Rede Einführung von Uta Thofern in das Amt der Direktorin der Point-Alpha-Stiftung
Rede des Hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch zur Einführung von Uta Thofern in das Amt der Direktorin der Point-Alpha-Stiftung
Barockschloss Geisa, 10. Dezember 2008
Lieber Dieter Althaus, sehr geehrte Frau Thofern, Herr Bürgermeister, lieber Dr. Hamberger und Herr Dücker, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten, meine Damen und Herren,
Staatssekretär Walter Arnold und ich sind froh, heute hier sein zu können. Er hat mit denjenigen, die für die hessische Landesregierung über die Gründung der Point Alpha Stiftung verhandelt haben, etwas getan, was für Staatssekretäre in Finanzministerien ungewöhnlich ist: Er hat gerne Geld ausgegeben und damit die Voraussetzung dafür geschaffen, dass wir heute die Gründungsdirektorin der Stiftung in ihr Amt einführen können.
Dieter Althaus und ich waren gemeinsam der Auffassung, dass wir trotz der Terminschwierigkeiten gemeinsam hier sein wollten. Denn selbstverständlich sind wir uns darüber bewusst, dass ein solches Ereignis nicht ohne Symbolik ist. Solche Entscheidungen wie die, dass es Point Alpha gibt, und zwar als Gedenkstätte und nicht als ein von Gras überwuchertes Naturschutzgebiet, als Stiftung, die frei ist von materieller tagespolitischer Abhängigkeit, das sind Entscheidungen, die nicht selbstverständlich sind.
In den 20 Jahren, die seit dem Fall der Mauer vergangen sind, haben wir durchaus auch gelernt, dass solche Entscheidungen nicht frei sind von politischer Wertung. Die Erinnerung – die Kultur des Erinnerns, des Ermahnens, das Mitnehmen von Geschichte in die nächste Generation – ist nicht neutral. Wenn es um „Kaiser Karl“ geht, vielleicht. Aber solange die zeitgenössische Politik noch in der Nähe ist, ist die Erinnerung nie neutral. Sondern immer auch eine Botschaft und deshalb immer auch eine Positionsbestimmung.
Ich unterstreiche alles, was mein Freund und Kollege Dieter Althaus über die Auseinandersetzung gesagt hat, die wir in der Gesellschaft zu führen haben. Es geht darum, bestimmte Gesellschaftssysteme zu identifizieren als Systeme, die denknotwendig die Stromlinienförmigkeit gesellschaftlicher Entwicklung voraussetzen, die denknotwendig erklären, dass letzten Endes Einer auch über die Willensbestandteile der politischen Grundgesinnung des Anderen bestimmen darf. Und wenn dies nicht funktioniert, dann entwickeln diese Gesellschaftssysteme Instrumente, die die Beteiligten zwingen, dieser „Bestimmung“ nachzukommen. So wird das Instrument, dass wir in freiheitlichen Staaten ausschließlich als ein sehr stark kontrolliertes Strafrecht für Verhalten gegen die menschliche Ordnung und gegen das soziale Zusammenleben von Menschen kennen, auf einmal übertragen auf die Situation von gesellschaftspolitischen Meinungen, Verhältnissen und Entwicklungen. Das ist letztlich das, was man mit einem totalitären System verbinden muss: Dass es nicht funktionieren kann, wenn man den Menschen zwingt in eine bestimmte Richtung zu denken oder jedenfalls ihn zwingt zu schweigen, wenn er nicht in diese Richtung denken will.
Diese Frage ist ein Teil der Auseinandersetzung der Weltpolitik, und diese Frage wird uns in den nächsten Jahrzehnten und vielleicht auch Jahrhunderten beschäftigen. Es wird immer wieder eine Frage sein, die in der Tagespolitik unterzugehen droht, weil man gerade gute Geschäfte macht, weil man gerade in Frieden gelassen werden will oder was auch immer. Die Prioritäten sind nie eindimensional und in einer freiheitlichen Demokratie werden sie das auch nie werden. Aber wir sind verpflichtet, auch einer nachkommenden Generation jeweils verbindlich zu gewährleisten, dass sie nicht einen wichtigen Punkt übersehen, bevor sie entscheiden. Dass sie nicht übersehen, dass es neben manchen bequemen Argumenten auch sehr schmerzhafte Konsequenzen geben kann, wenn man zu bequem entscheidet.
Man muss wissen, was sich in der Geschichte entwickelt hat. Aber das ist eine sehr politische Debatte. Und es muss eine Debatte sein, die mehr Menschen erreicht als nur diejenigen, die sich entschließen politisch Verantwortung zu tragen. Sonst, und das sehen wir auch in der aktuellen Tagespolitik, wird sie sehr schnell zu einer Debatte, über die man sagt: „Vergesst sie doch im Vergleich zu den Dingen, die uns wirklich bedrücken und bedrohen.“
Und schon wieder gibt es diese Frage der Prioritäten. Das beginnt in den frühesten Jahren und beginnt nicht nur mit dem Lesen von Büchern. Meine Kinder sind jetzt 21 und 22, also sehr gute Beispiele des kurzfristigen, nach der „Wende“ beginnenden Erlebens. Und es ist nicht einfach, ihnen bewusst zu machen, wie anders die Welt kurz vorher noch war. Ihnen zu erklären, warum ihr Vater immer das Flugzeug nach Berlin genommen hat und nicht die Transitstrecke. Ihnen zu erklären, was es für die Bürgerinnen und Bürger der DDR bedeutet hat, auch nur manche Bücher zu lesen. Oder zu versuchen eine Vorstellung davon zu vermitteln, was es wahrscheinlich heute für die junge Generation bedeuten würde, wenn das Internet von der Stasi kontrolliert würde.
Um diese Tatsachen zu erklären, braucht es Bilder. Und Point Alpha schafft solche Bilder. Nicht in der Form der plumpen Provokation, sondern in der Herausforderung sich hinein zu denken, wie es gewesen sein könnte. Und dabei zu sehen, dass die Frage der Menschenrechte für das Schicksal des Einzelnen sich letzten Endes widerspiegelt im großen System.
Unterdrückung und Freiheit sind nicht nur Fragen zwischen Rasdorf und Geisa, sondern Fragen der Weltpolitik. Unterdrückung und Freiheit stehen sich irgendwo in der Welt immer gegenüber. Und sie bedrohen sich immer gegenseitig. Die Freiheit fühlt sich durch die mächtige, oft gut organisierte Macht der Unfreiheit bedroht. Und was wir oft unterschätzen: Die Unfreiheit fühlt sich immer durch die mächtige und große Kraft der Freiheit bedroht. Daraus entsteht Spannung, denn jeder will sich vor dem anderen schützen. Und daraus entsteht letztlich auch militärische Macht. Und aus militärischer Macht kann Krieg entstehen. Deshalb ist die Grenze von Freiheit und Unfreiheit nicht nur eine Frage, wie es einem Einzelnen geht, sondern immer auch ein Risiko für die Welt.
Das zu begreifen ist noch viel komplizierter als sich zu überlegen, wie ein von der Stasi kontrollierter Internetanschluss aussähe. Es ist noch viel komplizierter damit umzugehen. Und da ist Point Alpha einzigartig. Wer die Verfügungen sieht, wer die Pläne sieht, auf beiden Seiten heute in der militärischen historischen Forschung aufgearbeitet, der weiß, warum der Ort genau hier gewählt wurde. Nirgends hätten Truppen von der ehemaligen Grenze schneller nach Frankfurt kommen können – und das unter allen Umständen zu verhindern, war eben eine strategische Aufgabe. Die Logik von Freiheit und Unfreiheit, die zur Logik der militärischen Konfrontation werden kann, irgendwo auf der Welt materialisiert sie sich. Und ein solcher Punkt ist Point Alpha.
Deshalb muss dieser Ort erhalten werden. Es muss Menschen klar werden: Sie stehen auf einem Boden, an einer Baracke, an einem Wachturm, an dem sich in einer noch überschaubaren Vergangenheit, an die sich die eigenen Eltern noch erinnern können, die Frage von Krieg und Frieden für die ganze Welt hätte entscheiden können. Mit allen Folgen der Vernichtung, des Todes, der chemischen Waffen, der Kernwaffen, die alle in der Planung in diesem kleinen Planquadrat enthalten waren. Und erst wenn man es schafft junge Menschen mitzunehmen in diese Dimension, sie ein Stück auch einmal erschaudern zu lassen, um zu begreifen, worum es geht, erst dann knackt man die äußere Hülle der Coolness unserer Zeit, um darüber zu diskutieren, was Freiheit und Unfreiheit wert sind.
Das wird nicht immer gelingen. Dazu ist manchmal die Hülle schon zu stark. Aber es kann in sehr vielen Fällen gelingen. Und für uns, die in der Politik Verantwortung tragen, gibt es jedenfalls keine Rechtfertigung, es nicht bei jedem zu versuchen. Deshalb wollen wir eine solche Einrichtung auch für unsere Schulen nutzen. Wir reden darüber, wie wir eine Lehrkraft abstellen könnten, die unsere Klassen hier betreut, sie hierher begleitet. Um es deutlich zu sagen, in einer selbständigen Schule von heute gibt es keine Dienstanweisungen mehr, die einen solchen Besuch zwingend vorschreiben. Aber es gibt schon noch eine Chance mit großer Nachdrücklichkeit zu sagen, Punkte wie Point Alpha oder Hohenschönhausen gehören in die Lehrpläne eines Landes, das seine eigene Geschichte als Erfahrung nutzt.
Lieber Herr Dücker*, bei allem was wir hier sagen und was wir abstrakt darlegen können, bleibt auch wahr: Eine solche Einrichtung lebt nicht, weil irgendeine Ministerialbürokratie es beschließt. Sie lebt nur, wenn Menschen wie Sie mit ihrer eigenen Geschichte, ihrem Herzblut, ihrem Durchsetzungswillen da heran gehen. Und indem Sie gewissermaßen die Eigenschaften des im Museum ausgestellten Panzers in die aktuelle politische Wirklichkeit übertragen: Erfahrung, Nervenstärke, Charakter und Beharrlichkeit. Es ist ein großes Glück, wenn man diese Eigenschaften bei Menschen in konzentrierter Form vorfindet. Der Erhalt von Point Alpha ist ein Stück Ihres Lebenswerkes und Sie können sehr stolz darauf sein. Wir würden alle heute nicht hier sitzen, wenn Sie nicht so wären, wie Sie sind. Deshalb ein herzliches Dankeschön an dieser Stelle.
Ich bin froh, dass Sie Mitstreiter gefunden haben. Und ich bin Dr. Hamberger** sehr dankbar, dass er bereit ist aus der Fuldaer Erfahrung sein immer gelebtes Interesse an dieser Region und an diesem Punkt mit der Arbeit zu verbinden, die ein solches Vorhaben auch bedeutet. Sie übernehmen Verantwortung, um gemeinsam mit Frau Thofern und anderen das auf Dauer aufzubauen, was jetzt beginnt. Es soll ein gemeinsames Werk werden zwischen unseren beiden Bundesländern, das haben wir durch die Zustiftung am Anfang dokumentiert. Aber ich möchte, dass es dabei nicht bleibt, sondern dass wir es mit Leben erfüllen. Durch das Begegnen der Schulklassen mit den unterschiedlichen Erfahrungen ihrer Eltern, durch das Leben in der Region und durch die Bedeutung, die ein geistiges Zentrum mit seinen Veranstaltungen, Tagungen und Konferenzen haben kann, wie es die Stiftung werden soll.
Dafür wünsche ich Ihnen jeden nur denkbaren Erfolg. Ich bin sehr froh, dass wir diese Stiftungsstruktur geschaffen haben. Manche Finanzpolitiker mögen dies vielleicht nicht, weil es aus ihrer Sicht besser ist, einen jährlichen Zuschuss zu geben als einmal einen großen Betrag für das Stiftungskapital, dessen Zinsen dann für selbstverständlich genommen werden. Wir haben trotzdem in den letzten Jahren in Hessen sehr viele Stiftungen geschaffen, weil wir letzten Endes eines auch für wichtig halten: Die Unabhängigkeit der Institution. Wenn man über Freiheit redet, wenn man nicht will, dass alles zentral vorgeschrieben wird, dann ist es eben eine Tatsache, dass nicht alles in der Ministerialbürokratie entschieden werden kann, sondern dass es ein Eigenleben geben muss und Eigenverantwortung.
Ich habe die Finanzierung dieser Stiftung auch deshalb meinem Parlament gegenüber vertreten, weil ich will, dass sie sich unabhängig entwickelt und von niemandem politisch okkupiert, gehindert oder missbraucht werden kann. Und das ist ja in einer Demokratie auch eine wesentliche Grundlage. Das Gegenstück zu Unabhängigkeit und Selbständigkeit ist Verantwortung. Die haben Sie jetzt, liebe Frau Thofern. Wir übergeben Ihnen sozusagen einen Rahmen, in dem Sie die wichtigen farbigen Striche in den nächsten Jahren selbst ziehen müssen. Wir wollen Sie dabei begleiten und Unterstützung geben, aber nicht den Eindruck erwecken, dass Sie eine Chance hätten, die Verantwortung auf uns abzuschieben, sondern sie anzunehmen und zu sagen: „Ja, Point Alpha ist eine selbständige Stiftung.“ Die Stiftung hat ihr Eigenleben, sie ist unabhängig. Sie muss ihren Platz finden. Und es ist notwendig, dass sie ihn findet, denn sie wird gebraucht.
Alles Gute und viel Glück für die Zukunft!
*Berthold Dücker ist Vorsitzender und Mitbegründer des Fördervereins, aus dem die Point Alpha Stiftung hervorgegangen ist. Im Stiftungsrat hat er den stellvertretenden Vorsitz inne.
**Der Stiftungsratsvorsitzende Dr. Wolfgang Hamberger war von 1970 bis 1998 Oberbürgermeister von Fulda.