Ministerpräsident Roland Koch im Interview mit der Stuttgarter Zeitung
Stuttgarter Zeitung: Herr Koch, die Union mauert beim Mindestlohn, Franz Müntefering nennt das „Wortbruch“ und tritt zurück. Hat die Kanzlerin ihren Vizekanzler auf dem Gewissen?
Koch: Auch in der Politik sollte es eine Chance geben zu trennen zwischen einer persönlichen Tragik und Konflikten in Sachfragen. Trotz aller Unterschiede bei einigen Themen zwischen den Positionen von Franz Müntefering und der Union allerdings auch in erheblichem Maße zwischen ihm und seiner eigenen Partei, der SPD halte ich eines für wichtig: Wir sollten nicht jeglichen menschlichen Respekt vergessen, um alles und jedes tagespolitisch auszuschlachten.
Stuttgarter Zeitung: Was bedeutet der Rücktritt politisch?
Koch: Ich glaube, das ist ein schwerer Schlag für die Sozialdemokraten. Franz Müntefering war einer der strategischen Köpfe der Großen Koalition. Er war ein sozialer Ankerplatz, ein Garant für Verlässlichkeit und wurde von vielen seiner Genossen gerade nach den Erfahrungen auf dem SPD-Parteitag mehr noch als solcher geschätzt. Einen solchen Mann kann keine Partei leicht ersetzen.
Stuttgarter Zeitung: Was war Müntefering für die Union?
Koch: Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen aus den Koalitionsverhandlungen weiß ich: Er ist immer ein schwieriger, weil sehr harter Verhandlungspartner gewesen aber am Ende auch ein sehr stabiler und verlässlicher. Das ist im Machtgefüge einer solchen Koalition, in der zwei Antipoden der deutschen Politik zusammenarbeiten, eine ganz entscheidende Funktion. Auch in dieser Funktion ist er nicht leicht zu ersetzen.
Stuttgarter Zeitung: Sehen Sie die Stabilität der Großen Koalition durch den Rücktritt gefährdet?
Koch: Natürlich wird es Anpassungsschwierigkeiten geben, bis man sich in neuer Konstellation aneinander gewöhnt hat. Aber das ändert nichts daran, dass beide Parteien ein sehr grundsätzliches Interesse daran haben, den Bürgern zu beweisen, dass sie die vier Jahre, die sie den Regierungsauftrag haben, ordentlich zu Ende bringen. Denn das ist eine Voraussetzung dafür, mit einem angemessenen Maß an Kredit ihre Programme für die Zukunft, die sie ohne den derzeitigen Partner durchsetzen wollen, zu vertreten.
Stuttgarter Zeitung: Hätten Sie erwartet, dass SPD-Chef Beck nun in die Bundesregierung wechselt?
Koch: Wenn jemand derart deutlich einen Führungsanspruch reklamiert, wie Beck das im Vorfeld des SPD-Parteitags und mit seiner Offensive gegen Müntefering getan hat, sollte man erwarten dürfen, dass derjenige die nächste Möglichkeit nutzt, direkte Regierungsverantwortung zu übernehmen. Alles andere gefährdet doch auch die Statik der eigenen Partei. Das Amt des Vizekanzlers ist ja wahrlich kein unbedeutendes in der Republik. Wer in solch einer Situation darauf besteht, die Politik weiter als Außenbordmotor beeinflussen zu wollen, der offenbart damit auch einen Mangel an Mut zur Verantwortung. Das ist ein Zeichen von Schwäche. Wichtig ist aber nicht, ob Beck Vizekanzler und Minister ist oder nur SPD-Vorsitzender. Wichtig ist, ob er weiter Interesse an einer konstruktiven Zusammenarbeit in der Koalition hat.
Stuttgarter Zeitung: Wird mit Münteferings Rücktritt der agendatreue Flügel der SPD geschwächt?
Koch: Ganz sicher. Er hat der Reformagenda nach Schröder ein persönliches Gesicht gegeben. Ohne Müntefering ist es für die SPD noch leichter, den Realitäten der letzten Jahre davonzulaufen.
Stuttgarter Zeitung: Sie befürchten, die SPD verabschiede sich jetzt noch schneller vom Reformkurs?
Koch: Man soll nichts Schlechtes auch noch durch Prognosen herbeireden. Aber natürlich spricht vieles dafür, dass die Hemmungen der Sozialdemokraten, vor ihrer eigenen Politik wegzulaufen, wie sie das in den letzten Wochen begonnen haben, durch Münteferings Weggang noch weiter schwinden.
Stuttgarter Zeitung: Was ist von den Beschlüssen der Koalitionsrunde beim Arbeitslosengeld zu halten?
Koch: Die CDU und die Koalition können mit diesen Beschlüssen sehr zufrieden sein. Das ist ein vernünftiger Weg, den wir beide gehen wollten. Die Kanzlerin hat zu Recht durchgesetzt, dass andere Beitragszahler dadurch nicht belastet werden. Ich finde es außerordentlich beachtlich, dass es gelungen ist, den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung auf 3,3 Prozent zu senken. Das bedeutet, dass Unternehmen und Arbeitnehmer binnen zwölf Monaten 18 Milliarden Euro zusätzliche Kaufkraft haben. Für einen Durchschnittsverdiener bringt das weit mehr als die Lohnerhöhungen der jüngsten Zeit, deutlich mehr als 400 Euro. In diesem Kontext ist alles vertretbar, was zum Arbeitslosengeld beschlossen worden ist.
Stuttgarter Zeitung: Die Beitragssenkung halten Sie für das wichtigere Signal?
Koch: Experten sagen, 0,1 Prozent weniger Beitrag bedeuten 100.000 zusätzliche Arbeitsplätze. Dieser Effekt ist mir wichtig. Alles andere ist eine Frage der gefühlten Fairness.
Stuttgarter Zeitung: Die CDU hatte auf ihrem Parteitag vor einem Jahr Korrekturen beim Arbeitslosengeld an weitere Reformen im Tarif- und Kündigungsrecht geknüpft. Warum mag sich keiner daran erinnern?
Koch: Es gibt Dinge, die in der Großen Koalition definitiv nicht zu verwirklichen sind. Diese Koalition zeichnet sich dadurch aus, dass der Korridor konsensfähiger Projekte eng und klar bestimmbar ist. Eine weitere Flexibilisierung des Arbeitsrechts würde noch einmal eine Million zusätzlicher Arbeitsplätze bringen. Aber das ist mit den Sozialdemokraten leider nicht zu machen. Jammern darüber bringt uns nicht weiter.
Stuttgarter Zeitung: Nach dem SPD-Parteitag hatten Sie Beck vorgeworfen, er vollziehe auf sämtlichen Politikfeldern einen Linksruck. Ist das eine Gefahr oder eine Chance für die Union?
Koch: Wenn es darauf eindeutige Antworten gäbe, wäre Politik ein leichtes Geschäft. Ich glaube, es ist eine Chance für uns. Die SPD macht Platz in der Mitte. Es gibt ja auch unter ihren Wählern durchaus Menschen, die richtig fanden, was Schröder begann. Die müssen wir ansprechen. Der Versuch, im Wettbewerb mit der Linkspartei Kopie des Originals zu werden, stärkt eher das Original. Das schadet der eigenen Glaubwürdigkeit. Beck wird Lafontaine nicht mehr angreifen und behaupten können, dessen Thesen seien falsch, wenn er im Grundsatz die gleichen vertritt. Viele Wähler werden sich fragen, warum man dann SPD und nicht Linkspartei wählen Wer in solch einer Situation darauf besteht, die Politik weiter als Außenbordmotor beeinflussen zu wollen, der offenbart einen Mangel an Mut. soll.
Stuttgarter Zeitung: Viele linke Forderungen sind ja durchaus populär nicht zuletzt der Mindestlohn. Wie groß ist die Gefahr, dass die Union in der Großen Koalition weiter nach links gezerrt, gedrängt, getrieben wird?
Koch: Mein Rat an die Union lautet, einen stabilen Kurs in der Mitte zu halten. Die Menschen urteilen durchaus unterschiedlich, wenn es darum geht, sich im Einzelfall etwas zu wünschen oder auf der anderen Seite grundsätzlich zu bewerten, was in der Politik vernünftig ist. Die Wünsche mögen sehr groß sein, aber die Mehrheit will einen pragmatischen, berechenbaren und vor allem soliden Kurs. Für den stand die Große Koalition. In vielen Frage stehen jetzt nur noch Angela Merkel und die Union dafür. Soweit man Umfragen ernst nimmt, verraten sie doch immerhin, dass diejenigen, die den Kurs halten, nicht an Popularität verlieren. Selbst wenn 80 Prozent für Mindestlöhne sind, wollen nur rund 20 Prozent den als Kanzler, der dafür eintritt.
Stuttgarter Zeitung: Die Große Koalition ist jetzt zwei Jahre im Amt. Wie sieht Ihre Bilanz aus?
Koch: Ich habe von Anfang an gesagt: Eine Große Koalition hat nur einen begrenzten Korridor, in dem sie sich einigen kann. Die Ergebnisse müssen deshalb nicht schlecht sein. Wir haben auf vieles verzichtet von dem, was wir gerne realisiert hätten. Aber die Ziele, die wir uns gemeinsam vorgenommen hatten, wurden in einem beachtlichen Umfang auch erreicht: die Haushaltskonsolidierung, zurückgeführte Arbeitslosenzahlen, die Unternehmenssteuerreform, die neue Erbschaftsteuer, Rente mit 67. Die Große Koalition ist kein Modell, nach dem man dauerhaft Deutschland regieren sollte. Aber ich bin mit den Ergebnissen, die unter diesen Umständen erreicht worden sind, durchaus zufrieden. Dennoch würde ich nie behaupten, dass dies jetzt die ideale Regierung der Union wäre. Wir würden gerne ungestört von den Sozialdemokraten regieren.
Stuttgarter Zeitung: Sie haben die Hessen-CDU auf einen Lagerwahlkampf eingeschworen. Wie verträgt sich das mit den großkoalitionären Verhältnissen in Berlin?
Koch: Frau Ypsilanti und ihre hessische SPD haben sich von den Positionen der Bundes-SPD extrem weit nach links entfernt. Die sind weit weg von einer realistischen, vernünftigen Politik, wie sie nach wie vor von Steinmeier und Steinbrück vertreten wird und von Müntefering vertreten wurde.
Stuttgarter Zeitung: Sie regieren mit absoluter Mehrheit. Die aktuellen Umfragen sehen nicht danach aus. Macht Sie das nervös?
Koch: Nervös muss die SPD mit ihren 30 Prozent in den Umfragen sein. Ich bin sehr ruhig. Ich mag mein Amt, will Ministerpräsident bleiben. Doch wenn die Bevölkerung eine linke Mehrheit wählt, muss sie damit rechnen, dass sie auch von einer linken Mehrheit regiert wird. Ich habe eine gute Regierungsbilanz, kämpfe für eine Politik der Mitte gegen die Alternative Rot-Rot-Grün. Und bin sehr zuversichtlich, dass es nach hartem Kampf am 27. Januar etwas zu Feiern gibt. Die große Koalition stand für einen berechenbaren und vor allem soliden Kurs. Jetzt stehen nur noch Angela Merkel und die Union dafür.
Das Interview führte Armin Käfer.