Im Tibetkonflikt hat sich das IOC gegenüber China bislang naiv und mutlos verhalten. Das muss sich vor den Olympischen Spielen ändern – Ein Betrag von Ministerpräsident Roland Koch in der Wochenzeitung „Die Zeit“
Der olympische Fackellauf unter dem Motto »Reise der Harmonie« ist zu einem weltweiten »Lauf für Menschenrechte« geworden. Die Fackel hat Licht auf viel Schatten geworfen, auf das Schicksal eines Volkes, das sich seit Jahrzehnten in größter existenzieller Not befindet, dessen religiöse und kulturelle Identität seit langer Zeit stark bedroht ist. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass in Deutschland und Europa, in der ganzen Welt über den Zusammenhang der tibetischen Frage mit den Olympischen Spielen, über die Menschenrechtsfragen und die völkerverbindende Funktion des Sports offen diskutiert wird. Es beklemmt allerdings, dass das tibetische Volk erst wenige Monate vor dem Beginn der Spiele im Zusammenhang mit bedrückenden Bildern endlich diese mediale Aufmerksamkeit erhält. Klar ist: Die Unruhen in Tibet ereignen sich nicht, weil bald Olympische Spiele stattfinden, sondern weil wegen der Olympischen Spiele die Unterdrückung der Tibeter durch Peking immer stärker wurde. Und nur den vielfältigen Aktionen vor Olympia ist es zu verdanken, dass die chinesische Führung den Dialog mit den Tibetern wieder aufgenommen hat.
Die Lage ist außerordentlich ernst. Seit vielen Jahren bin ich mit vielen Tibetern, vor allem mit jenen im Exil, eng verbunden. Aus den häufigen Kontakten ist in rund 20 Jahren eine sehr vertrauensvolle Beziehung zum Dalai Lama geworden. Im letzten Jahr haben wir uns mit einer hessischen Delegation auf Einladung der chinesischen Staatsführung ein Bild vor Ort machen können. Bei allem Respekt vor vielen wichtigen, zumeist wirtschaftlichen Aufbauleistungen der chinesischen Staatsführung bleibt doch die kulturelle Einengung auf Schritt und Tritt spürbar. Da merkt man in Museen, wie das eine oder andere Kapitel der tibetischen Geschichte unterschlagen wird. Für mich war und ist es immer wieder Zeichen besonderer Stärke, dass das religiöse Oberhaupt der Tibeter seine innere Empörung und seine äußere Erregung sehr wohl voneinander zu unterscheiden weiß. Trotz der unterdrückenden Maßnahmen steht er für Friedfertigkeit und Annäherung. Von Anfang an hat mich die Einfachheit, die Glaubwürdigkeit der Mission des Dalai Lama begeistert. »Mein erstes Ziel ist es, auf der Grundlage, dass ich mich als ein Mensch unter den Menschen betrachte […], die Werte von Liebe und Mitgefühl und Mitmenschlichkeit zu vermitteln und zu verstärken, weil sie das eigentliche Fundament unseres Wohlergehens sind« mit diesen Worten hat er nach der Entgegennahme des Hessischen Friedenspreises vor drei Jahren seine erste Priorität deutlich gemacht.
Und einen ganz entscheidenden Satz hat der Dalai Lama vor 15 Jahren in seiner berühmt gewordenen Rede vor der UN-Menschenrechtskonferenz formuliert: »Wer anderen Leid zufügt und ihren Frieden und ihr Glück verletzt, schafft auf lange Sicht nur Bedrängnis, Furcht und Misstrauen gegenüber sich selbst.« Dieser Schlüsselsatz ist jetzt aktueller denn je. Er macht deutlich, dass es letztlich im chinesischen Interesse liegt, den bestehenden Konflikt friedlich zu regeln.
Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg. Für die westliche Welt geprägt vom europäischen Aufklärungsgedanken verwirklicht sich wahrer Frieden nur in Verbindung mit Freiheit, Demokratie und Menschenrechten. Das ist unsere, die westliche Sichtweise. In Respekt und in Achtung vor anderen Kulturen und Kulturkreisen, in denen auch historisch ver schie den artige Wertvorstellungen eine grundsätzliche Bedeutung für die Organisation von Staat und Gesellschaft haben, müssen Prozesse der Annäherung gewählt werden. Um diesen Spagat auch und gerade vor dem Hintergrund der größten Sportveranstaltung ertragen zu können, hilft nur eine Kultur des Dialogs. Dafür sind wegen der religiösen Demut der Tibeter eigentlich gute Voraussetzungen gegeben. Sie versuchen nicht, die Strukturen Chinas zu unterminieren. Auf Terrorakte, um Aufmerksamkeit auf ihre Situation zu lenken, haben sie verzichtet. Der Dalai Lama hat immer die Integrität des chinesischen Staatsgebietes als Grundlage von Gesprächen herausgestellt und strebt eine friedliche Koexistenz innerhalb des chinesischen Staatsgebietes an. Sogar mit der Trennung von geistiger und weltlicher Führung wurde ein Signal gesendet. Dieses jahrelange demütige Ausharren der Tibeter hat jedoch nicht das Geringste damit zu tun, dass sich dieses Volk etwa dem Schicksal mir nichts, dir nichts fügen würde. Das wäre ein großes Missverständnis. Die Stärke der Tibeter ist ihr Prinzip der Gewaltlosigkeit. Nur gemeinsam mit dem Dalai Lama kann der Prozess von Dialog und Verständigung erfolgversprechend geführt werden.
Bei den Regierenden in China gibt es durchaus Kräfte, die erkennen, dass es klug wäre, den Prozess zu Lebzeiten des Dalai Lama anzuschieben. Denn ohne ihn als großen Integrator und anerkannten Führer der Tibeter besteht die große Gefahr, dass sich die unbestreitbar schon jetzt vorhandenen Fliehkräfte in einer unkontrollierbaren Entwicklung Bahn brechen werden.
Auch der Sport, gerade getragen von der olympischen Idee, hat hier eine besondere Funktion zu erfüllen. Und das Internationale Olympische Komitee (IOC) ist eine durchaus mächtige Einrichtung, eine der einflussreichsten Or gani sa tio nen auf dem Erdball. Für die Volksrepublik China ist es eine sehr mächtige Einrichtung, weil auch noch so kleine Hinweise zu Menschenrechtsfragen unmittelbare Rückwirkungen und Einflüsse auf das Ansehen des Landes haben können. Ohne die Vollversammlung des IOC mit dem Plenum der Vereinten Nationen vergleichen zu wollen, scheint mir der Einfluss des IOC jedenfalls prinzipiell stärker zu sein, als aus der einen oder anderen Äußerung von Sportfunktionären zu entnehmen ist. Kurz nach der Nominierung Pekings vor gut sieben Jahren haben namhafte Funktionäre des IOC von einer sich anbahnenden neuen Ära für China gesprochen. Andere meinten eher fordernd, dass innerhalb von zwei Jahren deutliche Fortschritte in der Menschenrechtsfrage erkennbar sein müssten. Wenige Monate vor der Eröffnung der Spiele wissen wir, dass eher das Gegenteil eingetreten ist. Die schlichte Frage darf erlaubt sein: Hätte nicht früher und deutlicher die Menschenrechtsfrage offensiv und kontinuierlich angesprochen werden müssen? Dass IOC-Präsident Rogge im letzten Jahr in Peking auf dem Platz des Himmlischen Friedens (!) eine Rede hielt, ohne das Wort Menschenrechte auch nur in den Mund zu nehmen, war naiv und mutlos. Ich habe bei meinen Gesprächen mit der chinesischen Führung in den letzten Jahren durchaus mit Respekt die Erfahrung gemacht, dass die chinesische Führung gesprächsbereiter und -fähiger ist, als es die IOC-Führung wissen will. Auch Sportfunktionäre sind gut beraten, mit kritischer Neugier zu fragen, zu ermahnen und Druck zu machen. Der alte olympische Ausspruch »Schneller, höher, weiter!« sollte auch für die Verbandsfunktionäre noch Geltung haben. Und die Weltöffentlichkeit? Sie muss und wird aufpassen, dass die Gesprächsfäden mit den Exil tibetern nicht nur geknüpft worden sind, um im Vorfeld der Olympischen Spiele »gut Wetter zu machen« und den angestrebten Erfolg für das Ansehen Chinas in der Welt zu garantieren. Es bieten sich viele Chancen. Dann kann der »Lauf der Menschenrechte« die erste Etappe einer langen Reise der Harmonie, des Glücks und des wahren Friedens sein.