Ministerpräsident Roland Koch im Interview mit „Die ZEIT“
DIE ZEIT: Herr Koch, wie lange hält die Große Koalition nach Münteferings Rücktritt?
Roland Koch: Die Große Koalition wird bis zum Ende der Wahlperiode ihre Arbeit machen, weil das, was sie für das Land tut, gut für das Land ist, und weil es im Interesse beider großen Parteien liegt, das Vereinbarte ordendlich zu Ende zu bringen. Die Große Koalition hat die Chance genutzt, eine Reihe wichtiger Veränderungen durchzusetzen, auch wenn der Korridor der Gemeinsamkeiten begrenzt ist. Und das wird sie auch weiterhin tun. Selbstverständlich streben wir bei den nächsten Bundestagswahlen an, dass uns die SPD nicht mehr beim Regieren stört.
ZEIT: Die SPD hat der Union nach dem Koalitionsgipfel „Wortbruch“ vorgeworfen. Das klingt nicht nach einer gesicherten Perspektive.
Koch: Das ist Propaganda. Wir stehen nicht im Wort, einen Mindestlohn. zu vereinbaren, wenn die Tarifbindung in der Branche weniger als 50 Prozent der Beschäftigten umfasst. Das ändert aber nichts am Bestand der Koalition. Sie ist handlungsfähig, und sie beweist das jeden Tag von »Wohn-Riester«, also einer Alterssicherung durch geförderten Immobilienerwerb, über Erbschaftssteuer bis zu den Umweltprojekten, die im Dezember ins Kabinett kommen. Es ist nicht so, dass diese Regierung nichts mehr entscheidet.
ZEIT: Kurt Beck will weiter von Mainz aus SPD Politik vertreten statt Koalitionskompromisse in Berlin. Eine kluge Entscheidung?
Koch: Die Vorstellung, man könne von einer Landeshauptstadt aus das Gegengewicht zur Großen Koalition bilden, halte ich für eine ziemliche Illusion. Wenn man während einer Legislaturperiode Parteivorsitzender wird, erwartet niemand, dass man andere im Kabinett verdrängt, nur damit die Hackordnung hergestellt wird. Aber das Amt des Vizekanzlers auf dem Silbertablett präsentiert zu bekommen und bewusst abzulehnen wird Beck Autorität kosten. Entweder ist Beck ein bedeutungsloser Parteivorsitzender, dann kann er aus Mainz erklären, was er will, oder er ist ein wichtiger Parteivorsitzender, dann ist er an die Kompromisse der Großen Koalition genauso gebunden wie jeder Minister. Dazwischen gibt es nichts. Kurt Beck hätte beweisen können, dass er ein guter Vizekanzler ist und dass er bundespolitisches Profil hat. Das wollte er offenkundig vermeiden. Ich weiß nicht, ob ihm das vorschwebt, aber eines ist klar: Als Störenfried wird man nicht Kanzler.
ZEIT: Haben Sie eigendlich mit Müntefering sympathisiert, als er seinen einsamen Kampf gegen die Aufweichung der Agenda gefochten hat?
Koch: Franz Müntefering hat seiner Partei mit der Agenda 2010 viel zugemutet. Die SPD-Mitglieder, die sich an den Informationsständen der Partei angreifen lassen mussten, weil sie zu Müntefering und zu Schröder standen, müssen sich heute die Frage stellen, ob man das nicht alles einfacher hätte haben können. Ich denke, Müntefering ist nach wie vor davon überzeugt, dass man es eben nicht einfacher haben kann. Diese Meinung teile ich. Insofern ist Müntefering natürlich, jenseits der privaten Entscheidung, für die ich Hochachtung empfinde, Opfer dieses populistischen Richtungsschwenks, den die SPD im Augenblick vollzieht.
ZEIT: Aber die Union hat ihn nicht unterstützt, im Gegenteil, sie hat durch ihren Beschluss zur Verlängerung des Arbeitslosengeldes den Prozess mit in Gang gesetzt.
Koch: Wir haben diesen Prozess nicht in Gang gesetzt. Es ist nicht so, dass der CDU-Bundesparteitag im letzten Jahr die Frage der Verlängerung des Arbeitslosengeldes das erste Mal auf die Tagesordnung gebracht hat. Das war bereits Bestandteil unseres Wahlprogramms zur Bundestagswahl. Das Problem ist, dass zu viele diese Entscheidung als Symbol benutzen. In der SPD war sie nur eine Camouflage für eine ganze Reihe weiterer Forderungen. Eigentlich ging es stellvertretend um alle Reformelemente, mit denen die Staatsfinanzen und die Sozialversicherungssysteme stabilisiert werden sollen. Das war nie der Gedanke der Union. Insofern konnte sich Müntefering auf uns verlassen.
ZEIT: Ist die Union immun gegenüber weitergehenden populären Forderungen?
Koch: Immun ist eine große Volkspartei nie, wenn in der Öffentlichkeit die Hoffnung keimt, der Staat hätte wieder genügend Geld, um den Sanierungskurs zu lockern. Ich glaube aber, dass die CDU stark genug ist, diesen Verlockungen zu widerstehen. Wir sollten uns vor dem Glauben hüten, dass die Krise überwunden ist.
ZEIT: Sie haben vom gemeinsamen Korridor der Koalition gesprochen. Den will die SPD jetzt erweitern. Zur Debatte stehen der Mindestlohn, das Schonvermögen für Hartz-IV-Empfänger, Ausnahmeregelungen bei der Rente mit 67 oder die Pendlerpauschale. Und Ihre Partei wird diesen Verlockungen widerstehen?
Koch: Ich bin kein Wahrsager. Aber für mich ist klar: Ich bin dafür, dass wir am Kurs festhalten, und ich glaube, dass wir in der Partei dafür eine große Mehrheit haben. Wenn die Menschen zu den vielen Einzelthemen befragt werden, votieren sie leicht für einen garantierten Mindestlohn und für manch andere Wohltat. Warum sollte man anderen Menschen auch nicht prinzipiell das eine oder andere gönnen? Aber wenn die Frage gestellt wird, ob es vernünftig ist, alles wieder auf den Stand von 2003 oder davor zurückzudrehen, sagt eine übergroße Mehrheit: Nein, das ist nicht vernünftig, das können wir uns nicht leisten.
ZEIT: Also keine Neujustierung der Union?
Koch: Die CDU muss in den nächsten Jahren der Garant für den eingeschlagenen Reformkurs sein. Wenn die SPD glaubt, sie müsse »Ende der Zumutung« spielen, dann ist das ein Teil der Auseinandersetzung, die sich bis zum Wahltag hinziehen wird. Die CDU, mit Angela Merkel als Kanzlerin, muss sagen: Lasst die Tassen im Schrank! Wir haben nichts zurückzunehmen, wir können nur Erfolg haben, wenn wir Kurs halten. Dann können übrigens beide Partner Erfolg haben, weil die Erfolge zunehmend sichtbar werden.
ZEIT: Müsste die Koalition nicht sogar mehr tun, um das Land auf die nächste Krise vorzubereiten?
Koch: Mit den Sozialdemokraten, die sich gerade aus der Mitte wegbewegen, gibt es keine Chance, wichtige Themen wie die Änderung des Arbeitsrechts und die Umgestaltung der Arbeitslosenversicherung anzugehen. Da sind die Positionen der beiden Parteien einfach zu weit auseinander.
ZEIT: Damit akzeptieren Sie zwei Jahre Stillstand?
Koch: Ich halte die Große Koalition nicht für eine Veranstaltung des Stillstands. Ich glaube auch nicht, dass Politik ununterbrochen wie ein Brummkreisel in Bewegung sein muss. Es ist nicht das Ziel von Politik, andauernd neue Projekte zu starten. Aber unabhängig davon sind die angepackten Themen bei Weitem nicht fertig. Peer Steinbrück muss noch eine ganze Menge für die Haushaltssanierung tun, Gleiches gilt für den Arbeitsmarkt, im Bereich der Bildung, bei der Föderalismusreform 11. Wenn das, was im Koalitionsvertrag verabredet wurde, in den vier Jahren abgearbeitet werden kann, wäre das eine prima Leistung. Da muss man nicht in der Mitte der Koalitionsperiode einen neuen Koalitionsvertrag schreiben.
ZEIT: Glauben Sie, dass das Thema Gerechtigkeit in den kommenden Wahlkämpfen eine zentrale Rolle spielen wird?
Koch: Das Thema Gerechtigkeit spielt in jedem Wahlkampf eine Rolle. Auch die ALG-I-Frage ist ja unter diesem Gesichtspunkt diskutiert worden. Es gibt Punkte, die materiell gar nicht so bedeutsam sind, bei denen aber das Gefühl in der Bevölkerung überbordend wird: „Warum machen die so etwas mit uns?“ Warum nimmt man nicht Rücksicht darauf, dass das Risiko eines älteren Menschen, keine Arbeit mehr zu finden, größer ist als bei einem jüngeren?« Ich glaube, Politik muss durchaus die Kraft haben, zu sagen: Okay, wenn man das einigermaßen kostenneutral regeln kann, ist es vernünftiger, einem solchen Gefühl der Menschen nachzugeben solange dadurch nicht die Balance des Systems in Gefahr gerät!
ZEIT: Sie hatten es im vergangenen Wahlkampf mit einer SPD zu tun, die unter schwierigen Bedingungen Reformen durchgesetzt hat. Sie werden es künftig mit einer SPD zu tun bekommen, die wieder stärker der Mehrheitsstimmung zu entsprechen sucht. Warum sollte die Union diesem Trend widerstehen?
Koch: Die CDU hat immer dann, wenn die Popularitätsströme gegen sie liefen,, die besten Ergebnisse bekommen gerade weil sie diesen Strömungen nicht hinterhergelaufen ist. Ich erinnere an die Stationierung der US-Pershing-Raketen Anfang der achtziger Jahre mit Millionen Demonstranten gegen uns. Wenn die CDU jetzt versuchen würde, ihre Positionen näher an die der SPD heranzurücken, also populistisch zu werden, ist sie chancenlos. Das gilt übrigens auch für den Versuch der SPD, durch verbalen Radikalismus der Linkspartei Stimmen abnehmen zu wollen. Die Linkspartei ist das Original, die SPD die Kopie. Und für uns wäre es eine Katastrophe, wenn wir wiederum versuchen würden, diese SPD zu kopieren.
ZEIT: Das beantwortet noch nicht die Frage, mit welchen Themen Sie gegen die SPD antreten wollen.
Koch: Die Kernfrage des kommenden Wahlkampfs lautet: Schaffen wir es, die wiedergewonnene Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu bewahren? Darauf werden wir die passenden Antworten entwickeln. Wir werden in einigen Jahren arbeitsrechtliche Regelungen wie in Dänemark haben, wo es fast Vollbeschäftigung gibt, und nicht mehr unseren Kündigungsschutz, der uns etwa eine Million Jobs kostet. Das heißt aber auch: Wir brauchen eine flexiblere Form der Arbeitslosenversicherung. Den „Wohn-Riester“ haben wir den Sozialdemokraten gerade abgetrotzt. Hinzukommen muss ein Investivlohn als Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an den Kapitalgewinnen. Christdemokraten wie ich, machen Politik, weil sie davon überzeugt sind, dass alle in dieser Gesellschaft eine Perspektive wachsenden Wohlstands haben, dass es aber nur unier völlig anderen Bedingungen als vor 20 oder 30 Jahren möglich sein wird, diese Wohlstandsperspektive zu erlangen. Das glaubwürdig zu formulieren ist uns 2005 noch nicht ausreichend gelungen. Daran arbeiten wir.
ZEIT: Heißt das, die Inhalte und die Richtung von 2005 waren richtig, die Kommunikation derselben hat nicht funktioniert?
Koch: Eindeutig ja. Die Inhalte waren uneingeschränkt richtig. Wir sind in den letzten Wahlkampfwochen in Schwierigkeilen gekommen, nicht zuletzt in der Steuerpolitik, was ich nicht Paul Kirchhof vorwerfe. Die mediale Debatte hat sich immer mehr auf die Kirchhofsehen Steuerkonzepte konzentriert statt auf die der CDU. Das hat unseren Wahlkampf beeinträchtigt. Es ändert aber nichts an dem, was die CDU 2005 als originäre Programmatik vertreten hat. Ich sehe nichts Signifikantes, was man davon zurücknehmen muss.
ZEIT: Die SPD wird die kommenden Wahlkämpfe mit dem Thema »Sicherheit und Gerechtigkeit« bestreiten. Die Union will darauf mit der komplizierten Überlegung antworten, nur. mehr Flexibilität und Risikobereitschaft des Einzelnen könnten in Zukunft Sicherheit gewährleisten. Können Sie sich wirklich vorstellen, damit durchzudringen?
Koch: Die Frage, ob es sein könnte, dass unsere Konzepte komplizierter zu vermitteln sind als die der SPD, begleitet uns seit 60 Jahren. Die meiste Zeit haben wir trotzdem regiert. Wir müssen uns von der Vorstellung frei machen, dass es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen demoskopischen Befunden bei Einzelthemen und Wahlerfolgen gibt. Wenn wir uns auf den populistischen Kurs begeben, werden wir die Autorität verlieren, Gesellschaften zu lenken. Deshalb glaube ich, dass wir gar keine andere Alternative dazu haben, als den schwierigeren Weg zu gehen.
Das Interview führten Brigitte Fehrle und Matthias Geis