Der Stamm lebt aus den Wurzeln
Ein Beitrag von Ministerpräsident Roland Koch in der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“
Siebzig Prozent der Mitglieder der „Linken“ sind ehemalige SED-Mitglieder. Das sei heute kein Thema mehr? Darauf hinzuweisen, dass „Die Linke“ eben keine normale demokratische Partei in unserem Traditionenverständnis ist, sei ewig gestrig?
Die deutsche Parteientradition besagt etwas anderes, nämlich, dass die Wurzeln jeder einzelnen Partei bedeutend sind. Wer die Grundsatzprogramme der großen deutschen Parteien liest, merkt das sofort. Diese Parteien lassen sich in ihrem heutigen Denken und Handeln nur aus ihrer Gründungsgeschichte heraus verstehen. Sie ist ihr Stolz und ihre Identität zugleich. Für die SPD ist es ihr Ursprung als kollektiver politischer und sozialer Schutzschirm einer zuvor handlungsunfähigen und oft ausgebeuteten Arbeiterschaft, für die FDP ist es die Tradition des freiheitlichen Bürgertums, für die Grünen ist es das Aufbegehren gegen den Ressourcenverbrauch durch die moderne Industriegesellschaft, und für die CDU/CSU ist es die Idee der aus der christlichen Würde entwickelten freien und sozialen Gesellschaft ohne Konfessions- und Klassenunterschiede. Spätestens in den Zeiten der Krise setzt jede Partei in Deutschland ihre Existenz aufs Spiel, wenn sie sich warum auch immer von ihren Wurzeln abwendet, ihre Traditionswähler verprellt. So falsch man es auch finden mag, die geradezu manisch verkrampfte Haltung der Grünen beim Thema Kernkraft ist wohl der eigenen Gründungsgeschichte geschuldet und deshalb so unverrückbar.
In Hessen wird dieses für die Stabilität unserer politischen Ordnung so wichtige Bekenntnis zu den politischen Wurzeln von Seiten der Landes-SPD und ihrer Vorsitzenden fast rauschhaft ignoriert. Die Wurzeln des angestrebten Machtpartners „Die Linke“ werden übersehen, obwohl sie die SED und das DDR-Unrechtsregime sind. Der vereinsrechtliche Eintragungsantrag der Partei beim Amtsgericht Berlin-Charlottenburg beseitigt alle Zweifel. Da heißt es: Die Partei gab sich zunächst den Namen „SED/PDS“ und nannte sich seit Februar 1990 „Partei des demokratischen Sozialismus/PDS“. Seit dem 17. Juli 2005 führt die Partei den Namen „Linkspartei“. Die SED hat bis heute nicht, wie oft öffentlich behauptet wird, eine Rechtsnachfolgerin. Die SED gibt es noch. Sie heißt nur anders. Das ist die Geschichte der Partei „Die Linke“.
Deshalb ist es auch nur konsequent, wenn der Vorsitzende der Partei, Lothar Bisky, am Abend vor dem Entstehungsakt der „Linken“ am 15. Juni 2007 sagte: „Wir diskutieren die Veränderung der Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse. Wir stellen die Systemfrage.“ Es ist eben immer noch die SED. Und wenn Oskar Lafontaine am 7. Juni 2008 in Stuttgart sagte: „Das jetzige Wirtschaftssystem ist nach unserer Auffassung verfassungswidrig“, dann passt das genau in diese Linie. Mehr noch, angesichts von 70 Prozent Linke-Mitgliedern, die schon in der DDR zur SED/PDS gehörten, sind das die ehrlichen Wurzeln dieser Partei. Ohne ein Bekenntnis zu diesen antifreiheitlichen und auch antidemokratischen Wurzeln würde „Die Linke“ sich selbst aufs Spiel setzen.
Es gab gute Gründe, nach der friedlichen Revolution von 1989 die SED nicht zu verbieten. Daher haben wir sie bis heute. Aber eine in unserem Parteienverständnis normale Partei ist „Die Linke“ eben nicht.
Doch warum ignoriert die traditionsreichste deutsche Partei, die SPD, diese Zusammenhänge in Hessen? Die erfolgreiche Nachkriegsgeschichte der SPD ist die Geschichte von Kurt Schumacher, Ernst Reuter und Willy Brandt. Es ist aber auch die Geschichte der Zwangsvereinigung zwischen SPD und KPD im Osten und ebenso der Sozialdemokraten, die in Bautzen saßen, und derjenigen, die im Namen dieser „Systemveränderer“ starben. Wie kann eine Partei mit diesen tiefen Wurzeln darüber hinwegsehen, dass sie gerade auf dem Weg ist, abhängig von denen zu werden, die zum Beispiel mit Hans Modrow eine Leitfigur haben, die von 1967 bis zur Revolution von 1989 im Zentralkomitee der SED saß und in den letzten Monaten der DDR im Zusammenhang mit Wahlfälschungen auffiel. Der Ehrenvorsitzende Modrow hatte mehr als zwei Jahrzehnte lang mit dafür gesorgt, dass Menschen, die jene Diktatur verlassen wollten, dafür als „Republikflüchtlinge“ eingesperrt wurden.
Parteien, die in der freiheitlichen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg verwurzelt sind, können ohne Verlust ihrer Identität nicht mit der Partei „Die Linke“ zusammenarbeiten. Vor dem 27. Januar dieses Jahres wusste das auch Andrea Ypsilanti, zumindest hat sie so gesprochen und versprochen. Nach dem Wahltag erinnerte sich nur noch Dagmar Metzger daran. Und in wenigen Wochen beabsichtigen SPD und Grüne in Hessen alle Gesetzesinitiativen jeweils der Fraktion „Die Linke“ zur Genehmigung vorzulegen, und die entscheidet dann, was in Hessen noch geschehen darf. Die Entwurzelung der SPD findet in aller Öffentlichkeit statt, und keiner kann sagen, er hätte es nicht bemerkt.