Rede 200-jähriges Bestehen der Industrie- und Handelskammer Frankfurt
Rede des Hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch anlässlich des 200-jährigen Bestehens der Industrie- und Handelskammer Frankfurt
Frankfurt am Main, 23. Mai 2008
Sehr geehrter Herr Präsident Tonnellier,
sehr geehrter Herr Bundesminister, lieber Michael Glos,
sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin, verehrte Frau Roth,
meine sehr verehrten Damen und Herren!
Wer sich einmal intensiver mit der Eigenart von Geburtstagen beschäftigt, erfährt sehr schnell, dass es eine volkstümliche Altersdefinition nach dem Kriterium gibt: Wenn die Geburtstagstorte bestellt wird und die Kerzen dabei aufgrund ihrer Anzahl teurer werden als der Kuchen, dann beginnt das Altern. Die Industrie- und Handelskammer Frankfurt hat dieses Dilemma dadurch vermieden, dass sie eine so große Torte in Form eines Festes bestellt hat, welches hier in den Räumen des Kammergebäudes und auf dem Börsenplatz stattfindet, dass sie sich zu Recht jung fühlen kann.
Aber trotzdem: 200 Jahre sind eine stolze Zeit für eine stolze Organisation. Wir alle haben wohl durch die Geschwindigkeit der Entwicklungen in unserer Welt ein Stück von der Fähigkeit verloren, solche 200 Jahre überhaupt noch in ihrer Dimension erfassen zu können. Es spricht vieles dafür, dass sich die ökonomischen Rahmenbedingungen in den ersten 140 Jahren nicht einmal halb so stark verändert haben wie in den letzten 60 Jahren. Und es spricht manches dafür, dass durch die fortschreitende Globalisierung in den letzten 15 Jahren mehr passiert ist als in den 45 Jahren zuvor. Dass wir heute auf der einen Seite diese unglaubliche Geschwindigkeitszunahme erleben und auf der anderen Seite die Einrichtung einer ehrbaren Kaufmannschaft mit 200-jähriger Tradition feiern dürfen, die sich diesen Herausforderungen stellt und bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben in der Summe auch außerordentlich erfolgreich ist, ist eine durchaus beachtenswerte Tatsache. Dabei wird diese Tatsache wahrscheinlich – wie manches Andere in unserem Land zurzeit auch – fast als Selbstverständlichkeit hingenommen, obwohl sie im internationalen Wettbewerb eine sehr große Leistung darstellt. Ich sage das, weil ich glaube, dass wir neben den berechtigten Sorgen und Schwierigkeiten, mit denen wir in dieser Zeit des schnellen Wandels konfrontiert sind, leider auch viel zu oft das Vertrauen zu verlieren scheinen, dass wir das, was bereits die Generation unserer Eltern und Großeltern bewirkt hat, unter den heutigen Herausforderungen noch einmal bewerkstelligen können. Das aber wird notwendig sein – und es ist möglich.
Die Industrie- und Handelskammer repräsentiert Mitglieder, die heute vor der Aufgabe stehen, in einem Markt, der nicht mehr einige hundert Millionen Teilnehmer, sondern in Milliarden zu zählende Teilnehmer hat, in einem Markt, der nicht einige wenige Länder als Benchmark und Vergleich, sondern ganze Kontinente als Benchmark und Vergleich hat, erfolgreich zu sein. Das wirkt gelegentlich bedrohlich. Wenn man beispielsweise die Unterschiede in den Löhnen und Gehältern sieht; oder wenn man sieht, wie sich Kapital-Agglomerationen bilden, mit denen man früher mühelos hätte Staaten kaufen können, dann kann man sich durchaus bedroht fühlen. Es wirkt auch deshalb bedrohlich, weil wir in dieser zunehmend digitalisierten Welt von vielem gleichzeitig erfahren, was wir früher nur in homöopathischen Dosen zur Kenntnis genommen hätten. In dieser Zeit mutig zu bleiben, ist bei der heutigen Informationsfülle schwieriger als es bei geringerer Informationsdichte wäre. Insgesamt erleben wir eine Veränderung unserer Lebenswirklichkeit, in der wir mit all der Rationalität, der gegenseitigen Prüfung, der Gutachten, der Wirtschaftsprüfer, der Berater und der Consultants, immer schwieriger fertig werden. Deshalb stellt sich gerade an einem international vernetzten Wirtschaftsstandort wie Frankfurt am Main in besonderer Weise die Frage, ob es uns am Ende gelingen kann, aus all diesen Entwicklungen eine Aufwärtsbewegung aufrecht zu erhalten, wie wir sie über Jahrzehnte in der Bundesrepublik Deutschland zuvor gehabt haben.
Ludwig Erhard – und die heutige Feier wäre natürlich undenkbar ohne den Geist Ludwig Erhards – hat dazu einmal gesagt:
„Der Deutsche entfaltet in der Stunde der Not höchste Tugenden. Die Frage bleibt, ob er im gleichen Maße den Stunden des Glücks gewachsen ist.“
Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir in einer analytischen Gesellschaft noch größere Probleme haben festzustellen, wann eine Stunde des Glücks ist. Und deshalb gilt auch jetzt: Die Unternehmen, gerade auch die Unternehmen hier in dieser Region, haben in den letzten Jahren Beachtliches geleistet. Wenn wir über die Finanzindustrie reden, ist es keine Selbstverständlichkeit, dass ausgerechnet die deutsche Finanzindustrie in einer schweren internationalen Krise relativ an Stärke gewonnen hat, obwohl sie natürlich selbst von dieser Krise mit betroffen ist. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass kluge Führungen einer Europäischen Zentralbank binnen zehn Jahren diese Europäische Zentralbank zu einer mit der amerikanischen Notenbank gleichberechtigten Institution gemacht haben. Es ist nicht selbstverständlich, dass wir hier sehr viele mittelständische Unternehmen haben, die heute sagen, „Globalisierung ist für uns eine Chance“, während viele mittelständische Unternehmen außerhalb dieses Ballungsraums die Globalisierung zu einem größeren Teil für eine Bedrohung halten. Und es ist keineswegs selbstverständlich, dass man sich hier als Repräsentanten der Industrie- und Handelskammer auf den Weg gemacht hat, die Entwicklung dieser Region aktiv mitzugestalten – sei es beispielsweise durch Herrn Dr. Niethammer in der Frage des Mediationsverfahrens zum Frankfurter Flughafen, sei es in der Frage der Schaffung einer gemeinsamen Kulturregion oder sei es bei den vielen anderen Themen, bei denen diese Industrie- und Handelskammer glücklicherweise eben auch immer das Spannungsfeld zwischen der großen Stadt Frankfurt und der sie umgebenden starken Landkreise abbildet. Diese Kontraste gehören untrennbar zueinander. Unternehmer leben nicht als Einzelmenschen, sondern sagen am Ende zu Recht – gerade auch die Mittelständler und Personenunternehmen: „Wir Unternehmer!“ Deshalb ist die Kammer, ist die Selbstorganisation dieser Unternehmer nach wie vor schon für den Einzelnen im Unternehmen wie auch für die Identitätsstiftung innerhalb der Gesellschaft eine wichtige Einrichtung.
Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass hier bereits über die Tradition des ehrbaren Kaufmanns gesprochen wurde. Die Selbstverwaltung einer Unternehmerschaft in Form einer Industrie- und Handelskammer ist auch eine gesellschaftliche Botschaft, die bis zum heutigen Tag nicht nur durch das Präsidium, sondern durch das Leben in vielen Gremien immer wieder demonstriert wird. Und es ist eine wichtige Botschaft, dass die kurzfristige Gewinnrendite zwar ein wichtiges Kriterium für das Überleben, aber keineswegs das einzige Kriterium für die Motivation eines Unternehmens ist. Wenn Sie noch ein Zitat gestatten, Hermann Josef Abs hat dazu in dieser Stadt gesagt:
„Gewinn ist notwendig wie die Luft zum Atmen, aber es wäre schlimm, wenn wir nur wirtschaften würden, um Gewinn zu machen, wie es schlimm wäre, wenn wir nur leben würden, um zu atmen.“
Der Geist und die Botschaft dessen, was wir heute auch als Corporate Social Responsibility bezeichnen – das schlichte Wissen des Unternehmers, dass wenn es der Gemeinschaft um ihn herum nicht gut geht, er keine Chance hat, Erfolg zu haben –, ist ein Stück Verpflichtung zum Gemeinwohl. Die Industrie- und Handelskammern, wie auch die Handwerkskammern, sind institutioneller Ausdruck zur Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwohl. Sie sind deshalb ein – wie ich finde bis zum heutigen Tag – sehr berechtigter Teil der staatlichen Selbstverwaltung. Ja, sie sind ein Teil Staat, bei allem Respekt vor dem Privaten. Wenn man Unternehmer ist, ist man automatisch auch Mitglied der Industrie- und Handelskammer, ohne dass man austreten kann; so wie man Bürger in einem Staat ist und nicht einfach aus dieser staatlichen Gemeinschaft austreten kann. Man genießt dadurch einen gewissen Schutz und Vorteile, hat andererseits aber auch eine moralische Verpflichtung zur Mitwirkung. Jeder sollte sich sogar im Klaren darüber sein: Wenn man sich nicht einbringt und engagiert, geht man das Risiko ein, dass die Dinge am Ende schlechter sind, als wenn man mitgewirkt hätte. Das zeigt sich in unserer gesamten Wirtschaftsordnung sehr eindrucksvoll. Jedes Mal, wenn der Deutsche Bundestag, der Hessische Landtag oder eine Stadtverordnetenversammlung – bei allem Respekt – denken, sie könnten in detaillierten Wirtschaftsfragen genauso kluge Beschlüsse fassen wie die Versammlung der IHK, dann irren sie. Denn die Unternehmer, die an dieser Stelle Entscheidungen treffen, sind viel näher am Geschehen dran und erleben die praktischen Folgen ihrer Entscheidungen unmittelbar – womöglich sogar schon am darauffolgenden Tag.
Ein wichtiger Aspekt der Selbstverwaltung ist auch die berufliche Ausbildung. Man sollte, wie ich finde, sehr deutlich sagen: Wenn man sieht, welches gesellschaftliche Engagement die Unternehmer durch die Kammer in der beruflichen Ausbildung in den letzten Jahrzehnten geleistet haben, wie die Präsidenten und Hauptgeschäftsführer fast schon als „Bettler“ durch das Land gezogen sind, um jeden einzelnen Unternehmerkollegen noch einmal dazu zu bewegen, der jungen Generation vielleicht doch noch einen weiteren Ausbildungsplatz zur Verfügung zu stellen, dann ist dies eine großartige Leistung für das Gemeinwohl. Es ist maßgeblich ein Verdienst der Unternehmerschaft, dass die duale Ausbildung in Deutschland nicht zerstört worden ist. Oft stand man kurz davor, dass Politiker hätten sagen müssen: „Wenn ihr das nicht hinbekommt, bleibt es bei unserer Verantwortung für die jungen Menschen. Am Ende haben diese einen Anspruch darauf, dass wir ihnen die Eintrittskarte in das Erwerbsleben in Form einer Ausbildung geben. Wenn ihr als Wirtschaft dies nicht könnt, müssen wir es als Staat machen.“ Wir waren oft an der Grenze, wo dies politisch diskutiert werden musste. Und wenn die duale Ausbildung erst einmal abgeschafft worden wäre, dann hätten wir sie in den nächsten 100 Jahren nicht mehr wiederbekommen. Dass es so weit nicht gekommen ist, stellt letztlich eine großartige Leistung dar, auf die die Kammern außerordentlich stolz sein können.
Deshalb verbinde ich meine Glückwünsche zum Geburtstag der IHK Frankfurt mit einem herzlichen Dankeschön an die Führung, an die Mitarbeiter und an die vielen Ehrenamtlichen, die sich regelmäßig die Zeit nehmen, in den verschiedenen Gremien wie den Berufsbildungsausschüssen, Normungsausschüssen und Unterkommissionen der Hauptversammlung mitzuwirken. Sie sind es, die diese Selbstverwaltung leben. Und es sind nicht nur einige wenige, sondern eine ganze Menge Unternehmer. Ihnen wünsche ich, dass sie diese Kraft und Motivation auch in den nächsten Jahrzehnten – nehmen wir einmal 50 Jahre für die unmittelbar Betroffenen und dann gerne noch weitere 150 Jahre bis zum nächsten Fest – beibehalten. Dazu braucht es Freude an der Arbeit und eine ordentliche Portion Optimismus.
Dies alles kann nur gelingen, wenn wir das Selbstbewusstsein derer, die etwas geleistet haben, fördern. Dieses Selbstbewusstsein lässt sich schöpfen, wenn man sich die Erfolge der vergangenen Jahre vor Augen führt und diese Erfahrungen mit den aktuellen Herausforderungen verbindet: Wenn man zum Beispiel darüber redet, dass in den letzten Jahren viele Menschen wieder neue Arbeit gefunden haben; wenn man darüber redet, dass die Staatsquote heute deutlich niedriger ist als noch vor fünf Jahren – und dass sie jedes Jahr weiter sinkt; wenn man über die Frage redet, wie wir es schaffen können, solch eine Aufgabe wie den Ausbau des Frankfurter Flughafens mit allen seinen komplizierten Genehmigungsverfahren zu realisieren; oder auch, wenn man darüber redet, dass wir jetzt eine gemeinsame starke Währung haben und nicht mehr mit den Risiken leben müssen, die eine nationale Währung damals mit sich brachte.
Dieses Selbstbewusstsein wünsche ich der IHK Frankfurt und ihren Mitgliedern für die nächsten Jahre und Jahrzehnte.
Vielen Dank!