Koch: „Es gibt kein Wohlstandsversprechen. Aber es gibt Wege, uns Wachstum und Wohlstand zu sichern“
Ministerpräsident Roland Koch im FAZ-Interview
FAZ: Herr Ministerpräsident, als wir das Gespräch vereinbart hatten, schien es, als werde es eine Unterhaltung über Ihr politisches Vermächtnis. Das sieht jetzt anders aus. Zugleich sieht die Welt, auch außerhalb Hessens, anders aus. Wie deuten Sie die Vorgänge der vergangenen Monate? Als eine partielle Krise? Oder erkennen Sie darin mehr?
Koch: Es ist weit mehr als eine normale Krise im regelmäßigen Auf und Ab. Wir kommen aus einer Zeit, in der zunächst die etablierte Wohlstandsökonomie Europas und Nordamerikas durch die Globalisierung schlicht von der Markterweiterung profitiert hat. In einer zweiten Stufe begannen wir zu begreifen, dass wir neue Konkurrenten bekommen haben. Und nun sieht man, dass systemische Krisen zum Beispiel durch Leerverkäufe nicht nur in New York, London oder Frankfurt, sondern auch in Schanghai entstehen können und sich dadurch Kräfte addieren, die einzelnen Staaten überlegen sind.
FAZ: Obwohl nur der Ruf nach dem Staat blieb.
Koch: Wir reden heute über kurzfristige ökonomische Risiken in Größenordnungen, die das volkswirtschaftliche Einkommen der meisten Staaten der Erde übersteigen. Das führt dazu, dass vieles als unüberschaubar empfunden wird, manches auch unabsehbar ist. Das verunsichert. Und diese Unsicherheit ist in einer freien Gesellschaft eine Herausforderung, denn sie führt zum Ruf nach dem Staat: Sichere mich. Und der Staat darf die Sicherung nicht verweigern.
FAZ: Täuscht der Eindruck, dass die Gewinner dieser Krise die Politiker sind?
Koch: Eindeutig ist kurzfristig zur Existenzsicherung der Staat in eine enorme Verantwortung gekommen. Da die politischen Akteure das im Großen und Ganzen, bei allen Fehlern, die man in Krisen macht, sehr ordentlich machen, steigt durchaus auch die ihnen zugetraute Kompetenz. Und zu den großen Herausforderungen gehört, dieses Gefühl sich nicht verselbständigen zu lassen, damit am Ende bei Bürgern und Politikern nicht der Eindruck entsteht, Politiker seien die besten Manager der Wirtschaft. Aber es bleibt auch, dass wir in der Politik nicht immer frei sind von einer gewissen Genugtuung, dass diejenigen, die uns bis vor wenigen Jahren noch erklärt haben, Unternehmen seien heimatlos, global, sie bräuchten ihre nationale Verankerung nicht mehr und wir Politiker wüssten prinzipiell nicht, was die wirklichen Herausforderungen der ökonomischen Zukunft sind, dass diese Leute jetzt doch häufig Antragsteller für Staatsbürgschaften sind. Und zwar nicht irgendwo in der Welt, sondern natürlich in ihrem jeweiligen Heimatland – wohl wissend, dass sie woanders solche Hilfe nicht bekämen.
FAZ: Waren diese Melodien – Standort, Privatisierung, globaler Wettbewerb – nicht auch ständig von der Politik zu hören?
Koch: Weiterhin gilt, dass unsere globale Wirtschaft nur als Marktwirtschaft funktionieren kann. Zudem muss ein demokratischer Staat um die Grenzen seiner Handlungsmöglichkeiten wissen. Klassische wirtschaftliche Aktivitäten kann er auf Dauer nicht vernünftig ausführen. Dazu ist er zu träge, hat zu viele Rechtfertigungszwänge und keinen angemessenen Umgang mit Risiken. Deshalb wird auch die von Ihnen genannte Melodie nicht verstummen, nur den Verbalstreit über Neoliberalismus kann man sich sparen.
FAZ: Das haben wohl auch manche Banken zu wenig getan. Wie steht ein Konservativer zu den Maßlosigkeiten der Finanzwelt?
Koch: Wir haben eine Ordnung, in der sich auch Egoismus ausleben kann. Zu viele sind am Ende stolz, Egoisten zu sein. Sie sind stolz darauf, wenn sie sagen können, dass sie Steuern hinterzogen haben. Viele Banker waren stolz darauf, wenn sie erzählen konnten, dass sie fast ihre ganzen Gewinne außerhalb der Bilanz gemacht haben. Und diese Gewinne außerhalb der Bilanz hat der Staat erlaubt. Das war aus meiner Sicht ein schwerer Fehler. Wir haben Leute groß werden lassen, deren Credo es war, das Risiko, das sie dadurch haben, jemandem Kredit zu geben, höchstens eine Sekunde in ihren Büchern zu haben, weil sie den Kredit nur gegeben haben, wenn sie ihn in der nächsten Sekunde schon einem anderen verkaufen konnten. Diese Leute haben permanent ihre Hände in Unschuld gewaschen und die Provision abgerechnet. Wir haben sie nicht gezwungen, wenigstens fünf, zehn, fünfzehn Prozent des Risikos selbst zu behalten. Das hat auch, aber nicht nur der einzelne Manager in der Bank entschieden, der rechtliche Rahmen hat es eben erlaubt. Das ist ärgerlich. Aber es ist auch eine Bestätigung, dass es auf eine gewisse politische Ordnung ankommt und dass Fehler, die die Politik gemacht hat, auch korrigiert werden können.
FAZ: Schaut man sich amerikanische Debatten an, erkennt man, dass aufgrund dieser Krise und der Bush-Regierung ein intellektueller Linksruck durch die Gesellschaft geht. Liegt darin nicht auch eine Frage an Ihre Partei?
Koch: Wenn man mehr Sorge hat vor Abstieg als Hoffnung auf Aufstieg, führt das zu verschärftem Verlangen nach Schutz. Wir haben darum eine Lage in den Wohlstandsstaaten, die ganz anders ist als die in den aufstrebenden Staaten, die sich im Augenblick zugleich als unsere neuen Märkte und unsere Konkurrenten entwickeln. Die Letzteren genießen Freiheit als eine fast sichere Erwartung von Aufstieg, wir anderen fürchten Freiheit oft als eine von vielen von uns befürchtete Erwartung von Abstieg. Und hier besteht jetzt die Gefahr, dass die Hilfe für die Banken die Moral der Zurückhaltung bei eigenen Forderungen sprengt. Ein Politiker wird in den nächsten Jahren nichts mehr zur volkswirtschaftlichen Konsolidierung vortragen können, ohne zu hören: Aber für die Banken habt ihr 500 Milliarden gehabt. Dass wir gar keine 500 Milliarden gezahlt haben, sondern der Staat am Ende, wenn zurückgezahlt worden ist, vielleicht sogar vier oder fünf Milliarden verdient, mit denen wir Schulen und Krankenhäuser bauen können, dürfte leider nicht allgemeine Erkenntnis geworden sein. Dieses Zerbrechen von Bescheidenheit in der Kombination mit Angst vor Abstieg wird uns noch sehr beschäftigen.
FAZ: Sie sind auch Staatsmann in einem gespaltenen Land. Wie gedenken Sie, im nächsten Jahr in Hessen gesellschaftliche Einheit zu befördern?
Koch: In der Demokratie ist es nicht einfach zu entscheiden, wann eine gesellschaftliche Auseinandersetzung auch ausgefochten werden muss und wann es klüger ist, den Konflikt abzuschwächen. Ich glaube, dass wir zum Beispiel bei der Frage, wie Arbeit in unserem Land richtig organisiert wird, in den letzten Jahren sehr heftige Konflikte hatten, die auch zu neuen Lösungen geführt haben. Wenn man einem Konflikt an der falschen Stelle aus dem Weg geht, bekommt man das nötige Ergebnis nicht. Trotzdem ist richtig: Wir werden in den nächsten Jahren herausgefordert sein, ein Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen, das Hoffnung schafft. Das sind die beiden Elemente des Leipziger CDU-Parteitages: den Staat zu reduzieren auf das, was er machen kann, und den Bürgern nicht so viele Abgaben abnehmen, dass sie immer unfreier werden. Die Frage ist, was wir dabei falsch gemacht haben, so dass der Eindruck entstehen konnte, nicht alle würden mitgenommen.
FAZ: Wir alle in diesem Raum sind sozialisiert von der alten Bundesrepublik, von den siebziger Jahren, der Willy-Brandt-Zeit: Aufstieg für alle. Kann es sein, dass inzwischen nur noch eine Minderheit diesen alten Aufstiegswillen zeigt?
Koch: Es gibt nach wie vor gerade bei jungen Menschen viele, die hart für den Aufstieg arbeiten. Aber prozentual sind diejenigen, die im unmittelbaren täglichen Existenzkampf des Erwerbslebens stehen, zu einer gesellschaftlichen Minderheit geworden. Das ist eine Folge des demographischen Wandels. Die zweite Entwicklung ist: Die Sozialsysteme seit Bismarck sind davon ausgegangen, dass ein steigender Wohlstand eine Erhöhung an Solidarität und damit eine faktische Marginalisierung des solidarischen Netzes schafft. Das exakte Gegenteil ist der Fall, je höher das durchschnittliche Wohlstandsniveau steigt, desto geringer ist die individuelle Solidarität. Umso bedeutender werden die Ansprüche und damit auch die Inanspruchnahme gesellschaftlichen Vermögens durch die sozialen Netze. Konkret heißt das: immer höhere Abgaben.
FAZ: Aber hat die CDU nicht auch lange Sicherheiten versprochen, wo keine waren, und unerfüllbare Erwartungen geweckt?
Koch: Eine Partei darf nicht einfach dem Zeitgeist hinterherlaufen. Aber eine Partei, die den Zeitgeist ignoriert, erfüllt ihre Funktion auch nicht. Sie wirkt dann nämlich nicht an der Willensbildung mit, sondern wird als reaktionär wahrgenommen. Auf der anderen Seite ist die Frage: Kann sie hart genug in ihren Prinzipien bleiben, um diese Wellenbewegungen so auszusteuern? Das Ziel muss klar bleiben, ich nenne das gerne den „Bahnhof“, den man erreichen will. Solange klar ist, wo der liegt, kann man auch mal Schlangenlinien oder Umwege fahren.
FAZ: Aber eine Schlangenlinie ist erlaubt?
Koch: Das ist in einer Demokratie nicht zu vermeiden. Andernfalls würde es nämlich bedeuten, dass kompromisslose Politik betrieben würde. Die Frage ist nur, ob wir noch gut genug sind, zu erklären, wo die unterschiedlichen Bahnhöfe sind: Individuum oder Kollektiv, das bleibt der grundsätzliche Unterschied. Wir einigen uns mit Sozialdemokraten über bestimmte Probleme der Renten-, der Gesundheits-, der Steuerpolitik bis hin zur Erbschaftsteuer deshalb nicht oder nur schwer, weil unser Verständnis von den individuellen Eigenheiten, Freiheitsrechten und Ansprüchen auf Risiko nicht zusammenpassen mit einer aus der Tradition eines Ferdinand Lassalle geborenen Position, dass erst der Schutz des Kollektivs dem Einzelnen ermöglicht, frei zu sein.
FAZ: Entsteht die Schlangenlinie vielleicht auch durch Demoskopie? Der Politiker hat ein Programm, und dann sagt die Umfrage: Das interessiert die Leute gar nicht. Und im Dezember sagt sie etwas anderes als im Januar. Die Fahrt hängt so vom Wahlkalender ab. Und der Politiker hat das Problem, dass er sich an Umfragen hält, die Leute dann aber sagen: „Das ist ja ein Populist!“
Koch: Dieser Formulierung kann man nicht so einfach widersprechen. Es gibt eine Beschleunigung schon dadurch, dass es früher einmal im Quartal Meinungsumfragen gab und heute beinahe täglich. Ich persönlich glaube aber, dass nur eine Partei, die es schafft, sich eine gewisse Distanz dazu zu bewahren, eine gute Partei sein kann. Und ich rate denen, die uns beobachten, darauf zu achten: Ist das eigentlich auf mittlere Sicht eine Politik, die eine innere Konsistenz hat, oder wo sind die Brüche, oder was ist aus den Brüchen geworden? Ein interessanter Fall bei unseren sozialdemokratischen Kollegen ist die Agenda 2010 von Gerhard Schröder. Das war ein systematischer Bruch, durch den die SPD dem Grundverständnis der CDU näher gekommen war. Dieser Kurswechsel wurde später wieder zurückgenommen, und die SPD ist wieder ganz in die alte Richtung gegangen. Damit macht sie der Linkspartei einen Weg frei, weil die ganz einfach behauptet: Wir machen den ganzen Quatsch dieses Hin und Hers einfach nicht mit. Wir haben eine einheitliche Position und noch dazu einen ehemaligen SPD-Vorsitzenden an der Spitze. Mir scheint, dass die SPD mehr Erfolg hätte, wenn sie entweder nach Schröder oder nicht nach Schröder führe, aber sie fährt seit Jahren Zickzack.
FAZ: Wenn Sie das so beschreiben, Individuum hier, Kollektiv dort, klingen Sie wie ein Liberaler. Wo ist der Konservative?
Koch: Das christliche Menschenbild, das uns prägt, unterscheidet sich von dem Werteverständnis der Liberalen. Die Erwartung an das Individuum, dass es als Preis für seine Freiheit eine bestimmte Form von Sozialität einbringt, ist sehr viel präziser formuliert, sehr viel moralischer als Anspruch als in den klassischen liberalen Schulen. Und das konservative – also das leicht retardierende – Element besteht darin, dass wir anerkennen: Ja, es gibt die Sorge, dass die Globalisierung uns eine Geschwindigkeit aufnötigt, die eigentlich für unser eigenes Leben schwer verkraftbar ist. Familie, Wohnort, Gemeinschaft – wie verhält sich das zum Beruf, zum Arbeitsmarkt, zu Erfordernissen der Industrie? Ich möchte eine sehr stabile Wertordnung, auch was das Verhalten der Menschen untereinander, was den Respekt vor staatlichen Institutionen und was das Wissen um nationale Identität, um Heimat und ihre Stabilität angeht. Aber ich kann nicht umhin, diese Gesellschaft fit zu machen für eine Interaktion auf globalen Ebenen. Dieses Spannungsfeld muss ein konservativer Reformer bewältigen.
FAZ: Das Wohlstandsversprechen war konstitutiv für die Bundesrepublik. Kann ein Politiker es heute noch geben?
Koch: Es gibt kein Wohlstandsversprechen. Aber es gibt Wege, uns Wachstum und Wohlstand zu sichern. Wenn Menschen in bestimmten Ländern dauerhaft mehr arbeiten, dann muss das ökonomisch für die, die weniger arbeiten, Folgen haben. Es sei denn, wir behaupten, wir seien kollektiv schlauer. Und im Augenblick wird es bei uns noch als ein Bestandteil des Wohlstandes, als ein Anspruch definiert, weniger zu arbeiten als andere. Das ist aber ein schlichter Irrtum. Diese Selbstverständlichkeit führt aber, von einem Politiker formuliert, zu Ärger, zu viel Ärger. Um diese Wege müssen wir ringen.
FAZ: Apropos Ärger. Nehmen wir G8, die Verkürzung der gymnasialen Schulzeit. Dem lag die Vorstellung zugrunde, dass es einen Weltarbeitsmarkt gibt, dass das Durchschnittsalter der Hochschulabsolventen in den Ländern unterschiedlich ist, dass man also schneller werden muss. Schulreform als Effekt einer von der Wirtschaft aus denkenden Politik. Warum sagt niemand: Gut, das ist die Wirtschaft, sie ist enorm wichtig, und wir hängen auch sehr an ihr, aber das hier ist die Schule, das ist etwas anderes?
Koch: Was ist Wohlstand? Letzten Endes ist Wohlstand die Abwesenheit von existentieller Not. Aber er ist zugleich ein alle Lebensräume umfassender Vorgang, weil die Chance, ein anderes als das ökonomische Leben zu leben, sich erhöht, wenn die Freiheit von existentieller Not sehr weitgehend ist. Wenn ich mich vor 5000 Jahren den ganzen Tag um das Jagen eines Wildschweins und das Sammeln von Beeren und das Aufrechterhalten eines Feuers hätte kümmern müssen . . .
FAZ: . . . ein in Hessen nicht mehr weitverbreitetes Berufsmuster . . .
Koch: . . . ja, aber ein Beispiel für existentielle Not. In dem Augenblick, wenn ich von Hartz IV lebe, bin ich schon Teil der Wohlstandsgesellschaft. In dem Augenblick, in dem die Gesellschaft kein Hartz IV zahlen kann, müsste ich etwas machen, um genug zum Essen zu haben, oder an der Suppenküche anstehen. Diese Frage ist über Jahrtausende nie obsolet geworden. Und deshalb ist erst eine Gesellschaft, die in der Lage ist, ihre Grundbedürfnisse auf einem Niveau, das man Wohlstand nennen kann, zu decken, in der Lage, allen gesellschaftlichen Schichten Zugang zu anderen Lebenserfüllungen zu ermöglichen. Insofern habe ich Probleme mit der Diskreditierung der Wirtschaft unter dem Gesichtspunkt: Fällt euch denn nichts anderes ein? Wohlstand definiert auch Freiräume. G8 ist eine ganz typische Frage, die uns Probleme macht, weil sie in der Tat ökonomisch daherkommt – eben als Berufsvorbereitung. Aber Ernst & Young in Eschborn ist es ziemlich egal, ob die jungen Leute, die sich dort bewerben, in London, Paris oder Frankfurt studiert haben. Und wenn der Londoner immer vier Jahre jünger ist, dann ist das nicht nur eine ökonomische Frage, sondern auch eine nach den interkulturellen Folgen der Tatsache, dass wir nicht isoliert leben.
FAZ: Jetzt wollen die Autohersteller gerettet werden. Könnte die Politik überhaupt sagen: Ihr geht jetzt mal alle pleite?
Koch: Das muss man sehr differenziert sehen. Ich glaube, dass die Europäische Union mit ihrem Wettbewerbs- und Beihilferecht da inzwischen eine ganz interessante Grundphilosophie hat, zu sagen: Wir sind bereit, euch kurzfristig zu helfen, aber wir wollen anschließend sehen, was ihr anders macht. Eine Bank, die geholfen bekommt, muss nachweisen, wie sie ihre Bilanz verändert, damit die Rettung des Restes legitimiert wird. Das gilt prinzipiell auch für die Automobilindustrie.
FAZ: Müsste man nicht sagen: Dummerweise haben wir uns konzentriert auf diese Branche, aber ihre Krise produziert Arbeitslose, sie ruiniert keine Wirtschaft.
Koch: Natürlich gibt es einen systematischen Unterschied zwischen der Finanzwirtschaft, die eine systemische Grundvoraussetzung für Wirtschaften ist, und der klassischen Industrie. Wenn wir die Automobilindustrie in Deutschland verlieren würden, müssten wir uns aber die Frage stellen, und die stellen wir in diesen Wochen ja: Verlieren wir sie, weil die Zeit unserer Autos vorbei ist – nirgendwo auf der Welt werden modernere Autos gebaut als bei uns –, oder verlieren wir sie infolge eines Dominoeffekts von Krisen, aus Gründen, die nicht dazu führen, dass automatisch woanders bessere Autos auftauchen? Das ist eine ganz schwierige Frage, deswegen sind wir ja sehr zurückhaltend. Der amerikanische Finanzminister Paulson hat ja immer diese betriebswirtschaftliche Parallelrechnung im Kopf: „Was kostet es mich als Staat und als Steuerzahler, diese Industrie kaputtgehen zu lassen, was kostet es mich, sie zu retten?“ Und solange der Grenznutzen der Rettung größer ist als der des Kaputtgehenlassens, so lange ist Retten wichtig.
FAZ: Was wurde nicht alles an solcher Rhetorik für Stahl und Kohle aufgeboten!
Koch: Vorsicht, Stahl und Kohle war wieder etwas anderes, weil wir gesagt haben, dass wir von den Rohstoffen anderer Länder nicht abhängig werden wollen.
FAZ: Das meint ja „Rhetorik“. Jede Industrie hat so ein Argument.
Koch: Schauen Sie doch jetzt ganz praktisch. Wir haben in der Automobilindustrie jetzt Betriebsstillstand, was nicht so sehr am deutschen Markt liegt, sondern daran, dass beispielsweise auf einmal der russische Markt ebenso wie der in Amerika zusammengebrochen ist. Diese Märkte werden aber wiederkommen. Wir wissen heute, dass Russland rund drei Millionen Autos kauft im Jahr, und wenn wir auf die Zahl der Menschen schauen, dann können wir davon ausgehen, sie werden sieben oder acht Millionen kaufen im Jahr. Weltweit verkaufen wir durchschnittlich im Jahr rund 60 Millionen Autos, und wir werden vielleicht im nächsten Jahr nur 50 oder 52 Millionen verkaufen. Ärgerlich, für viele betroffene Menschen bitter. Bedeutet das aber, dass wir nie mehr über 50 Millionen Autos verkaufen werden? Mitnichten. Es spricht eher einiges dafür, dass wir wieder 60 Millionen und mehr verkaufen werden. Jetzt haben wir eine Automobilindustrie, die wirklich an der Spitze der technischen Entwicklungsstränge steht. Einem Zulieferer in Herborn mit 60 oder 100 Leuten, der ein Spezialventil für Daimler oder BMW produziert, der viel investiert hat und viele Zinsen zahlen muss, nimmt jetzt wochenlang niemand mehr ein Ventil ab. Jetzt stehen sie als Politik schnell vor der Frage: Gebe ich dem eine Überbrückungsbürgschaft, damit er einen Kontokorrentkredit kriegt, den er von seiner Kreissparkasse oder Bank vor zwei Jahren ohne Ansehen jeder weiteren Details bekommen hätte? Heute steht er schweißnassen Bankern gegenüber, die sagen: „Wir sind doch nicht wahnsinnig, wir wissen nicht, wie’s mit den Autos weitergeht.“ Und damit zerstöre ich eine Industrie. Für den Politiker ist das die klassische Frage: Wo sind Grenzen marktwirtschaftlichen Handelns?
FAZ: Wenn aber irgendwo eine Schule keine Lehrer hat, dann sagt der Politiker nicht: Wenn ich die Schüler jetzt schlecht ausbilde, dann führt das zu einer gesellschaftlichen Katastrophe. Ist der Eindruck falsch, dass überall dort, wo es um Wirtschaft geht, Krisenszenarien einleuchten, aber bei anderen Bereichen spielt man eher mal auf Zeit?
Koch: Ich bin davon überzeugt, dass dieser Eindruck überwiegend falsch ist, aber trotzdem ist er da. Wir müssen uns mit diesem Phänomen auseinandersetzen. Für den, der das politisch-ökonomisch entscheidet, ist natürlich der Aufwand in Geld völlig unterschiedlich. Was wir für die Ventilhersteller ausgeben, ist lächerlich im Vergleich zu dem, was wir für die Bildung ausgeben. Denn dort schützen wir für ein paar Monate mit einer Bürgschaft einen Betrieb, und am Ende kostet es den Steuerzahler zumeist gar nichts, während die Schule dauerhaft hohe Kosten auslöst. Trotzdem haben wir in den letzten Jahren beharrlich in Bildung investiert. Auch ich habe die Staatsverschuldung in Hessen auf einem höheren Niveau zugelassen, weil ich nicht darauf verzichten wollte, die aus meiner Sicht nötigen Lehrer einzustellen. Und wir haben zugleich alle anderen Bereiche des Staates mit Sparprogrammen in ihrem Volumen reduziert. Wir haben den Arbeitnehmern der Landesverwaltung abverlangt, dass sie mehr arbeiten, auch, um den Bereich der Bildung stärken zu können. Was uns in Deutschland begleitet, ist allerdings, dass wir eine andere Gewichtung zwischen Sozialbudget und Bildungsbudget getroffen haben als die meisten anderen Länder. Unser Sozialbudget ist eines der größten der Welt. Das Bildungsbudget dagegen ist eher eines der kleinsten. Manches davon ist historisch bedingt und hängt an der demographischen Entwicklung, manches davon ist politisch bedingt. Der Konflikt besteht also nicht zwischen Wirtschaftsförderung und Bildung, sondern zwischen Sozialbudget und Bildungsbudget.
Die Fragen stellten Jürgen Kaube, Nils Minkmar und Frank Schirrmacher.