Rede des Hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch auf dem Jahreskongress der Europäischen Fairplay-Bewegung
Frankfurt am Main, 19. Oktober 2007
„Der Sport als Vorbild?
Fairplay – ein Auftrag für Politik und Gesellschaft“
Sehr geehrte Frau Professor Doll-Tepper,
sehr geehrte Damen und Herren!
Zunächst bedanke ich mich ganz herzlich, dass Sie mich eingeladen haben. Es freut mich natürlich sehr, dass der Kongress in der Weltstadt Frankfurt, hier in unserem Bundesland Hessen, stattfindet. Ich hoffe, dass Ihnen Ihr reichhaltiges Tagungsprogramm auch einmal die Gelegenheit lässt, diese in der ganzen Welt doch ziemlich einheitlichen Kongressräume zu verlassen, um ein Stück von unserer schönen Stadt zu sehen. Aber Sie sind natürlich hierher zusammengekommen, um vor allem über wichtige Fragestellungen im Sport zu diskutieren. Als Ministerpräsident des Landes, das in der Mitte der Bundesrepublik Deutschland liegt und von dessen sechs Millionen Einwohnern rund 2,1 Millionen in sportlichen Organisationen zusammengeschlossen sind, bin ich aus meiner politischen Verantwortung heraus natürlich an vielen Ihrer heutigen Themen ebenso interessiert, wie Sie es aus der Sicht des Sports sind. Ich habe diese Einladung gerne angenommen, weil ich glaube, dass Politik und Sportverbände auf der einen Seite viele gemeinsame Interessen haben, auf der anderen Seite aber die Politik gut beraten ist, den Verbänden nicht jeden Tag ins Handwerk zu pfuschen. Das heißt sehr konkret, dass Sie über die Frage, wie man Sport organisiert, wie man Menschen anspricht, sich in körperliche Aktivitäten einzubringen, wie man die Pädagogik dafür entwickelt, sehr viel besser als Autorität zu gebrauchen sind als wir Politiker. Die Politik muss ihre ganz eigene pädagogische Methodik einsetzen, um ein zur Wahl stehendes Parlament und viele andere Ebenen für bestimmte Aufgaben und Ziele zu gewinnen. Da hat es der Sportfunktionär gegenüber seinem Verband wahrscheinlich einfacher.
Aber dennoch: Wir alle haben viel miteinander zu tun. Wir hängen voneinander ab – und zwar nicht nur, weil wir etwa hier in der Bundesrepublik Deutschland die klassischen organisatorischen Rahmenbedingungen wie die Finanzierung und Bereitstellung von Sport-Infrastruktur gemeinsam gestalten müssen, sondern auch bei der Organisation des Ehrenamtes. Gemeinsam müssen wir die notwendigen Möglichkeiten schaffen, damit eine solche bürgerliche Bewegung, wie es sie in unserem Land gibt – Sie sehen ja: ein Drittel der Bevölkerung unseres Bundeslandes ist im Sport auch formal engagiert und organisiert –, überhaupt möglich ist. Wenn wir, wie es mein Redetitel vorsieht, über die Vorbildfunktion des Sports sprechen, dann ist dies ein Thema, dass in historischer Betrachtung immer auch die Bedeutung des Sports in Zusammenarbeit mit der Politik beschrieben hat. Wer sich etwas mit der Geschichte des Sports in Deutschland beschäftigt, der erkennt, dass der Sport hierzulande – jedenfalls seit Turnvater Jahn – ein Stück weit eine politische Bewegung ist, die sich von bestimmten ethischen Idealen geprägt sieht und die mit den sportlichen Aktivitäten diese Werte auch vermitteln will. Insofern glaube ich, dass die Vorbildfunktion des Sports, über die wir hier sprechen, keine rhetorische Floskel ist, sondern dass sie von Anfang an in der Sportbewegung zu finden ist und deren ureigene Motivation betrifft.
Wir leben in freiheitlichen Gesellschaften. Wir haben hier in Europa glücklicherweise den Zustand erreicht, sehr stabile demokratische Strukturen vorzufinden. Das ist nicht überall auf der Welt so. Es ist auch alles andere als selbstverständlich, dass sich so etwas dauerhaft erhält. Freiheitliche Gesellschaften sind oft dadurch gekennzeichnet, dass es keine verbindlichen Rollenmodelle, denen sich jeder Kraft Gesetzes unterwerfen muss, gibt, sondern dass wir darauf angewiesen sind, dass Menschen mit freiem Kopf, freiem Willen und einem Mindestmaß an Vernunft sich freiwillig in eine Gesellschaft so einbringen, dass diese Gesellschaft insgesamt damit zufrieden sein kann und nicht scheitert. Die Erkenntnis darüber, was notwendig ist, um eine Gesellschaft zu fördern, und der Wille, sie nicht scheitern zu lassen, hängen von individuellen Wertvorstellungen ab – und von der Bereitschaft zu Respekt und Toleranz. Wenn diese Dinge zusammenkommen, ist es möglich, eine friedliche Gesellschaft ohne permanenten Zwang zu etablieren. Die Menschen müssen aus innerer Überzeugung in einer solchen Gesellschaft leben und sie mitgestalten wollen. Am Ende stellt dies nicht nur eine Aufgabe für die Politik dar, sondern für alle gesellschaftlichen Akteure, darunter beispielsweise auch der Sportbund.
In der Bundesrepublik Deutschland gibt es einen berühmten Verfassungsjuristen – Ernst-Wolfgang Böckenförde –, der uns vor Jahrzehnten bereits den Satz aufgeschrieben hat, dass moderne Demokratien von Voraussetzungen leben, die sie nicht selbst schaffen können. Es kann eben nicht per Gesetz angeordnet werden, gewisse Werte zu leben; aber wenn es solche Werte in einer Gesellschaft nicht gibt, wird sie scheitern. Und hier beginnt die große Rolle des Sports. Warum ausgerechnet des Sports? Nun, zunächst einmal ist der Sport in dieser Hinsicht sicherlich kein Alleinvertreter. Wenn ich über kirchliche Organisationen spreche, sage ich ebenfalls: „Hier beginnt die große Rolle der Religionsfreiheit.“ Wahrscheinlich sind es in der heutigen Zeit von der quantitativen Seite her aber tatsächlich diese beiden Gruppierungen, auf die der Politiker in einer solchen Situation zu sprechen kommt, um die Chancen des voneinander Lernens und aufeinander Angewiesenseins zu verdeutlichen. Darüber hinaus gibt es noch eine endlose Zahl von staatlichen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen. All das, was im Kindergarten und in der Schule geschieht, spielt natürlich ebenfalls eine Rolle bei der Vermittlung von Werten. Aber dies alles ist eben staatlich organisiert; es beruht weniger auf Freiwilligkeit, baut auf weniger unterschiedlichen Elementen auf und ist auch nicht von der Experimentierfreude gekennzeichnet, wie es die Freiwilligenorganisationen sind. Und wenn wir ehrlich sind: Schulen gelten nicht als Vorbilder. Dort muss man hin und muss sich angemessen verhalten können, um ohne Nachsitzen wieder herauszukommen. Das ist soweit in Ordnung. Das mag Ihnen im Leben nicht anders ergangen sein als mir. Nur meine Vorbilder habe ich mir vielleicht in einem einzelnen Lehrer oder einer Lehrerin gesucht – aber nicht in der Institution Schule. Dieser Lehrer oder diese Lehrerin waren vielleicht wiederum aktiv in der Kirchengemeinde oder im Sportverein. Und dies machte sie womöglich erst als Vorbild interessant.
Was macht ein Vorbild aus? Zum Vorbildsein gehört Faszination – und die freiwillige Bereitschaft von Anderen, jemanden als Vorbild anzuerkennen und zu sagen: „So will ich auch werden!“ Zum Vorbildsein gehört Anerkennung. Wenn ich vorbildlich bin, kann ich stolz darauf sein, so wie andere auf mich stolz sind. Zum Vorbildsein gehört am Ende aber auch das Verstehen der Anderen, was zu tun ist, um dem Vorbild nachzueifern – einschließlich der Tatsache, dass man sich selbst zutraut, dies zu können. Ich glaube, das macht den Sport in einer besonderen Weise interessant. Und es ist eine große Herausforderung für den Sport. Der Sport hat heute in vielen Teilen der Welt den Vorteil, dass er – jedenfalls in einigen seiner Sparten, die dann Leitfiguren prägen – milliardenfach im Mittelpunkt steht. Wobei solche Vorbilder dann auf den unterschiedlichsten Ebenen entstehen: Dies kann der beste Spieler der kleinsten Jugendgruppe im Verein eines Dorfes sein, der sich zum Ziel gesetzt hat, so zu werden wie der große Star im Fernsehen. Er wird dann vielleicht für seine Mitschüler, Freunde und Altersgenossen wiederum ein Vorbild, indem sie so sein möchten wie er. Dies ist eine Kette. Es ist eine Möglichkeit, Bezugspunkte unterschiedlicher Art zu finden. Das ist der Grund, warum wir uns mit dem Sport so intensiv beschäftigen.
Wir haben in den vergangenen Jahren in der Bundesrepublik Deutschland vielfältige Erfahrungen gesammelt, wie wir mit den Phänomenen umgehen sollten, die uns zunehmend in der Gesellschaft begegnen und die uns durchaus Sorgen machen: Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist heute stärker mit dem Risiko der Desintegration konfrontiert, als sie es historisch jemals war. Es gibt in den Kommunen und in den Familien immer seltener eine stabile soziale Gemeinschaft. Es gibt eine Reizüberflutung und auch eine riesige Flut an potenziellen Aktivitäten, die eine zweifache Herausforderung darstellen. Erstens: Menschen können am Bildschirm durch die Welt wandern, ohne sich selbst noch zu bewegen. Und zweitens: Selbst wenn sie sich vom Bildschirm entfernen, können sie unendlich viel tun, ohne dass dies in einem Sportverein geschieht. Die Frage, die es in der Vergangenheit auf dem Dorf gegeben hat, ob man sich bei der Freiwilligen Feuerwehr oder beim Fußballverein engagiert, weil es mehr in diesem Dorf nicht gab, stellt sich heute nicht mehr. Für den Sport bedeutet dies heute eine große Herausforderung dahingehend, Angebote zu schaffen, die attraktiv genug sind, dass man in einen Verein kommt. Und selbst wenn heute noch jemand sein Training im Verein absolviert, dann braucht er dafür eine gewisse Teamfähigkeit, die nicht immer gegeben ist. Auch darin offenbart die Desintegration unserer Gesellschaft ihre Nachteile.
Meine Damen und Herren, hier kommt unser eigentlicher Kernpunkt, das Fairplay, ins Spiel. Es geht darum, ob eine Gruppe gemeinschaftlich ein Ziel erreichen kann. Man muss Menschen dazu bringen, gemeinsame Ziele loyal erreichen zu wollen. In einem Verein geht dies – sogar völlig ohne Zwang, denn jeder kann jeden Tag wieder gehen. Man muss ferner jeden einmal die Kosten für Illoyalität erfahren lassen. Auch das geht in einem Verein recht schmerzfrei, denn die Sanktionen dort sind ja nicht gefährlich, sondern beschreiben vielmehr eine soziale Sanktion. Junge Menschen haben ein Recht darauf, Illoyalität auszuprobieren und die Kosten von Illoyalität kennenzulernen. Denn niemand ist von Natur aus so aufgestellt, dass er keinerlei Risiken eingeht, um seinen Willen gegen Andere durchzusetzen. Wer die Konsequenzen davon in jungen Jahren – im siebten, achten, neunten Lebensjahr – nie gelernt hat, bei dem kann es ab dem 18. Lebensjahr zu heftigen Begegnungen mit den formalen Instanzen der Gesellschaft – mit der Polizei, aber auch vielen anderen – kommen. Wer dagegen im Sport gelernt hat, in einer spielerischen Weise festzustellen, dass seine Interessen besser verwirklicht werden, wenn er auf andere Interessen Rücksicht nimmt; wer sieht, dass er mit Anderen zusammen stärker ist, als er es allein sein kann; wer sieht, dass er stolz darauf sein kann, eine Gemeinschaftsleistung zu erbringen und auch für seine eigene Leistung mehr Stolz empfindet, als wenn er versucht hätte, dies ganz allein zu verwirklichen – der hat etwas Wesentliches gelernt. Er hat etwas gelernt, was man in unseren desintegrierten sozialen Konstellationen häufig an keiner anderen Stelle mehr in dieser Form vermittelt bekommt. Dies ist eine große Leistung des Sports, die zugleich aber auch nicht neu ist. Das Prinzip der Solidarität – das Vernetzen, das Leben in gemeinschaftlichen Schutzsystemen – war immer einer der Grundgedanken aller sportlichen Organisationen. Er bleibt in den modernen Strukturen unserer heutigen Gesellschaft nach wie vor wichtig.
In der Bundesrepublik Deutschland – und ich denke, auch in vielen anderen Gesellschaften – stehen wir heute vor der großen Herausforderung einer ethnischen Integration. Es sind nicht mehr alle Menschen in unserem Land vor dem gleichen sozialen, kulturellen und religiösen Hintergrund aufgewachsen. Wir können in Deutschland stolz darauf sein, dass der Sport diese Aufgabe in vielen seiner Organisationen, Verbände und Sparten übernommen hat. Jemand, der neben seinem Beruf einige Stunden in der Woche ehrenamtlich der Jugendarbeit widmet, könnte auch sagen: „Das ist mir zu kompliziert, das sollen Profis machen!“ Diese Profis könnten aber niemals diese Strukturen von Vorbild, Stolz, Leistung und all dem, was ich beschrieben habe, in gleicher Weise so vielfältig quer über ein Land mit 80 Millionen Bürgerinnen und Bürgern errichten. Sportvereine können das. Aber auch dort gibt es noch unbewältigte Herausforderungen. Wenn wir beispielsweise in den Bereich des Fußballs schauen, dann ist es zwar schon so, dass nicht immer die Anstrengung gelingt, alle Erfahrungen und Hintergründe unterschiedlicher ethnischer Herkünfte wirklich in einem Verein zu integrieren. Stattdessen haben wir dort auch Vereine, deren Namen man entnehmen kann, vor welchem geographischen Hintergrund die Lebenserfahrung der Kinder oder deren Eltern steht. Wir haben dann manchmal auch die Situation, dass dort faktisch eine ethnische Gruppe gegen die andere spielt – mit allen Risiken und Konfliktpotenzialen, die das gegebenenfalls hat. Trotzdem, denke ich, dürfen wir stolz sagen: In den meisten Fällen kann der Sport diese Unterschiede erfolgreich überbrücken. Selbst wenn die Jugendlichen nicht immer zusammen in einer Mannschaft spielen, lernen sie trotzdem, sich an Regeln zu halten und fair miteinander umzugehen. Sie begegnen sich nicht in irgendeiner dunklen Straße, sondern auf dem Sportplatz. Wenn sie dort nicht die Regeln einhalten, müssen sie den Sportplatz wieder verlassen. Dieses Erleben der Durchsetzung von Regeln kann durchaus auch ungemütlich werden. Manche Fußball-Schiedsrichter sind nicht nur fröhlich, wenn sie von ihren Erfahrungen erzählen. Aber es ist ein Instrument, für das wir, jedenfalls auf der politischen Ebene, keine vergleichbare Alternative sehen. Und das ist ja schon ein beachtlicher Satz. Das zeigt ein bisschen die gegenseitige Abhängigkeit: Wenn wir den Sport nicht über staatliche Mittel finanzieren würden, wäre für die Sportvereine vieles schwieriger. Aber es ist eben auch die andere Seite wahr: Wenn wir den Sport in einer solchen Aufgabe nicht hätten, hätten wir keine Alternative.
Ich habe jetzt insbesondere über junge Menschen gesprochen. Ich meine aber, dass wir vorsichtig damit sein müssen, dieses Phänomen auf junge Menschen zu reduzieren. Denn dieses Suchen von Vorbildern, Erleben von Gemeinschaft, in Gemeinschaft gestärkt zu werden, stolz auf die eigene Leistung zu sein, sich Ziele zu setzen, die man erreichen kann, sich selbst Stärke zu demonstrieren, ist keine Lebenseinstellung, die mit dem 18. Lebensjahr endet. Gerade in einer Gesellschaft, die über eine längere Zeit mit den älter werdenden – im Verhältnis zu ihrem Lebensalter jedoch immer leistungsfähigeren – Menschen nicht angemessen umgegangen ist, weil sie sie fälschlicherweise zu früh „zum alten Eisen“ gelegt hat, lebt nun eine Generation, die nach einer Aufgabe und nach einer gewissen Selbstbestätigung sucht. Zur Beantwortung der Fragen „Was bin ich noch wert?“ und „Was kann ich mir selbst gegenüber beweisen, und was habe ich anderen zu beweisen?“ kann der Sport einen positiven Beitrag leisten, indem er neben körperlicher Fitness eben auch mental ein Stück weit Stärkung, Halt und Orientierung bietet. Deshalb sprechen wir heute über ein Thema, das man nicht auf eine Generation beschränken darf. Stattdessen umfasst es mehrere Generationen in gleicher Weise.
Wir wollen in Kooperation mit den Sportorganisationen in diesem Bundesland – und ich denke, überall in der Bundesrepublik Deutschland – eigentlich dreierlei erreichen:
Erstens wissen wir, dass der Staat Verantwortung für die Infrastruktur trägt. Ohne Sportstätten, auch ohne etwa den notwendigen Rahmen in der Schule, kann der Sport seine Saat nicht ausbringen. Das ist in einer Gesellschaft wie der deutschen, die anders als etwa unsere französischen Nachbarn gerade eine Entwicklung von der Halbtagsschule zur Ganztagsschule durchläuft, durchaus mit viel Veränderung und Anpassung verbunden. Gerade dort haben wir noch vieles zu bewältigen: In Deutschland sind Kinder bislang spätestens um vier oder fünf Uhr im Fußballclub, im Turnverein, im Schwimmclub oder in einem anderen Sportverein gewesen. Sie hatten dort einige Stunden Training und waren, besonders die jüngeren unter ihnen, vor Einbruch der Dunkelheit wieder zu Hause. Wenn sie nun erst um fünf Uhr aus der Schule kommen, geht das so nicht mehr. Was bedeutet das? Wir wissen das nicht sicher. Eine unserer Antworten – meine Antwort – ist: Wir brauchen diese Vereine dahingehend, dass sie in die Schule kommen, dass sie mittags um drei Uhr in der Schule ihr Training abhalten. Aber das verändert das bisherige Vereinsleben völlig. Wir werden in jedem Fall ganztägige Schulen haben – aus Gründen, die ich jetzt nicht diskutieren will –, aber es stellt eine Herausforderung dar, bei der wir eine Verpflichtung haben, gemeinsam mit den Sportorganisationen geeignete Rahmenbedingungen und Infrastrukturen zu schaffen, mit denen sportliche Arbeit überhaupt erst möglich ist. Das ist der erste Punkt.
Der zweite ist: Wir wollen, dass der Sport natürlich von „Professionals“ umgeben ist, aber man ihn im Wesentlichen aus der bürgerlichen Gesellschaft heraus lebt. Vorbilder, wie wir sie aus dem Spitzensport kennen, sind allein noch nicht so besonders viel wert. Wir brauchen auch „normale“ Mitmenschen als Vorbilder; die Ideale vorleben, welche für jeden Einzelnen erreichbar sind. Man muss nicht einen außergewöhnlichen Beruf annehmen, um diese Art von Vorbild zu verkörpern, sondern es kann eben auch der eigene Vater, Nachbar oder Arbeitskollege sein. Ehrenamtliche Arbeit ist deshalb vor allen Dingen eine Frage des Selbstverständnisses einer Gesellschaft – ob man bestimmte Aufgaben immer an jemanden delegiert, der dies dann zu seinem Beruf macht, oder ob man selbst gesellschaftliche Verantwortung ehrenamtlich übernimmt. Wenn Letzteres der Fall sein soll, dann müssen wir auch die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass ehrenamtliche Arbeit funktionieren kann.
Ich nenne Ihnen ein praktisches Beispiel: In meinem Bundesland hier hatten wir vor einigen Jahren die Frage zu diskutieren, was eigentlich passiert, wenn man als Gruppenleiter nachmittags zwei Kinder in einen Sportverein mitnimmt – weil es zum Beispiel gerade regnet – und dann auf einmal ein Unfall passiert. In früheren Zeiten wäre der Gruppenleiter für die Kinder nicht versichert gewesen. Heute jedoch haben wir in diesem Land eine Regelung, dass all diejenigen, die in organisierten Vereinen Gruppenleiter sind – ohne dass wir deren Namen kennen –, automatisch versichert sind. Wir haben damit eine neue Qualität von Sicherheit für Ehrenamtliche geschaffen. Auch auf der nationalen Ebene wurden gerade erst in der Steuergesetzgebung erneut Regeln verbessert, die dem Ehrenamt in seinen vielfältigen Formen – eben nicht nur dem Übungsleiter, sondern auch dem Kassierer eines Sportvereins – eine Anerkennung zukommen lassen, die sich beispielsweise in gewissen steuerlichen Freibeträgen bei der Aufwandsentschädigung bemisst. Dies zeigt, wie wichtig uns diese Arbeit ist, die dort geleistet wird. Wir sind zunehmend dabei, in Ehrenamtsagenturen und anderen Institutionen dafür zu sorgen, dass diejenigen, die sich für ihre Gesellschaft und im Verein engagieren möchten, professionelle Hilfe erhalten. Das ist für die großen Sportverbände oft unnötig, weil sie selbst sehr umfangreiche ökonomische Einheiten bilden und über eigene Schulungszentren verfügen. Aber die Welt besteht nicht nur aus den großen Organisationen des Sports, sondern aus einer großen Vielfalt, die sich auch immer wieder durch neue Aufgabenstellungen definiert. Und hier kann der gegenseitige Austausch helfen, Organisationsstrukturen aufzubauen, die tragfähig sind, um so etwas zu verwalten und zu gestalten. Der zweite Punkt neben der Infrastruktur ist also das Ehrenamt.
Aber auch den dritten Punkt darf man nicht verschweigen: Der Sport definiert seinen Erfolg, wie schon angedeutet, auch aus dem Erfolg der Spitze im nationalen und internationalen Wettbewerb. Es gibt eben auch ein Stück nationalen Stolz, der irgendwo eine Katalyse braucht. Ein Volk, das keinen nationalen Stolz hat; ein Volk, das sich nicht auch im Wettbewerb mit anderen misst, kann sich vergessen – das gibt es nicht. Selbst kleinste Einheiten werden dies immer wieder etablieren, wer auch immer versuchen würde, dies zu zerschlagen. Und Sport ist ein guter Katalysator. Weil er nach fairen Regeln in der Tradition der Wiederholbarkeit seiner Auseinandersetzung – Jahr für Jahr, alle vier Jahre oder wann auch immer – es erträglich macht zu verlieren; und es trotzdem unheimlich schön bleibt, zu gewinnen. Das ist die große Besonderheit des sportlichen Wettkampfes. Aber zum anderen bietet er natürlich auch die Chance, die Werte, über die wir hier sprechen, in einer Weise zu kommunizieren, wie dies in einer modernen Massengesellschaft unerlässlich ist. Wir erreichen nicht jeden einzelnen an jeder Stelle mit einem speziellen pädagogischen Programm. Aber es gibt Menschen in dieser Gesellschaft, Spitzensportler, die mit ihrer Bekanntheit bei einem breiten Publikum viel bewirken und bewegen können. Das bedeutet dann allerdings auch, dass wir uns um die Herausforderungen des Spitzensports genau aus diesem Grunde kümmern müssen. Ein Land wird im Mitziehen von Menschen in die Sportbewegung nur dann erfolgreich sein, wenn es sich dafür interessiert, dass Leistungsträger im sportlichen Wettkampf auch über die Grenzen einer jeweiligen Region hinaus diesen Stolz auf sich konzentrieren können.
Im Augenblick hat Fabian Hambüchen als Turner in Deutschland ein bisschen die Rolle von Tennisspieler Boris Becker übernommen. Das wird nicht dazu führen, dass es genau so viele neue Geräteturner gibt, wie es früher Tennisspieler gab. Aber auf einmal schaut ein Volk mit großem Interesse auf einen jungen Mann und stellt sich eine Vielzahl von Fragen: „Hat er die Schule abgeschlossen? War das für ihn anstrengend oder leicht? Wie geht er jetzt mit dem Verhältnis von Beruf und anderem um? Wie benimmt er sich im Wettkampf, wenn er verloren hat? Verkraftet er das, oder läuft er schreiend davon? Wie bereitet er sich vor? Was ist mit Eifer und Disziplin? Wie hart ist seine Arbeit?“ Viele ganz banale Fragen, die sich auf einmal bei vielen Menschen ganz unterschiedlicher Generationen auf eine Person projizieren. Und solche Spitzensportler fallen nicht vom Himmel, sondern müssen auch in freiheitlichen Gesellschaften Unterstützung erhalten. Sportförderung in der vielfältigsten Weise ist dafür unerlässlich. Dafür haben wir Olympiastützpunkte, wir haben Spitzensporthilfe im finanziellen Bereich, wir haben die Hessische Sportstiftung und Einrichtungen in anderen Bundesländern, die dies komplementär erledigen. Es gibt die Sportleiterkompanie in der Bundeswehr. Bei der Hessischen Polizei haben wir ebenfalls einen Ausbildungsgang eingeführt, in dem wir jeweils einige hoffnungsvolle Spitzensportler einstellen, die dann eben länger ausgebildet werden. Das, was andere in drei Jahren machen, machen diese in vier Jahren. Wann immer sie dann jedoch zum Wettkampf müssen, werden sie freigestellt und werden dabei von uns betreut. Dazu gehört ein hohes Maß an sportmedizinischer Betreuung. Und es gehört dazu, die Universitäten und die Fachzentren mit den entsprechenden Mitteln auszustatten, um diese auf dem neuesten Stand der Technik und des Wissens zu halten.
Nur, wenn dieses Gesamtmoment funktioniert – Infrastruktur, Ehrenamt und Leistungssport –, dann haben wir eine Grundlage, die Werte und die Vorstellungen, die dahinterstehen, auch zu verbinden. Man sollte nicht unterschlagen, dass dies alles natürlich nicht nur vor dem blauen Himmel der idealen Zielerreichung passiert. Vielmehr müssen wir gemeinschaftlich auch darüber reden, wo die Punkte sind, an denen wir mit Risiken leben. Und diese bestehen nicht nur in der von mir bereits beschriebenen Herausforderung der Integration. Sondern dazu gehört auch ein Stichwort wie Doping, das jeden von Ihnen und uns beschäftigt. Das Thema ist deshalb so hoch gefährlich, weil es geeignet ist, das Grundgerüst, über das ich gesprochen habe, zu zerstören. Doping diskreditiert mit einer genau so hohen Öffentlichkeitswirksamkeit und mit einer verheerenden Breitenwirkung die Ziele, von denen uns wir in der Politik eigentlich erhofft haben, dass sie der Sport besser vermitteln und leben kann, als das in anderen Bereichen der Gesellschaft denkbar ist. Gerade viele junge Menschen, denen wir vermitteln wollen, dass Regeln die notwendige Voraussetzung für ein Zusammenleben in einer freiheitlichen Gesellschaft sind, beginnen an dieser Botschaft zu zweifeln, wenn sie sehen, dass derjenige, der die Regeln möglichst geschickt verletzt, über Jahre hinweg der Erfolgreichere sein kann. Wenn der Eindruck hinzukäme, dass auch noch die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass die Regelverletzung dauerhaft unentdeckt bleibt, dann wird dies eine Botschaft sein, bei der man sich nicht wundern darf, dass sie eine ähnliche Wirkung hat wie der Volkssport der versuchten Steuerhinterziehung.
Deshalb ist die Frage, ob es dem Sport aus eigener Kraft gelingt, seine „ethische Stabilität“ zu erhalten, eine sehr zentrale. Ich weiß sehr wohl, dass auch einige von Ihnen darüber sprechen, was die Politik dazu beitragen kann – im Strafrecht zum Beispiel, in der Finanzierung von Forschungsprojekten und anderem. Ich räume ausdrücklich ein, dass wir dabei helfen können und helfen müssen. Ich will Sie allerdings auch darauf hinweisen, dass die Tatsache, dass der Sport uns dazu gebracht hat, die Strafverfahren für seine Verfehlungen möglichst effektiv zu organisieren, noch keinen Wiedergewinn an ethischer Stabilität darstellt. Und deshalb: Es bedarf der Zusammenarbeit von Sport und Politik – aber der Sport muss seinen zentralen Beitrag dazu leisten. Die Rote Karte beispielsweise findet inzwischen nicht nur auf dem Sportplatz, sondern auch in allen anderen Formen der Gesellschaft immer wieder ihre sprichwörtliche Anwendung. Aber sie stellt eine Sanktionsform dar, die im Sport erfunden und dort auch als erstes anerkannt wurde. Wer es mit den Regelverstößen übertreibt, dem zeigt man die Rote Karte und verwehrt ihm, auf dem Platz weiter mitzuspielen. Diesen Sanktionsmechanismus hat der Sport aus sich heraus etabliert. Erst wer dreimal hintereinander die Rote Karte bekommen hat, wird wegen Körperverletzung vor Gericht angeklagt. Diese Unterscheidung müssen wir aufrecht erhalten. Das bedeutet nicht, dass die Politik nicht den Mut hat, dem Sport zu helfen. Sondern es bedeutet, dass wir über zwei Fragen reden: über die Frage, wie wir mit Menschen umgehen, die Regeln verletzen; aber auch über die Frage, welches Ansehen eine Institution hat. Es darf nicht der Eindruck entstehen, wie man ihn derzeit bei bestimmten Sportarten bekommen könnte: „Dort ist es halt so üblich, Regeln zu verletzen!“ Die Besonderheit, die den Sport von Wirtschaft und Politik und vielen anderen Bereichen unterscheidet, besteht darin, dass er untrennbar mit dem Image verbunden ist, dass das Verletzen von Regeln unmittelbar und nachvollziehbar sanktioniert wird. Der subkutane, unterschwellige Versuch, seinen Erfolg durch leichte, kaum sichtbare oder nicht sichtbare Regelverstöße zu erzielen, darf sich nicht zum Image des Sports entwickeln, sondern muss weiterhin durch die Schiedsrichter und die Verantwortlichen in den Sportorganisationen unterbunden werden. Darin unterscheidet sich der Sport bislang von anderen Bereichen der Gesellschaft. Wenn er diese Unterscheidung verliert, verliert er einen entscheidenden Teil seiner Chance als Vorbild. Denn dann gäbe es wohl keinen Grund mehr, mit einer besonderen Faszination auf den Sport zu schauen.
Dies wird uns beschäftigen, weil in einer globalisierten Welt auch der Sport ein Faktor erheblichen wirtschaftlichen Erfolgs geworden ist. Je mehr der sportliche Erfolg oder Misserfolg auch zu einer wirtschaftlichen Chance oder einem wirtschaftlichen Risiko wird, wo Gewinnen und Verlieren so nahe beieinander liegen, da sind der menschliche Geist und die menschliche Seele nicht immer gefeit gegen alle Versuchungen. Es bleibt bei der Frage, die ich gestellt habe: Schafft es der Sport selbst, eine Struktur zu entwickeln, in der man es für tendenziell chancenlos hält, aus Regelverstößen einen Nutzen ziehen zu können? Das wird schwierig sein. Deshalb stehen wir mit dieser Frage auch durchaus an einem Scheideweg. Aber ich persönlich neige weniger dazu, mich immer nur damit zu beschäftigen, dass alles schlecht werden kann. Stattdessen sollten wir unsere Kraft darauf konzentrieren, uns mit den Dingen zu beschäftigen, die erstens gut sind und zweitens die Chance haben, gut zu bleiben oder besser zu werden. Unter diesem Gesichtspunkt glaube ich, dass wir Anlass genug haben, dem Sport zu danken und unsere offenen Arme als Zeichen der Kooperationsbereitschaft zu zeigen. Der Sport eröffnet unserer Gesellschaft Chancen, die wir nirgendwo sonst finden. Millionen von Menschen – allein zwei Millionen von den sechs Millionen in meinem Bundesland – leben den Sport tagtäglich mit einer unglaublichen Motivation, einer riesigen Freude und einem persönlichen großen Gewinn. Und dabei brauchen sie gar nicht einmal jeden Tag darüber nachdenken, was sie durch Ausübung ihres Sports nun an ethischen Maßstäben gelernt haben könnten. Für sie ist Fairplay ein Verhalten, das man mit der normalen menschlichen Vernunft einfach anwendet.
Fairplay ist heute ein allgemeiner Begriff. Er kommt aus dem Sport. Aber er findet sich in nahezu allen Bereichen der Gesellschaft wieder. Der Satz „Er hat unfair gespielt!“ kommt auch an der Börse vor – und in der Politik. Diese Alleinstellung jedoch, ohne einen moralischen Zeigefinger einen ethischen Standard für die Selbstverständlichkeit und die Einhaltung von Regeln zu setzen, die gibt es nur im Sport. Wir sollten als Politik alles tun, um die Rahmenbedingungen dafür auch weiterhin zu erhalten. Wir sollten weiterhin sehr eng mit denen, die den Sport verantworten, zusammenarbeiten. Aber wir sollten nicht den Eindruck erwecken, dass wir die Absicht – oder gar die Fähigkeit – hätten, das zu ersetzen, was die besondere Kraft des Sports ausmacht. Wir brauchen Sportverantwortliche von der kleinsten Gruppe bis zum Internationalen Olympischen Komitee, die mit uns offen kommunizieren, die ihre Bedürfnisse und Wünsche anmelden und die fähig sind, auch in materiellen Fragen zu fähigen Kompromissen mit uns zu kommen. Wenn wir diese Selbständigkeit voneinander behalten, im Wissen um die gegenseitige Abhängigkeit, dann glaube ich, dass für alle Menschen, die in Freiheit und Frieden miteinander zusammenleben wollen, erhebliche Vorteile entstehen.
Ich bin Politiker. Ich habe hier nur über das gesprochen, was zu meiner Person auf der Tagesordnung stand. Es gäbe noch sehr viel mehr zu ergänzen: Dass die Menschen durch den Sport auch etwas gesünder bleiben, dass sie vielleicht ein bisschen länger leben, dass sie sich ein bisschen flotter bewegen, dass sie eine etwas andere Einstellung zur Ernährung bekommen, vielleicht sogar zum Rauchen und zum Trinken – ja, das alles gehört auch dazu. Das gehört zu den Leistungen des Sports, die man sicher auch nicht in Euro und Cent messen kann. Das alles kann der Sport für unsere Gesellschaft leisten. Darüber müssen aber Andere referieren.
Ich bedanke mich sehr, dass Sie mir aufmerksam zugehört haben. Für Ihre Tagung wünsche ich Ihnen weiterhin allen denkbaren Erfolg. Das, was Sie gemeinsam voneinander lernen und miteinander verabreden, denke ich, ist in all Ihren Ländern – wo immer Sie herkommen – und auch für uns hier in der Bundesrepublik Deutschland von großer Bedeutung.
Herzlichen Dank!