, dass Sie die wichtige und ehrenvolle Aufgabe übernommen haben, als Hoher Repräsentant, diesen Gedanken in die Welt zu tragen!
Ich weiß schon jetzt, dass die Auseinandersetzung der letzten zwei Wochen Ihrer Allianz in Deutschland eine erheblich höhere Bekanntheit verschafft hat, als das vorher je der Fall war. Und das ist ja der Sinn einer Preisverleihung – auch wenn diejenigen, die den Preis verleihen, sich nicht vorgestellt hatten, dass sie es auf diesem etwas ungewöhnlichen medialen Weg erreichen würden. Ich bin ganz sicher, dass dieser Preis und die vorangegangenen Diskussionen ein Appell sind. Ein Appell an all diejenigen, die an unserer Gesellschaft mitbauen. An einer Gesellschaft, die modern sein will und sein muss. Einer Gesellschaft, die weltoffen sein will und sein muss. Aber auch eine Gesellschaft, die am Ende zusammenhalten muss. Und alle drei Dinge werden Herausforderungen sein, die einander bedingen. Manchmal haben wir mehr Probleme an dieser Stelle, manchmal an der anderen.
Die Verleihung heute in der Paulskirche führt uns an einen spannenden Ort. Denn als hier mit anderer Innenausstattung in unterschiedlichen Rängen gesetzt die Stände der Adligen und der Kaufleute aus den Regionen Deutschlands miteinander rangen, gab es zwischen ihnen massive kulturelle Unterschiede. Sie hatten ein unterschiedliches Bild voneinander: die Einen glaubten gar nicht, dass die Anderen etwas zu sagen hatten – und die Anderen wollten die Ersteren möglichst abschaffen. Das Ringen um die Verfassung von 1848 war ein Ringen um eine neue Dimension von Zusammenleben. Ein Ringen, bei dem alle etwas abgeben mussten und keiner behaupten konnte, dass wenn er sich ändert, es ein unangemessenes Verlangen sei. Das gilt auch heute noch für diejenigen, die in dieser Gesellschaft leben. Aber es gilt mit ebenso deutlicher Klarheit auch für diejenigen, die in diese Gesellschaft kommen. Um auf diesem Wege zusammenzufinden, dazu brauchen wir nicht nur unser Land Deutschland, sondern dazu brauchen wir eine Gemeinschaft auf der Welt. Denn wir müssen begreifen, dass wir in Deutschland zurzeit eine Entwicklung durchlaufen, die auch in anderen Ländern und Gesellschaften stattfindet.
Deshalb lassen Sie mich zum Abschluss auch sagen: wir befinden uns in einem Wettbewerb darüber, wem Integration gelingt. Und ich weiß, dass uns manches noch nicht gelungen ist. Ich bin mit manchem nicht zufrieden. Andere sind mit manchem nicht zufrieden. Ich bin mit manchen, die in der Integrationsarbeit tätig sind, nicht zufrieden. Manche sind mit mir nicht zufrieden. Aber eines sollten wir uns gemeinsam gelegentlich klar machen: wer schaut, wie unsere französischen Nachbarn in der Herausforderung der Integration in den Banlieues der Vorstädte zu kämpfen haben; wer schaut, wie unsere amerikanischen Freunde und Partner in einem Land, das auf Einwanderung aufbaut, oft zwischen die einzelnen ethnischen Gemeinschaften Polizeistreifen stellen müssen, weil sie, wie etwa in Florida, nur zweisprachig getrennt und in parallelisierten Gesellschaften einigermaßen friedlich miteinander leben – der sollte gelegentlich auch auf uns zurückschauen. Nach Frankfurt zum Beispiel. Einer Stadt, die es über fünfzig Jahre mit großem Aufwand geschafft hat, keine Stadtteilstrukturen wie in anderen Städten der Welt entstehen zu lassen; und dort, wo sie aufkamen, sie mit viel Aufwand wieder lockern konnte. Der sollte schauen in ein Land, in dem wir vergleichbare Konflikte nicht haben. Das ist kein Grund, zufrieden zu sein. Aber es ist ein Grund, selbstbewusst darüber zu sprechen, welche Herausforderungen und Möglichkeiten die Arbeit des Verständnisses von Menschen unterschiedlicher Meinungen und Überzeugungen nach Beseitigung der Missverständnisse ermöglicht.
Ich hoffe, dass von der Paulskirche auch heute ein solcher Appell ausgeht, und gratuliere den Preisträgern ganz herzlich!
Es gilt das gesprochene Wort!