Treffen junger Parlamentarier aus Deutschland und Russland
Rede des Hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch anlässlich des Treffens junger Parlamentarier aus Deutschland und Russland
„Für unsere gemeinsame Zukunft – eine neue Generation meldet sich zu Wort“
Casinogesellschaft Wiesbaden, 26. Juni 2007
Sehr geehrter Herr Kollege Stolpe, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten in Russland und in der Bundesrepublik Deutschland, liebe Gäste!
Ich heiße Sie herzlich Willkommen hier in der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden. Wir freuen uns sehr, und es ist uns eine Ehre, dass wir mit der Stadt Wiesbaden den diesjährigen Petersburger Dialog ausrichten können. Als wir darüber gesprochen haben, dass das Haupttreffen im Oktober hier stattfinden würde, war es uns ein wichtiges Anliegen, dass auch die übrigen in den Prozess des Petersburger Dialogs einzubringenden Aktivitäten in Wiesbaden stattfinden können, weil wir deutlich machen wollten, dass uns nicht das einzelne Ereignis – so bedeutend es sein mag –, sondern der Dialog als Ganzes besonders wichtig ist. In diesem Zusammenhang freue ich mich besonders, Veranstaltungsteilnehmer heute hier begrüßen zu können, bei denen mein Kollege Stolpe und ich zur erheblichen Erhöhung des Altersdurchschnitts beitragen, weil sie in noch relativ jungem Alter schon dabei sind, politisch gestaltend mitzuwirken. Ich habe selbst in frühen Jahren begonnen, mich politisch zu engagieren. In Eschborn habe ich mit 14 das erste Mal eine politische Jugendorganisation gegründet und war über längere Zeit bei vielen Dingen der Jüngste – ein Erlebnis, das Ihnen, liebe Gäste, in den jeweiligen Gremien wahrscheinlich auch oft widerfährt.
Ich habe es sehr genossen, dass ich während der Zeit, in der ich für die politische Jugendorganisation meiner Partei auf nationaler Ebene mitverantwortlich war, die Möglichkeit hatte, Kontakte über die jeweiligen Landesgrenzen hinaus zu knüpfen. Bis zum heutigen Tag profitiere ich bei meiner Arbeit immer wieder von diesen Verbindungen und Kontakten in Europa und weit darüber hinaus. Inzwischen machen es mir mein Zeitbudget und die mentale Beanspruchung in den jeweiligen Aufgaben, die man übernimmt, zunehmend schwieriger, unabhängig von konkreten politischen Sachverhalten Menschen kennen zu lernen, Freundschaft mit ihnen zu schließen und mich über die Hintergründe der jeweiligen politischen Institutionen, der Gesellschaften, aber auch der Personen zu informieren. Viele Entscheidungen, wo immer wir sie treffen, sind nicht erklärbar, wenn man die persönlichen Hintergründe, die Lebenserfahrungen, die Lebensgeschichten, auch die Bedrängnis und Betroffenheit des jeweils Handelnden nicht ein Stück weit persönlich versteht und nachvollziehen kann. Deshalb halte ich Treffen wie diese für außerordentlich wichtig. Sie sind wichtig, um Netzwerke aufzubauen, die – was immer jeder einzelne von Ihnen zukünftig in seinem Leben als politisch Verantwortlicher tun wird – extrem hilfreich sein können, und zwar an Stellen, die Sie heute nicht einmal ahnen. Sobald Sie wissen, wofür Sie diese Netzwerke konkret brauchen, haben Sie keine Zeit mehr, sich welche zu schaffen.
Sie waren gestern Abend zu Gast im Kloster Eberbach und in den Weinbergen unseres Landes. Sie haben damit zwei der Instrumente kennen gelernt, die aus unserer Sicht gelegentlich nützlich sind, um solche Kontakte zu pflegen: Eine wunderschöne Landschaft und durchaus auch die gemeinsame Freude am Wein. Wir hoffen, dass wir damit vor dem intellektuellen Auftakt eine sympathische Grundlage für Konsens und Harmonie geschaffen haben. Sie tagen heute hier an einem Platz, der durch seine Internationalität privilegiert ist. Wer auf den Wiesbadener Neroberg steigt, wird mit der russischen Kapelle einen Anknüpfungspunkt ganz offensichtlicher Art für die Begegnung unserer Kulturen sehen. Außerdem haben viele Bürger Russlands im vorherigen Jahrhundert die heißen Quellen hier in Wiesbaden sehr geschätzt – so, wie es bei etlichen Besuchern aus anderen Teilen der Welt auch der Fall war. Und während Sie gestern Abend im Kloster Eberbach zu Gast waren, fand hier in einem anderen Raum zugleich die Afrika-Karibik-Pazifik-Konferenz mit über 150 Parlamentariern des Europäischen Parlaments statt, die ihre große internationale Jahrestagung abhielten. Letzten Endes sind solche Begegnungen in unserem Bundesland auch darauf zurückzuführen, dass man sich hier an einem Ort befindet, der dank des Frankfurter Flughafens und dank seiner geografischen Lage innerhalb der Europäischen Union sehr zentral liegt und deshalb auch seinen Wohlstand ein Stück weit damit verdient, dass er gut erreichbar ist. Als Ministerpräsident dieses Landes habe ich deshalb ein Interesse daran, dass Menschen vieler verschiedener Nationalitäten hier friedlich miteinander leben können, dass sie hier erfolgreich, kreativ und zukunftsorientiert arbeiten können. Das ist vielleicht auch der Grund dafür, warum wir uns mit den Fragen der internationalen Beziehungen vielleicht ein wenig intensiver beschäftigen als andere.
Wenn wir heute hier beisammen sind, um unsere bilateralen Beziehungen zu vertiefen, dann denke ich, dass natürlich jeder von uns im Kopf hat, dass zwischen zwei Ländern wie der Bundesrepublik Deutschland und Russland – aber auch durchaus zwischen der Europäischen Union und Russland – es reichlich Gründe für einen solchen Austausch gibt. Da wäre zunächst einmal ein Anlass im zukunftsgerichteten Sinne: Europa muss sich auf der einen Seite in seiner politischen Verfasstheit als Europäische Union, auf der anderen Seite in der geografischen Dimension, die eben weiter gefasst ist als die Außengrenzen der EU, in eine neue Weltordnung einsortieren. Ich bin noch groß geworden mit der Tatsache, dass Schülergruppen nach West-Berlin gefahren sind, um als besonderes Erlebnis auch einmal die innerdeutsche Grenze direkt gesehen zu haben. Meine Sozialisation im Politik-Unterricht der Schule erklärt sich aus dem Spannungsfeld zwischen West und Ost mit all seinen Elementen, die man durchaus unterschiedlich betrachten konnte. Ich habe deshalb eine gewisse Vorstellung davon, dass es Menschen meiner Generation in Osteuropa in etwa genauso geht, wenn auch aus ihrer jeweiligen Sozialisation heraus. Und deshalb sind wir nicht frei von dem Risiko, aufgrund der Vergangenheit, der Tradition, der heftigen Zerwürfnisse unserer gemeinsamen Geschichte, verbunden mit Emotionen und Unkenntnis, immer auch ein Stück in der Gefahr zu leben, dass es leichter ist, etwas Kritisches über den anderen zu sagen als etwas Positives.
In einer demokratischen Auseinandersetzung von Gesellschaften ist es gelegentlich einfacher, eine Emotion gegen die jeweilige Grenze zu schüren, ein Volk in der Sorge vor einer Bedrohung von außen zu vereinen, als pragmatisch über Elemente von Partnerschaft zu reden. Da Demokratie Menschenwerk ist, sie aus emotionaler Auseinandersetzung besteht und nicht nur aus dem rationalen Vergleich von Papieren, ist dies eine Herausforderung, die man auch in modernen demokratischen Strukturen niemals vollständig beseitigen kann. Wir erleben durchaus immer wieder überall in den demokratischen Wahlen – ob in Russland, in Deutschland, in Polen, in Tschechien, in Frankreich –, dass je nach Konstellation sehr stark mit der jeweiligen und oft vordergründigen Einschätzung des anderen in seiner Rolle als Konkurrent, als potenzieller Gefährder oder Gegner eine stärkere politische Auseinandersetzung betrieben werden kann, als mit den Elementen der Kooperation! Wenn man weiß, dass man dies nicht vollständig beseitigen kann, dass es zum Leben moderner Demokratien gehört, dann besteht eine wichtige Verantwortung der Entscheidungsträger in der jeweiligen demokratischen Gesellschaft darin zu versuchen, auf der Ebene dieser Entscheidungsträger soviel wie möglich an gegenseitiger Kenntnis und Übereinstimmung zu haben, die dann manchmal vielleicht auch ein bisschen stabiler ist als die Emotionen des Tages.
Wir Deutsche haben mit den Amerikanern gerade in den letzten Jahren durchaus heftige und emotionale Auseinandersetzungen geführt – und die Narben sind auch noch nicht alle verheilt. Aber es steht fest, dass diejenigen, die als Eliten auf der ökonomischen oder der politischen Ebene diese Kontakte seit vielen Jahren halten, davon doch weitgehend unberührt geblieben sind, obwohl Meinungsumfragen bei der jeweiligen Bevölkerung Ärger, Frustration oder Unverständnis in hohen Prozentzahlen belegt haben. Für die dauerhaften Beziehungen zwischen Ländern stellt es eine entscheidende Frage dar, ob die Entscheidungsträger in ihren inneren Wertvorstellungen die Spitze der jeweiligen Bewegung – auch der Eskalation – bilden, oder ob sie aufgrund ihrer persönlichen Erfahrung und Kenntnis die Kraft aufbringen, die Eskalationen, die es immer wieder geben wird, zu dämpfen. Das ist der Kern, über den wir hier sprechen.
Manche von uns in Deutschland waren in den letzten Jahren sicherlich auch über einige politische Entscheidungen in Russland irritiert. Wir wollen ja darüber diskutieren, deshalb sagen wir: Wir verstehen zumindest nicht alles, was den Umgang von Staat, Parlament und Regierung auf der einen Seite und die Presse auf der anderen Seite angeht. Wir haben dort Erklärungs- und Erörterungsbedarf, um festzustellen, wo wir wirklich unterschiedlicher Meinung sind oder wo wir nur unterschiedliches Wissen haben. Auf der anderen Seite sehen wir, dass bei Vielen in Russland im Hinblick auf die Frage von Abwehr und Verteidigung, die nach wie vor in Europa eine Rolle spielt, der Eindruck entsteht, es könne sich dabei um eine Bedrohung für Russland handeln. Aus der Sicht derer, die hier in Europa oft auch zusammen mit den Amerikanern darüber diskutieren, ist das nicht einmal Bestandteil der Erwägung. Aber es ist Gegenstand der Diskussion in Russland! Deshalb besteht Anlass für uns, Fragen zu beantworten und diese Sachverhalte zu klären, wenn wir wollen, dass man unsere Position versteht. Ich nenne damit zwei Punkte, die in der öffentlichen Debatte auf beiden Seiten eine große Rolle spielen und die, glaube ich, hinreichend deutlich zeigen, dass wir über sehr prinzipielle und zugleich immer auch sehr tagesaktuelle Themen reden. Wir können auch nicht voraussagen, welche Debatte wir in zwei Jahren führen werden. Wir können sie nicht antizipieren. Was wir aber leisten können, ist, ein gegenseitiges Verständnis und eine Diskussionskultur aufzubauen, die es uns ermöglicht, mit jedem auch von uns heute möglicherweise nicht erwarteten Diskussionsthema in Zukunft umzugehen, weil wir über mehr verfügen als eine allein aus den Medien gezeichnete politische Position des jeweiligen Partners oder Kollegen.
Ich glaube, dass die Staaten der Europäischen Union – und dazu gehört bekanntlich auch Deutschland – allen Grund dazu haben, auf eine dauerhafte partnerschaftliche Beziehung mit Russland zu setzen. Ich persönlich glaube, dass es auch politisch und wirtschaftlich für Russland von Vorteil ist, eine solche partnerschaftliche und freundschaftliche Beziehung zu haben. Wir haben dafür bereits eine Menge Ansätze, wir haben ein Jahrzehnt kontinuierlicher Verbesserungen hinter uns; und wir haben durchaus auch Anlass, in Anbetracht der weiteren Potenziale optimistisch zu sein. Um abschließend noch einmal auf unser Bundesland Hessen zurückzukommen: Wir hier in dieser Region – als ein Land mit sechs Millionen Einwohnern mitten in Deutschland und Europa – erleben dies durchaus im alltäglichen Leben: Uns verbindet mit der Oblast Jaroslawl inzwischen seit mehr als 25 Jahren eine partnerschaftliche Beziehung. Daran können Sie erkennen, dass dies kein Produkt der Zeit nach 1989 ist, sondern schon lange vorher begonnen hat. Deshalb hatten und haben wir auch die Chance, unsere Partnerregion mit ihren vielfältigen kulturellen Ausprägungen, ihrer wirtschaftlichen Entwicklung und ihrer politischen Struktur über einen langen Zeitraum zu beobachten und wechselseitiges Verständnis aufzubauen. Wir sehen durchaus, wie viele Dinge sich hier in einem beständigen Prozess der Kommunikation, aber auch in einem Prozess hin zu besseren Lebensbedingungen entwickelt haben. Solche Beobachtungen unterstreichen ganz deutlich den Optimismus für das, was alles an Potenzialen in der zukünftigen Entwicklung noch stecken kann. Deshalb hoffe ich sehr, dass unsere Diskussion und Ihr Aufenthalt hier in Wiesbaden für beide gemeinsam etwas bringt: Für diejenigen, die auf den unterschiedlichen Ebenen hier in Deutschland politische Verantwortung tragen ebenso wie für Sie, unsere Gäste aus Russland, die dort Verantwortung übernommen haben – unter ganz anderen Bedingungen, mit ganz anderen kurz- und mittelfristigen Zielsetzungen, auch sicher mit ganz anderen Belastungen und Herausforderungen.
Am Ende verbindet uns die gemeinsame Verantwortung auf einem Kontinent zu leben, wo man sicher keinen Krieg mehr und möglichst wenig Eskalation in politischen Auseinandersetzungen haben möchte, wo Menschen frei nach Glück und Wohlstand streben können. Bei allen Schwierigkeiten und Diskussionen sollten wir immer froh und dankbar sein, dass wir heute auf diesem Kontinent leben und uns mit den Problemen auseinandersetzen müssen, die wir haben. Es gibt wahrlich Andere, die vor größeren Herausforderungen stehen. Das darf uns nicht leichtfertig werden lassen, aber das sollte uns auch ein Stück die Freude und den Optimismus geben zu glauben, dass wir die Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte bewältigen können. Darin besteht letztendlich der einzige Grund, warum sich jemand in die Politik begibt: Der festen Überzeugung zu sein, dass er einen Beitrag leisten kann, die Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte zu bewältigen. Ich hoffe, dass auch wir einen ganz kleinen Beitrag zur persönlichen Lebenserfahrung und Diskussion mit dem Petersburger Dialog hier in Wiesbaden leisten können. Insofern herzlich willkommen, viel Erfolg und gute Eindrücke bei der gemeinsamen Arbeit!