Rede des Einweihung der neuen Kinderklinik, Universitätsklinik Gießen
Rede des Hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch anlässlich der Einweihung der neuen Kinderklinik, Universitätsklinik Gießen
16. Juni 2008
Sehr geehrter Herr Geschäftsführer Meder,
Herr Vorstandsvorsitzender Pföhler,
sehr geehrter Herr Universitätspräsident Prof. Dr. Hormuth,
Herr Dekan Prof. Dr. Weidner,
sehr verehrter Herr Oberbürgermeister Haumann,
verehrte Gäste, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter!
Im Namen von Staatsministerin Silke Lautenschläger, die in Personalunion für die Ressorts Soziales sowie Wissenschaft und Kunst zuständig ist, im Namen des stellvertretenden Ministerpräsidenten und Gießener Landtagsabgeordneten Volker Bouffier sowie im Namen aller Mitglieder des Hessischen Landtages, die heute hier anwesend sind, freue ich mich, dass wir ein Jahr nach der Grundsteinlegung nun den Neubau der Kinderklinik als ersten von zwei Bauabschnitten einweihen können.
Wir sind uns alle darüber einig, dass dies heute ein beachtlicher Schritt in die richtige Richtung ist. Es ist keineswegs selbstverständlich, dass ein seit kurzem privatwirtschaftlich organisiertes Universitätsklinikum seine Arbeit gerade – provozierend gesagt, „ausgerechnet“ – mit dem Bau einer neuen Kinderklinik beginnt. Dies lässt eine gewisse Symbolik erkennen, die sich bereits in den Gesprächen, die das Land Hessen mit dem Rhön-Klinikum und anderen Bewerbern seinerzeit geführt hat, feststellen ließ. Schließlich gehört neben der Spitzenmedizin gerade auch die medizinische Grundversorgung der Region zu den Aufgaben des Universitätsklinikums Gießen-Marburg. Entsprechend wichtig ist es, dass durch die aktuellen Baumaßnahmen die gesamte Breite des medizinischen Spektrums abgebildet wird – ohne dass dabei allein betriebswirtschaftliche oder berufsständische Interessen in den Mittelpunkt gestellt werden.
Das Bauwerk, dessen Einweihung wir hier feiern, liegt mit seiner Ausstattung weit über dem Durchschnitt für vergleichbare Einrichtungen an deutschen Universitätskliniken. Durch die Bildung eines besonderen Schwerpunktes in der Kinderheilkunde werden zum einen die betriebswirtschaftliche und die wissenschaftliche Seite verbunden. Zum anderen wird durch die fachspezifische Ausstattung und Ausrichtung ein Platz geschaffen, wie es in vergleichbarer Qualität nur wenige in Deutschland gibt. Das stellt nicht nur eine besonders gute Regelversorgung für Kinder in dieser Region sicher, sondern ermöglicht darüber hinaus auch eine Spitzenversorgung für Kinder in ganz Deutschland.
Die heutige Einweihung ist aber auch deshalb von Bedeutung, da sie einen weiteren Schritt in der Verwirklichung einer Konzeption darstellt, die mit der Zusammenführung zweier Universitätskliniken, verbunden mit deren Privatisierung, begonnen wurde. Verständlicherweise verfolgt die Öffentlichkeit diese Entwicklung mit großem Interesse – manchmal auch mit Sorge und Skepsis. Es wird vermutlich noch Jahre dauern, bis alle diese Sorgen und Ressentiments widerlegt sind. Darüber hinaus wird die hier privatisierte Klinik wohl immer am Absoluten gemessen werden. Dass die Verwirklichung dennoch voranschreitet, sehen wir in Gießen und Marburg an den Grundsteinlegungen, den Richtfesten und Einweihungen, die die Medizinlandschaft in Mittelhessen in den nächsten Jahren begleiten werden. Und diese räumlichen Voraussetzungen sind schließlich nur ein – wenn auch nicht unbedeutender – Teil des gesamten Projektes.
Es geht bei alledem nicht nur um die Frage, wem wie viele Investitionssummen zur Verfügung stehen, dies möchte ich ausdrücklich betonen. Vielmehr geht es darum, wie eine medizinisch und betriebswirtschaftlich sinnvolle Konzeption für die Gesundheitsvorsorge einer Region entwickelt werden kann. Wir haben uns in Hessen entschieden, die unterschiedlichen Entwicklungen über einen längeren Zeitraum parallel zu beobachten. Wir haben bei dem Universitätsklinikum, das aus den Standorten Gießen und Marburg gebildet wurde, die Krankenversorgung in private Hände gegeben. Gleichzeitig betreiben wir das Universitätsklinikum Frankfurt weiterhin in öffentlicher Verantwortung. Beiden Einrichtungen liegen jeweils für sich sehr erfolgversprechende Konzepte zugrunde. Und in keinem der Fälle stiehlt sich der Staat aus der Verantwortung: In den nächsten zwölf Jahren wird mit dem hessischen Hochschulbauprogramm HEUREKA nahezu eine Milliarde Euro allein in die bauliche Infrastruktur der Hochschulen Gießen und Marburg investiert. Dies beinhaltet auch die Medizin, jedoch zu einem geringeren Anteil als an anderer Stelle, da ein Teil der Krankenversorgung ja nun einmal in privater Organisation liegt. In Frankfurt dagegen werden auch weiterhin Hunderte von Millionen aus dem Landesetat in das Klinikum investiert. Gleichwohl richtet sich auch dort die Frage, ob das Klinikum seine Leistungsfähigkeit behalten wird, nicht zuletzt nach dem einen oder anderen betriebswirtschaftlichen Kriterium.
Ich warne jeden in der gesundheitspolitischen Diskussion davor zu glauben, dass es an dieser Stelle Privilegien gibt, die man beruhigt als gesichert betrachten kann. Wir haben inzwischen eine Diskussion darüber – die Ministerpräsidenten haben dies gerade letzte Woche erörtert –, dass die Europäische Union ein Beihilfeprüfungsverfahren zu der Frage eingeleitet hat, ob es gerechtfertigt ist, aus öffentlichen Haushalten Zuschüsse zu den Krankenversorgungselementen von Kliniken zu gewähren. Dieser europäische Rechtsstreit wird an vier Kliniken in Deutschland, unter anderem an dem Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, exemplarisch abgearbeitet. Auch in Hessen gibt es große städtische Kliniken, die hiervon betroffen sind. Diese dienen als Beispiel für die Frage, ob es eine öffentliche Rechtfertigung dafür gibt, Leistungen mit Zuschüssen zu versehen, die man auch ohne allgemeine Steuermittel aus der speziellen Aufgabe der Krankenversorgung erbringen kann. Diese Diskussion ist also keine rein deutsche, sondern eine europaweite; und sie betrifft alle, die in der Politik und der medizinischen Versorgung Verantwortung tragen.
In Hessen gibt es Landkreise, die ihr Krankenhaus privaten Betreibern als Schenkung anbieten, um den Versorgungsauftrag sicherzustellen. Von dieser Situation sind wir hier in Gießen und Marburg nicht nur weit entfernt, sondern wir liegen beim exakten Gegenteil. Wir sind in der angenehmen Lage, dass hier eine ganze Medizinregion aufblühen kann, wenn man wissenschaftliche Leistung und medizinische Krankenversorgung auf modernste Weise miteinander verbindet. Das wird jedoch nie völlig konfliktfrei vonstatten gehen. So stellen etwa Themen wie die Pflege- oder die Personalsituation eine aktuelle Herausforderung dar und werden dies wahrscheinlich auch noch eine ganze Zeitlang tun. Trotz allem wird eine Gesellschaft darauf Wert legen müssen zu versuchen, das Bestmögliche schnellstmöglich zu volkswirtschaftlich vertretbaren Kosten zu erlangen. Keine dieser Fragen kann ausgeklammert werden, sie müssen aber in ein angemessenes Verhältnis zueinander gebracht werden. Eine blinde Betriebswirtschaft ist einem Krankenhaus nicht zuträglich, andererseits führt aber auch die Fokussierung auf einzelne Elemente der Krankenversorgung zu keiner ausgeglichenen Bilanz. Aus diesem Grund reden wir auch über die „Gesundheitsregion Mittelhessen“ als einem umfassenderen Ansatz. Das, was wir hier erproben, erstreckt sich nicht nur auf ein Universitätsklinikum, sondern geht weit darüber hinaus, und zwar nicht nur in Gestalt von wissenschaftlicher Kompetenz. Beispielhaft möchte ich an dieser Stelle die telemedizinische Betreuung nennen, die hier zu einem wesentlichen Teil erarbeitet wurde und Standards für viele andere medizinische Einrichtungen in Deutschland setzt. Die Telemedizin, die in Gießen entwickelt wurde, verkörpert eine neue Form von Zusammenarbeit zwischen niedergelassenen Ärzten und Kliniken. Sie ermöglicht die Früherkennung von Krankheiten und deren ambulante, dezentrale Behandlung unter Zuhilfenahme von Kenntnissen und Fähigkeiten der Universitätsklinik. Hier wird eine Qualitätskette sichergestellt, die eben nicht nur am Ende bei den hoch spezialisierten Feldern der Universitätsklinik, sondern im gesamten medizinischen Bereich zu vertretbaren wirtschaftlichen Bedingungen bestmögliche Leistungen im Einzelnen erbringt und dies mit einer breiten Wissenschaft verbindet, die sich außerhalb der normalen Klinik entwickelt.
Auch der Neubau des Biomedizinischen Forschungszentrums an der Justus-Liebig-Universität Gießen ist ein Hinweis darauf, dass wir noch mehr erreichen wollen. Diese Region beschäftigt sich bereits heute mit Medizintechnik und wird diese Betätigung auch zukünftig weiter ausbauen. Um aber in diesem Bereich einen wirklichen Fortschritt zu erzielen und einen Spitzenplatz zu erringen, braucht man private Investoren. Schließlich können diese viel schneller und flexibler als der Staat auf sich verändernde Bedarfslagen reagieren, zum Beispiel bei der Anschaffung neuer Geräte. Wir leben in einer Welt – und dieser Trend wird sich künftig eher noch verstärken – in der es eine wachsende Zahl an Wettbewerbern um die gesundheitliche Versorgung der Menschen gibt. Die Medizin hat gerade in unserer Gesellschaft, in der die Menschen immer besser betreut und vor allem immer älter werden, einen hohen Anteil an den volkswirtschaftlichen Aufwendungen. Wir dürfen den Anspruch, gerade in diesem Sektor zu den führenden Regionen Deutschlands und Europas zu gehören, nicht aufgeben, denn sonst würden wir die Herausforderungen der Zukunft nicht bewältigen können. Der Staat allein kann nicht allen Erfordernissen adäquat begegnen. Vielmehr müssen wir immer wieder prüfen, ob wir angesichts der gesellschaftlichen Verschiebungen im Bereich der Gesundheit über die richtigen Instrumente verfügen. Das ist letztlich der Grund, weshalb wir beides haben – auf der einen Seite ein Universitätsklinikum in privatisierter Form wie in Gießen-Marburg und auf der anderen Seite eines in öffentlicher Hand wie in Frankfurt. Diese Handlungsweise zeigt, dass wir nicht ausschließlich auf Privatinvestoren setzen, zugleich aber auch den öffentlichen Akteuren signalisieren, dass sie in einem Wettbewerb stehen.
Gerade Kindermedizin ist aufwendig und kostspielig. Die Pädiatrie umfasst das gesamte Spektrum vom Frühgeborenen bis zum Jugendlichen. Unter den Bedingungen des zunehmenden Kostendrucks in den Kliniken kommt es insbesondere in den Kinderkliniken darauf an, dass der erhöhte personelle Aufwand in der Pädiatrie ausreichend dokumentiert ist. In den Anfangsjahren des DRG-Systems (DRG = Diagnosys Related Groups) mit seinen Fallpauschalen war dies noch nicht gegeben – überwiegend bedingt durch eine nicht optimale Kalkulation der Kosten. Mit weiterer Optimierung der Kalkulation und mit Nachweis der in der stationären Kinderheilkunde entstehenden Kosten wurde inzwischen aber eine bessere Finanzierung der Pädiatrie ermöglicht. Sowohl die Politik als auch der Berufsstand müssen sich solche Veränderungen im Gesundheitsbereich eingestehen. Wir haben die Verpflichtung, uns den Herausforderungen der neuen Strukturen zu stellen, um ein gerechtes medizinisches Versorgungssystem für Jung und Alt auf- und auszubauen.
Die Situation in Hessen ist gerade in der pädiatrischen Versorgung überaus zufriedenstellend: Bundesweit werden in Deutschland mehr als 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen immer noch in Erwachsenenkliniken, also in nicht-kindgerechter Umgebung behandelt. In Hessen hingegen werden 77,4 Prozent aller unter 18-Jährigen in Krankenhäusern versorgt, die eine Kinderklinik haben. In der Altersgruppe der Null- bis Zehnjährigen sind es sogar 88,4 Prozent; bei den Null- bis 14-Jährigen immerhin noch 84,1 Prozent. Die Entwicklung geht demnach in die richtige Richtung. Um dies weiterzuführen, braucht es jedoch eine ausreichende Zahl an Betten, eine gute Kooperation mit niedergelassenen Ärzten sowie die Bereitschaft der Eltern, für eine stationäre Behandlung der Kinder auch eine etwas weitere Wegstrecke zurückzulegen. Die Attraktivität der medizinischen Versorgung im Krankenhaus, also das Wissen, dass das Kind in guten Händen ist, hat hieran großen Anteil. Dafür haben wir an diesem Standort eine ausgezeichnete Grundlage geschaffen. Ich bedanke mich daher bei allen, die bereit waren, daran mitzuwirken.
Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche medizinische Arbeit zum Wohle der Kinder und Jugendlichen hier in Mittelhessen. Alles Gute für die Zukunft!
Vielen Dank.