Koch: „Die Beschlüsse sind eine Katastrophe für das Land“
Ministerpräsident Roland Koch im Interview mit der „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Herr Ministerpräsident: Schon in neun Tagen könnte es nur noch „Herr Abgeordneter Koch“ heißen. Haben Sie sich mit dem Gedanken schon vertraut gemacht?
Koch: Ich bin in einer Demokratie aufgewachsen und habe politische Ämter immer in dem Bewusstsein angestrebt, dass es riskante Aufgaben auf Zeit sind. Aber ich lebe voller Optimismus, auch in diesen Tagen.
FAS: Bereitet Ihnen der erfolgreiche Abschluss der Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und Grünen keine Angst?
Koch: Doch, der macht mir sogar große Angst, aber nicht wegen meiner Person, sondern weil die Beschlüsse insbesondere zur Verkehrsinfrastruktur eine Katastrophe für das Land sind. Die Verwirklichung dieser Vereinbarung würde allen Hessen schaden, die wirtschaftlichen Zukunftschancen des Landes würden fast planmäßig zerstört. Der Ausbau des Frankfurter Flughafens, der sich in einem – ja, fast verzweifelten – Wettlauf mit anderen Weltflughäfen und der Zeit befindet, steht durch die angekündigten juristischen Winkelzüge wieder im Zweifel, zudem werden durch die vereinbarten Verzögerungen auch noch gewaltige Schadensersatzrisiken für den Landeshaushalt aufgebaut. Und für das für Nordhessen so entscheidende Projekt Flughafen Kassel-Calden, für das CDU, SPD und FDP gemeinsam eingetreten sind, wäre es schlicht der Tod. In den Fragen von Wirtschaft und Arbeit ist Frau Ypsilanti vor Grünen und Linkspartei total in die Knie gegangen.
FAS: Hat Sie das überrascht?
Koch: Von der Ankündigung der SPD und auch der Grünen, es müsse und werde sehr präzise Vereinbarungen mit den Linken geben, diese müssten – wie Frau Ypsilanti es formuliert hat – „genagelt“ werden, ist jedenfalls nichts übrig geblieben. Das hat aber als Konsequenz, dass man sich von der Linkspartei total abhängig macht. Beide Punkte, die katastrophalen Vereinbarungen bei der Verkehrsinfrastruktur und der Verzicht auf jede präzise Vereinbarung und Zusicherung der Linkspartei, werden womöglich am Schluss bei der Frage, ob Frau Ypsilanti gewählt wird, von einiger Bedeutung sein.
FAS: Hat es Sie überrascht, wie sich SPD und Grüne bei den vermeintlichen Sollbruchstellen, Ausbau der Flughäfen Frankfurt und Kassel und Erweiterung des Straßenverkehrsnetzes, geeinigt haben?
Koch: Frau Ypsilanti hat alles, aber auch wirklich alles dem Ziel unterworfen, dass sie endlich dran will. Das ist durchaus eine konsequente Vollendung ihres Wortbruchs; bei beiden Flughäfen – und das sind nun mal die Kernthemen für die Beschäftigung in unserem Land – hat die SPD eindeutige Zusagen gemacht, die sie jetzt zu Lasten der wirtschaftlichen Stärke Hessens opfert. Diese Minderheiten-Koalitionsvereinbarung würde Arbeitsplätze in Masse kosten. Da gerät es fast zu einem Randaspekt, dass man sich keinerlei Mühe gemacht hat, die zig Versprechungen auf deren Finanzierbarkeit zu überprüfen.
FAS: Wo sehen Sie in den Ergebnissen der rot-grünen Koalitionsverhandlungen die Handschrift der Linkspartei?
Koch: Das angekündigte staatliche Beschäftigungsprogramm ist nicht mal Bestandteil des sehr linken SPD-Programms, und die Grünen wissen, dass das objektiver Unfug ist. Das ist den Bedingungen der Linkspartei geschuldet. Das Gleiche gilt für das Versprechen, man werde den Wiederankauf des privatisierten Universitätsklinikums Gießen/Marburg prüfen. In Wahrheit gibt es dort nichts zu prüfen; zu finanzieren wäre der Rückkauf ohnehin nicht. Je unpräziser aber ein Koalitionsvertrag ausfällt und je weniger Zusagen von der Linkspartei abverlangt werden, desto größer wird deren Macht, von van Ooyen bis Lafontaine. Den Linken wird künftig jeder Kabinettsbeschluss vorgelegt, und dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder Herr van Ooyen sagt ja, dann kann der Beschluss zum Gesetz werden, oder er sagt nein, dann kann die Regierung ihr Vorhaben vergessen. Das ist noch dramatischer, als es in einer rot-rot-grünen Koalition wäre. Da ist die Abhängigkeit wechselseitig, in einer Minderheitsregierung ist sie einseitig.
FAS: Nun steht fest, dass Frau Ypsilanti sich am 4. November zur Wahl als Ministerpräsidentin stellen wird. Erwägen Sie, an diesem Tag auch zu kandidieren?
Koch: Nein. Die Lage ist klar: Frau Ypsilanti braucht eine Mehrheit, und sie behauptet, sie habe eine. Ich habe nach der Landtagswahl gesehen, dass ich derzeit keine Mehrheit habe. Die politischen Verhältnisse in Hessen werden zu neuen Gesprächen führen, wenn Frau Ypsilanti merkt, dass sie auch keine Mehrheit hat.
FAS: Eine Kandidatur aus taktischen Erwägungen, etwa um für Irritation zu sorgen, scheidet ebenfalls aus?
Koch: Frau Ypsilanti muss zeigen, ob sie 56 Stimmen hat. Ich halte das für höchst zweifelhaft. Das ist die Frage, die belastend im Raum steht. Ihre sehr persönlichen Machtansprüche haben viele denkbare Gespräche in den vergangenen Monaten verhindert.
FAS: Sie haben lange darauf gesetzt, die Grünen zu einer Jamaika-Koalition überreden zu können, das heißt zu einem Bündnis mit CDU und FDP. Wann haben Sie eingesehen, dass es sinnlos ist?
Koch: Ich bleibe dabei: Es ist zunächst einmal an den Grünen, bei ihrer Mitgliederversammlung zu klären, ob sie eine Koalition mit der SPD unter diesen Bedingungen wollen.
FAS: Wenn Sie sagen, es sei höchst zweifelhaft, dass Ypsilanti die 56 Stimmen bekommt, heißt das, Sie setzen auf Abweichler in der SPD, weil diese den Bruch des Wahlversprechens „Nicht mit den Linken“ nicht hinnehmen?
Koch: Ich weiß, dass viele Abgeordnete von SPD und Grünen befürchten, dass diese Art des Wortbruchs schwerwiegende Folgen für die politische Kultur haben und die SPD sehr lange belasten wird. Zumal der Wortbruch mit einer Richtungsentscheidung verbunden ist: Will ich mit den Vertretern einer Politik von gestern zusammenarbeiten, die dem Sozialismus und einer Ideologie anhängen, die spätestens mit der deutschen Einheit endlich überwunden zu sein schien, oder will ich ohne sie etwas gestalten? Zu dieser Richtungsentscheidung hatte Frau Ypsilanti vor der Wahl hundertfach eine glasklare Aussage getroffen, die sie jetzt bricht. Damit macht die hessische SPD die Linkspartei im Westen hoffähig und diskreditiert alle gegenteiligen Erklärungen der Herren Müntefering und Steinmeier. Diese zentrale Frage wird in der Minute der Wahl oder Nichtwahl von Frau Ypsilanti für die gesamte deutsche Sozialdemokratie entschieden.
FAS: Abgesehen vom Wortbruch, was wäre quälender für Hessen: ein rot-grün-rotes Experiment oder weitere Monate einer nur geschäftsführenden Regierung?
Koch: Wenn ich sehe, welche Rolle Hessen in der aktuellen Finanzmarktkrise spielt und dass wir als Regierung wichtige und von allen akzeptierte Schritte zu mehr Nachhaltigkeit gehen, dann haben wir in den vergangenen Monaten durchaus auch Politik gestaltet. Trotzdem ist eine geschäftsführende Regierung natürlich kein Zukunftsmodell. Ich bleibe dabei: In der Sekunde, in der feststeht, dass Frau Ypsilanti keine Mehrheit im Landtag hat, beginnt die entscheidende Phase für die Landespolitik. Viele glauben ja, es gebe danach einen Automatismus für Neuwahlen. Völlig falsch. Dann beginnt die Zeit für ernsthafte Prüfungen. Nicht nur bei der CDU, die ja schon viel Kompromissbereitschaft gezeigt hat. Sicherlich beginnt ein solcher Prozess bei den Grünen, aber wohl auch bei der SPD.
FAS: Haben Sie Signale, dass dann die Grünen über Jamaika auch ohne Neuwahlen noch einmal nachdenken würden?
Koch: Ich glaube, dass dann sowohl SPD als auch Grüne noch einmal nachdenken. Signale gibt es auf der Welt viele, es fragt sich nur, welche am Ende gelten.
FAS: Was wäre Ihre erste Option: Neuwahlen oder der Versuch, aufgrund des Wahlergebnisses vom 27. Januar eine Koalition zu bilden?
Koch: Wir sollten uns als Politiker weiterhin darauf verständigen, dass wir in Demut mit dem Wahlergebnis zu leben und zu arbeiten haben. Auf der anderen Seite ist klar, dass die Phase einer geschäftsführenden Regierung nicht endlos fortgesetzt werden kann.
FAS: Wäre angesichts der Finanzkrise und einer drohenden Rezession jetzt nicht eine große Koalition in Hessen ratsam, um die notwendigen, schwierigen Entscheidungen durchsetzen zu können?
Koch: Wir stehen ganz sicher vor schwierigen Zeiten, von denen das Land Hessen, weil hier die werthaltigen Branchen besonders vertreten sind, stärker betroffen sein wird als andere Bundesländer. In der Finanz- und Haushaltspolitik wird in den nächsten Jahren auf keinen Fall etwas leichter. Als ich vor neun Jahren Ministerpräsident geworden bin, galt Hessen unter Rot-Grün als ein nicht wirtschaftsfreundliches Land. Seitdem haben wir zahlreiche Kurskorrekturen für Wirtschaft und Arbeitsplätze vorgenommen. Hessen zählt mit Bayern und Baden-Württemberg zu den wirtschaftsstärksten Bundesländern. Unter einer von der Linkspartei abhängigen rot-grünen Minderheitsregierung wird Hessen diesen Status wieder verlieren, selbst wenn die Grünen heute pragmatischer sein dürften als vor zehn Jahren.
FAS: Ist die große Koalition also eine Alternative?
Koch: Ich habe immer gesagt, dass man nach diesem Wahlergebnis bereit sein muss, über alle Konstellationen zu reden. Natürlich ist die programmatische Übereinstimmung zwischen CDU und FDP am größten, aber dass Hessen eine handlungsfähige Regierung in der Mitte der Gesellschaft braucht und keine, die von Linksradikalen abhängt, erschließt sich doch fast jedem. Doch es war Frau Ypsilanti sehr persönlich, die die Tür zur Union mit einer Wucht zugeschlagen hat, wie das zuvor noch nie jemand getan hat. In meinen Augen haben die Sozialdemokraten auf ihren Vorschlag hin einen Irrsinnsbeschluss gefasst, als sie jegliche Kooperation mit der CDU grundsätzlich ausgeschlossen haben.
FAS: Haben Sie für sich einen Plan B für den Fall, dass Frau Ypsilanti zu Ihrer Nachfolgerin gewählt wird? Zieht es Sie dann in die Bundesregierung?
Koch: Ich hätte oft nach Berlin wechseln können, aber meine Entscheidung, Hessen den Vorzug zu geben, ist eine sehr prinzipielle. Ansonsten halte ich es mit dem Motto: Diskussionen über Ereignisse, deren Eintritt ich nicht für wahrscheinlich halte, sind nicht hilfreich.
FAS: Für wie glaubwürdig halten Sie die Beteuerungen der SPD, dass eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei auf Bundesebene auch nach einem hessischen Sündenfall ausgeschlossen bliebe?
Koch: Parteien sind ein Gesamtkunstwerk, da gibt es keine strenge Trennung zwischen den Landesparteien und der Bundespartei. Deshalb hat die Bundes-SPD eine Gesamtverantwortung und natürlich auch das Recht, auf die Einhaltung von Prinzipien zu pochen. Als Harald Ringstorff Mitte der neunziger Jahre in Mecklenburg-Vorpommern eine rot-rote Koalition mit der damaligen PDS auf die Beine stellen wollte, drohte ihm der SPD-Bundesvorsitzende Rudolf Scharping mit einem Parteiausschlussverfahren.
FAS: Sie hätten von der SPD-Bundesspitze beim ersten rot-roten Bündnis in einem westlichen Bundesland eine ähnlich entschlossene Haltung erwartet?
Koch: Die SPD-Bundesparteiführung muss entscheiden, was sie in einer so zentralen bundespolitischen Frage in einem Landesverband toleriert und was nicht. Wenn die SPD nicht will, dass man ihr im Bund eine Annäherung an die Linke unterstellt und ihr gegenteilige Beteuerungen nicht abnimmt, muss sie das in Hessen verhindern. Und Herr Müntefering und Herr Steinmeier müssen wissen: Wenn Frau Ypsilanti mit ihrem Wortbruch erfolgreich ist, erhöht das die Wahrscheinlichkeit, dass sich die SPD nach der nächsten Bundestagswahl in der Opposition wiederfindet, dramatisch. Weil ihr niemand mehr glauben wird.
Das Interview führten Ralf Euler und Helmut Schwan.