Risikobereit und glaubwürdig
Ein Beitrag von Ministerpräsident Roland Koch in der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 7. Mai 2007
Die Wirtschaft wächst, die Arbeitslosigkeit sinkt. Beide Entwicklungen werden aber nur dann von Dauer sein, wenn Deutschland mit den Anforderungen der Globalisierung Schritt hält. CDU und CSU müssen nach Ansicht des hessischen Ministerpräsidenten und stellvertretenden CDU-Bundesvorsitzenden Koch die Diskussion über die dazu notwendigen Schritte vorantreiben: Der gesetzliche Kündigungsschutz muss gelockert, ein staatlicher Mindestlohn verhindert werden.
Unserer Wirtschaft geht es wieder gut, jedenfalls in vielen Regionen und Branchen. Wir haben allen Grund, uns darüber nach all den Jahren mit vielen Meldungen über Insolvenzen, Entlassungen und anderen negativen Entwicklungen zu freuen. Diese Daten sind auch eine wichtige Voraussetzung, um Vertrauen für die Politik und gerade für die beiden in der großen Koalition regierenden Parteien wiederzugewinnen. Wenn man bedenkt, dass die Arbeitslosigkeit innerhalb von nur zwölf Monaten um 800 000 Arbeitsplatzsuchende verringert wurde und zugleich weiß, dass das Programm „Wohnen und Energie“ der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) mit seinem Gesamtkreditvolumen von mehr als 13 Milliarden Euro in 2006 alleine der Grund für 400 000 neue Jobs ist, dann kann man zu Recht von einer Leistung der Regierung sprechen und wird auch sofort gewarnt zu glauben, diese Effekte seien jetzt dauerhaft gesichert.
Genau an dieser Stelle beginnt die Herausforderung für CDU und CSU. Konsequenz und Glaubwürdigkeit sind gefragt. Die SPD wird von den Menschen als Anwalt der sozialen Absicherung wahrgenommen. Wenn es aber um Wachstum und Arbeitsplätze geht, schauen alle auf die Union. Von uns erwartet die Mehrheit der Deutschen eine Perspektive für sichere Jobs. Deshalb ist die aktuelle Entwicklung hilfreich.
Seit Angela Merkel Bundeskanzlerin ist, werden Jobs in Deutschland wieder zahlreicher, und sie werden sicherer. Wenn sich jedoch das Verständnis von Arbeit und Beschäftigung in Deutschland nicht grundsätzlich ändert – und das betrifft die Erwartungen jedes Einzelnen ebenso wie den rechtlichen Rahmen – wird sich die positive Bilanz bald als Strohfeuer entpuppen. Das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Politik im Allgemeinen, insbesondere aber in das Vertrauen in die Unionsparteien, wird dramatisch verfallen, weil dann neue Hoffnung abermals enttäuscht würde.
Für die CDU/CSU ist die in dieser Entwicklung liegende Herausforderung fast existenziell und in Zeiten einer großen Koalition von besonderer Brisanz. Gerade wenn der Druck der Krise nachlässt, klingen Forderungen nach einer Lockerung des Kündigungsschutzes und die Ablehnung von gesetzlichen Mindestlöhnen geradezu bedrohlich. Immerhin empfinden etwa zwei Drittel aller Deutschen die derzeitige gesellschaftliche Situation eher als „ungerecht“. Ist da jetzt wieder das Spielfeld für die SPD? Ist die Krise überwunden und der Staat als Schutzmacht aller Arbeitnehmer angesagt? Diese Gefahr ist nicht zu leugnen. Nach einer Allensbach-Umfrage für diese Zeitung vom März dieses Jahres hatten im Jahr 2005 82 Prozent der Aussage zugestimmt, Deutschland sei in einer Krise und es müsse sich unbedingt etwas ändern. In diesem März waren es nur noch 48 Prozent.
Mit der Wirklichkeit unseres Landes hat das nicht viel zu tun. Dennoch sind nicht wenige in der SPD auf dem Weg zurück von Schröders Agenda 2010 zu schöner, klarer, linker Kapitalismuskritik – verbunden mit der Werbung für einen allgegenwärtigen, vermeintlich gerechten Wohlfahrtsstaat für alle. Die SPD denkt derzeit darüber nach, die Gespräche über Mindesttarife scheitern zu lassen, um unter dem Motto „Gerechter Lohn für gute Arbeit“ in die nächsten Wahlkämpfe zu ziehen. Soll, ja muss die Union dem nachgeben? Hat sie eine andere Chance? Am Ende läuft dies alles auf eine banale Frage hinaus: In welchem Verhältnis stehen Glaubwürdigkeit und Risikobereitschaft im öffentlichen Meinungskampf?
Gelegentlich helfen ja Fakten. Wir leben in einer globalisierten Welt, und gerade wir Deutschen leben von dieser Welt. Freilich sollten wir uns den Gedanken abgewöhnen, wir seien der Nabel der Welt. Anfang des 20. Jahrhunderts stellten die Europäer 25 Prozent der Weltbevölkerung und mehr als die Hälfte der Bevölkerung moderner Industriestaaten. Am Ende des 21. Jahrhunderts werden nur noch fünf bis sieben Prozent der Bevölkerung der Welt Europäer sein (nicht viel größer wird der Anteil an der Bevölkerung der Industriestaaten sein). Unseren Wohlstand werden wir nur erhalten, wenn immer mehr Menschen in der Welt reich genug werden, sich unsere teuren Produkte und Dienstleistungen leisten zu können, und wenn wir schnell und gut genug bleiben, um immer etwas wirklich Gutes anbieten zu können.
Bisher geht das gut, und es gibt genug Gründe, darin eine wohlbegründete Chance für die Zukunft zu sehen. Aber wenn immer mehr Menschen an immer mehr Plätzen der Welt mit immer besserer Ausbildung ins Spiel kommen, müssen auch wir uns auf rasend schnelle Veränderungen einstellen. Gabriele Fröhlich-Gildhoff, eine Psychosomatik-Expertin aus Bad Wildungen, hat vor kurzem festgestellt, für diese Dynamik und die raschen Veränderungen in der Arbeitswelt „sei die menschliche Seele nicht geschaffen“. Angesichts der Dynamik in anderen Teilen der Welt sicherlich eine ziemlich deutsche These, aber sie trifft sicher die Empfindungen der Mehrheit der deutschen Arbeitnehmer, ein Grundgefühl, mit dem sich gerade eine konservative Partei auseinandersetzen muss, wenn sie Mehrheiten erringen will.
Was „die Seele“ braucht, wird es in alter Form nicht mehr geben. Ich verstehe gut, wenn viele hier das Wort „leider“ hinzufügen wollen, aber Politikern in Verantwortung ist gerade wegen der gewaltigen Dynamik der Globalisierung eine solch sentimentale Betrachtung selbst dann nicht erlaubt, wenn sie populär ist. Firmen werden eher für fünf Jahre gegründet denn für 50. Viele Arbeitnehmer werden zwei und drei Berufe im Leben ausüben, weil es die ursprünglich erlernte Tätigkeit beim Eintritt ins (spätere) Rentenalter längst nicht mehr gibt. In unserem Nachbarland Dänemark wechseln schon heute dreimal so viele Arbeitnehmer pro Jahr den Arbeitsplatz wie hierzulande. Dennoch herrscht Vollbeschäftigung.
Natürlich, das trifft nicht alle Arbeitnehmer in gleichem Maße. Unsere Wettbewerbsfähigkeit hängt vor allem von jenem Viertel der Arbeitnehmer ab, die mit besonderen Herausforderungen an Ausbildung, Leistungsdruck und Flexibilität konfrontiert sind. Hundert Prozent der Arbeitnehmer werden Arbeit haben und gut leben, wenn die 25 Prozent erfolgreich sind. Wer diese 25 Prozent genau sind, wird Jahr für Jahr neu in der Konkurrenz entschieden und ist von keiner staatlichen Autorität vorauszusagen.
Schon heute erleben wir, dass viele sich entwickelnde Länder auf der Welt Produkte und Leistungen anbieten, die früher unsere Domänen waren. Und das zu Preisen, von denen in Deutschland niemand leben kann. Dennoch werden zehn bis fünfzehn Prozent der Arbeitnehmer nicht so weiter qualifiziert werden können, dass sie mit diesem Wettbewerb mithalten. Wir müssen verhindern, dass sie zu Dauerarbeitslosen werden. Aber, zu den Preisen, von denen sie leben können, wird ihre Arbeit in Deutschland nicht nachgefragt werden, es sei denn, wir fänden eine Kombination aus marktgerechten Arbeitspreisen und einer Umverteilung zwischen den international konkurrenzfähigen und den nichtkonkurrenzfähigen Arbeitskräften, die den Leistungsanreiz erhält und allen die Chance für eine angemessene Teilnahme am gesellschaftlichen Leben verschafft.
Verkraftet das die Seele einer konservativen Wählerschaft? Es kommt ja oft noch dicker. Wir sprechen von Bindungen und müssen verlangen, dass die Menschen umziehen, um Arbeit zu bekommen, dass sie Familien gründen sollen, obwohl sie nur befristete Beschäftigung haben. Wir schaffen Möglichkeiten, dass ein hoher Prozentsatz der Kinder wegen der demographisch nötigen höheren Frauenerwerbsquote schon sehr früh kollektiv betreut werden wird. Werden die traditionellen Wähler der Union uns noch verstehen? Oder werden sie zu den Sozialdemokraten als den wirklich Strukturkonservativen unserer Zeit überlaufen?
In kaum einem Land der Welt gibt es einen schärferen Kündungsschutz, höhere soziale Grundsicherung und mehr finanzielle Unterstützung der Familien. Das lässt sich nur erhalten, wenn wir die Herausforderungen des Wettbewerbs annehmen. Dazu gibt es keine Alternative. Nicht nur die Verantwortlichen der Union, auch der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder und alle Sachverständigengremien dieser Republik sind davon überzeugt. Aber eine Mehrheit der Menschen eben nicht. Das ist das Dilemma der Weltwohlstandsgesellschaft Nummer eins. Deutschland in der Zeit des Wandels durch Globalisierung.
Die CDU/CSU muss es wagen, ihren Überzeugungen zu folgen, auch wenn sie auf den ersten Blick Gefahr läuft, ihre Mehrheitsfähigkeit zu verlieren. An der Weisheit, dass derjenige, der erwartet, dass die Menschen ihm folgen, den Mut haben muss, als Erster zu gehen, führt auch in der globalisierten Welt kein Weg vorbei.
Wenn Deutschland den Kündigungsschutz in der jetzigen Form beibehält, werden angesichts der kurzen Zeiträume, für die Unternehmen den Bedarf an Arbeitsplätzen noch sicher voraussehen können, die Beschäftigungsmöglichkeiten bevorzugt in Ländern mit flexibleren Regeln geschaffen. Dänemark ist dafür nur ein Beispiel. Nur ein deutlich verringerter Kündigungsschutz kann einige hunderttausend zusätzliche Arbeitsplätze schaffen. Solange dieser Schritt nicht getan wird, muss Zeitarbeit diese Lücke notdürftig füllen und darf auf keinen Fall eingeschränkt werden, auch wenn einige linke Sozialdemokraten schon wieder daran denken. Wir sollten froh darüber sein, dass wenigstens die Zeitarbeit heute hilft, Jobs zu schaffen, und es wäre gut, wenn man sich auch bei der SPD um die Gründe für Zeitarbeit kümmern würde, anstatt sie zu beschimpfen.
Auch ein staatlicher Mindestlohn ist in einem in dieser Weise politisierten Deutschland, in dem wirtschaftpolitische Grundfragen zu Fragen der „Seele“ werden, unverantwortlich. Gerade an diesem Punkt ist die Problematik der aktuellen Gerechtigkeitslyrik gut zu sehen. Natürlich klingt es toll, wenn ein Arbeitsminister und der Gewerkschaftsvorsitzende gemeinsam sagen: „Keiner darf weniger als 7,50 Euro in der Stunde verdienen.“ Und natürlich sind Löhne von 3,50 Euro und weniger kaum zu verteidigen.
Es muss ja wirklich jeder, der Vollzeit arbeitet, ein Gesamteinkommen haben, das etwa bei 7,50 Euro in der Stunde liegt. Aber wenn die Qualifikation auf dem Markt diesen Preis nicht erzielt, gibt es in Wahrheit nur die Wahl zwischen der Kombination von Einkommen aus Arbeit und staatlicher Hilfe oder der vollständigen Arbeitslosigkeit und damit dem Leben vom Staat. Deshalb ist jeder Kombilohn gerechter und menschenwürdiger als ein Mindestlohn, mag er auch noch so schön klingen. Die sehr populistische Debatte, die von Gewerkschaften und SPD derzeit geführt wird, kann eine Anzahl von Arbeitsplätzen in Deutschland vernichten, die weit über die Millionengrenze geht.
Unser Vorteil ist die Autonomie der Tarifpartner, die durch das staatliche Recht der Allgemeinverbindlichkeit im Ausnahmefall ergänzt wird. Diese Instrumente taugen zur Lösung der Probleme bei nahezu oder tatsächlich sittenwidrigen Niedrigstlöhnen, und ein Lohn unter drei Euro ist das sicher immer, egal wie ein Kombieinkommen aussieht. Die Unternehmen werden nur dann hinreichend flexibel sein, wenn im Einvernehmen der betrieblichen Gemeinschaft weitreichende Abweichungen von den Tarifverträgen möglich sind, um auf betriebliche Besonderheiten Rücksicht zu nehmen, im Preiskampf wettbewerbsfähig zu sein und im Erfolgsfall den Gewinn auch teilen zu können.
Solche Einsichten führen allerdings nicht weiter, wenn sie in ihrer Verwirklichung nicht auch die Sorgen und Ängste der Menschen aufnehmen. Der Kündigungsschutz muss nicht abgeschafft werden. Es genügt, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer bei Arbeitsbeginn zwischen der Alternative Kündigungsschutzgesetz und klar definierter Abfindung entsprechend der Jahre der Zusammenarbeit verbindlich wählen können. Diese Regelung war schon fast im Koalitionsvertrag, als die Union vor einigen Stimmen aus dem Unternehmerlager zurückgewichen ist.
Entsprechend den dänischen Regeln kann die Union eine nach der Zahl der Arbeitsjahre deutlich großzügigere Regelung des Arbeitslosengeldes I anbieten. Eine Erhöhung der Zahlungen in den ersten Monaten ist dabei genauso denkbar wie eine Verlängerung der Bezugszeit. Da es ohne den heutigen Kündigungsschutz viel weniger Arbeitslose geben wird, rechnet sich das schnell.
Gerade wenn man sich für die betrieblichen Bündnisse für Arbeit einsetzt, muss man über Vermögensbildung für Arbeitnehmer sprechen. Die Union muss das unheilige Kartell von Arbeitgebern und Gewerkschaften gegen die Vermögensinteressen der Arbeitnehmer brechen und ihnen stabile, beim Arbeitsplatzwechsel transportable und weitgehend konkurssichere Möglichkeiten verschaffen, sich am eigenen Unternehmen zu beteiligen. Die Vision der Union bleibt, dass alle Arbeitnehmer in ihren eigenen vier Wänden wohnen und über Ersparnisse und Altersversorgung entscheidenden Einfluss auf das Produktivkapital des Landes nehmen.
Darüber hinaus kommt die Verantwortung für lebensbegleitendes Lernen immer mehr zum Vorschein. Weiterbildung ist in Deutschland noch weitgehend eine Wüste. Die Politik muss einen Rahmen schaffen, der viele private Anbieter auf den Plan ruft, aber die staatliche Gesamtverantwortung für selbstbewusste Arbeitnehmer zwischen 40 und 60, die wissen, dass sie sich jederzeit auf den neuesten Stand des Wissens in ihren Berufen bringen können, nicht länger von sich weist. Zentren für lebensbegleitendes Lernen, wie wir sie gerade in Hessen schaffen, müssen eben selbstverständlich werden.
Konservativ sein bedeutet, die Ordnung der Freiheit zu bewahren und jedem Menschen nach eigenem Können und Wollen die Teilhabe am Wohlstand zu ermöglichen. Mit den Instrumenten des letzten Jahrhunderts, so lieb wir sie auch gewonnen haben, wird das nicht gehen. Die Arbeitnehmer der Zukunft werden keine niedrigst bezahlten rechtlosen Wanderarbeiter ohne Heimat und Selbstbewusstsein sein, auch wenn die SPD das behauptet, um ihr Image als Bewahrerin leuchten zu lassen.
Die Arbeitnehmer der Zukunft werden sehr gut ausgebildet sein. Sie werden zu weit größerem Anteil als heute Eigentum an ihren Wohnungen haben – derzeit sind es in Deutschland 45 Prozent, in Spanien aber 82 Prozent. Sie werden Vermögen als Beteiligung an ihren Arbeitgebern erworben und zur Verbesserung ihrer Altersversorgung aus Gewinnbeteiligungen angespart haben. Sie werden sichtbaren Einfluss auf das Geschehen in „ihrem“ Betrieb oft nicht nur als Arbeitnehmer, sondern auch als gemeinschaftliche Kapitalgeber haben und somit ihre eigene Zukunft gestalten. Sie werden mit der geforderten Flexibilität leben können und sie nicht als Gefahr, sondern als Chance erleben. Sie bleiben durch Versicherungen geschützt vor den großen Risiken, aber sie gestalten die Art des Schutzes selbst mit und wählen verantwortlich, welche Risiken sie wie sichern wollen. Das ist unsere Vision vom Arbeitnehmer in diesem Jahrhundert der globalisierten Welt. Dessen Seele wird keinen Schaden nehmen.
Es mag sein, dass die Mehrheit der Bürger uns im Jahr 2007 das nicht glaubt oder nicht zutraut. Die Realitäten sind so drängend, dass wir diesen Sorgen nicht nachgeben dürfen. Wir müssen vorangehen, überzeugen wollen und mutig für die Ideen kämpfen. So bleibt es eben bei der Frage Risikobereitschaft oder Glaubwürdigkeitsverlust. Die Union hat schlicht keine Chance gegen ihre sozialdemokratischen Konkurrenten, wenn sie um vordergründiger Popularität willen ihre Risikobereitschaft aufgibt und damit ihre Glaubwürdigkeit verliert.