Koch: Hessen bei Betreuung von unter 3-Jährigen vorn dabei
Hessens Ministerpräsident Roland Koch im Interview mit „Die Welt“ zu Familienpolitik, Bambini-Programm und Ganztagsschule
DIE WELT: Herr Ministerpräsident, es gibt viel Unmut in der Union über die Familienpolitik der Ministerin Ursula von der Leyen: Sie beschädige den Markenkern der Partei. Ist diese Kritik berechtigt?
Roland Koch: Das Gegenteil ist richtig. Die einzige Chance, die Identität der Union als einer Partei zu wahren, die den im besten Sinne konservativen Wert der Familie hochhält, sehe ich darin, dass wir den Weg, den Ursula von der Leyen da beschritten hat, mitgehen. Wir wollen, dass auch die heute Zwanzigjährigen mit Freude Familie gründen, nicht nur heiraten, sondern auch Kinder bekommen. Wir haben uns als Gesellschaft große Mühe gegeben, Männer und Frauen so gut auszubilden, dass sie gleichberechtigt in der Berufswelt bestehen können. Beides vereinbar zu machen, ist der einzige Weg, Familie auch in Zukunft zu erhalten – eine Kernaufgabe der CDU.
DIE WELT: Der Familienministerin wird außerdem vorgeworfen, durch ihr Auftreten Frauen, die zu Hause bei ihren Kindern bleiben wollen, als rückschrittlich zu brandmarken.
Koch: Man lebt da mit dem Risiko des permanenten gegenseitigen Missverständnisses: Die Berufstätigen fühlen sich als Rabenmütter verdächtigt, diejenigen, die sich für Erziehungsarbeit und Familienmanagement entscheiden haben als Frauen, die keine Lust haben, arbeiten zu gehen. Die CDU muss es schaffen, emotionsfrei Gleichberechtigung in der Wertigkeit dieser beiden Optionen zu schaffen. Aber daraus erwächst eben auch die Verpflichtung, denjenigen, die Berufstätigkeit und Familie vereinbaren wollen, ein vertrauenswürdiges, qualitativ hochwertiges Angebot der Zusammenarbeit bei der Betreuung der Kinder zu machen. So schafft man die Voraussetzung dafür, dass sie erfolgreiche Kinder von glücklichen und zufriedenen Müttern werden. Das gleiche Ziel haben Mütter, die sich für eine Zeit lang oder für ihr ganzes Leben entscheiden, zu Hause zu bleiben. Dieses Ziel ist wichtig für die gesamte Gesellschaft. Deshalb darf man die beiden Optionen nicht gegeneinander ausspielen.
DIE WELT: Derzeit ist auch viel von ‚Staatsdirigismus’ die Rede, von zu viel Intervention ins Privatleben von Eltern und Kindern…
Koch: Wir müssen eine Entwicklung ganz nüchtern zur Kenntnis nehmen. Es gibt zu viele Kinder, von denen wir den Eindruck gewinnen müssen, ihre Eltern brächten nicht genug Interesse dafür auf, dass ihnen eine glückliche und sichere Zukunft bevorsteht. Das gipfelt in Gewalt gegen Kinder, was zwar nur eine kleine Minderheit betrifft, uns aber dennoch alarmieren muss. Es beginnt aber schon mit so schlichten Dingen wie dem fehlenden Frühstück vor der Schule, und der Frage, ob genügend Geld in die Verpflegung der Kinder gesteckt wird. Oder ob in einer Gesellschaft, in der es wieder mehr Analphabeten gibt, zu Hause noch in ausreichendem Maß vorgelesen wird, ob genügend Auseinandersetzung mit Sprache stattfindet, ob die Eltern nicht morgens um zehn schon volltrunken sind.
DIE WELT: Kitas als Schutz gegen Verwahrlosung…
Koch: Nur in diesem Zusammenhang gibt es die Notwendigkeit für Staatsdirigismus, um zu verhindern, dass die Kinder von heute nicht die Verlierer der Zukunft von morgen sind. Ansonsten muss der Staat Alternativen anbieten. Die Berufstätigen haben in der Vergangenheit oft erfahren müssen, dass es riskant und schwierig für sie ist, beides zu vereinbaren, und das wird auch in der Zukunft schwierig sein, genau so wie es nicht einfach sein wird, sich für die Konzentration auf die Familie zu entscheiden. Das kann der Staat auch nicht vollends ändern. Aber er kann einen Beitrag dazu leisten, dass Frauen sich frei fühlen, da ihre jeweils eigene Wahl zu treffen. Wer die Familie als kleinste Einheit des Staates will muss wissen, dass wir sie gefährden, wenn wir das nicht tun.
DIE WELT: Auch in Hessen kann nicht jede Frau mit einem Kinderbetreuungsplatz rechnen.
Koch: Bei den Kindergärten haben wir eine flächendeckende Versorgung. Für die unter 3-Jährigen haben wir im letzten Jahr die Zahl um 3500 auf jetzt 18.700 gesteigert und sind nun bei den westlichen Flächenländern vorne dabei. Aber es gibt noch viel zu tun. Deshalb haben wir jetzt ein eigenes Finanzprogramm „Bambini“ aufgelegt, das nicht nur die Betreuung im letzten Kindergartenjahr freistellt, sondern den Kommunen auch Mittel zur Verfügung stellt, in diesem Bereich flächendeckend zu investieren. Wir wollen besonders im Bereich von 0-10 Jahren sicherstellen, dass es die Alternativen für Eltern gibt. Ganztagsbetreuung ist in Hessen eine Option, die man wählen kann, aber nicht muss.
DIE WELT: Wo gibt es überhaupt noch Unterschiede zur sozialdemokratischen Familienpolitik?
Koch: Unsere Kollegen in der SPD verfolgen beispielsweise nach wie vor die Idee der verpflichtenden, integrierten, einheitlichen Ganztagsschule. Sie wollen eine möglichst gleichförmige, wenig Unterschiede zulassende Betreuung. Sie sind sehr für die Krippe und skeptischer bei der Tagesmutter. Unser Ansatz ist die Vielfalt der Möglichkeiten, Familien Angebote zur Verfügung zu stellen, und nicht das System für die Familien entscheiden zu lassen. Aber keine Partei kann es sich erlauben, auf diese Alternativen zu verzichten.
DIE WELT: Was ist ihre Botschaft an die wütenden Hausfrauen-Mütter?
Koch: Die CDU muss natürlich darauf achten, dass diejenigen, die in der Vergangenheit einen Großteil der Erziehungsarbeit getragen und auf sehr viel verzichtet haben – auf Materielles, auf Karriere, auf Altersversorgung – dass diese Menschen sich jetzt nicht als die Dummen fühlen. Aber meine Erfahrung ist, dass wenn solche Mütter sich heute ansehen, was ihre Töchter oder ihre Enkel wollen, dann sehen sie andere Bedürfnisse. Das ist kein Werturteil über ihre Biografie. Wir haben doch den gemeinsamen Wunsch, den Kindern und Familien heute gerecht zu werden.
DIE WELT: Nehmen wir einmal an, es gäbe heute eine Abstimmung in der Union: Wie schätzen Sie denn die Kräfteverhältnisse ein, hätte von der Leyen eine Mehrheit?
Koch: Ich bin mir ganz sicher, dass sie eine große Mehrheit hätte. Natürlich gibt es dazu überall Diskussionen. Gesellschaftlicher Wandel findet doch nicht diskussionsfrei statt. Die CDU muss diesen Wandel auch leben. Es gibt bei uns viele, die sich angesichts ihrer eigenen Lebensgeschichte fragen, ob das alles durch die heutige Lebenspraxis entwertet wird. Das wird es nicht. Aber wenn keiner mehr deren Stimme erheben würde in der Union, dann würden sie vielleicht an der Partei verzweifeln!
DIE WELT: Viele haben Angst vor dem Bild der Zerstrittenheit.
Koch: Den Prozess, den ich hier beschreibe, die Tatsache, dass wir uns ändern – diesen Prozess muss man doch sehen können! Eine Volkspartei lebt davon, dass so etwas nicht klammheimlich organisiert wird. Aber sie lebt eben auch davon, dass Menschen vorangehen. Das tut Ursula von der Leyen, das erwartet die politische Führung der Union auch von ihr, dafür bekommt sie unsere politische Unterstützung. Und ich habe sie jetzt gerade in meinem eigenen Wahlkreis erlebt. Wenn sie ihr Familienbild erklärt, dann hat sie eine überwältigende Zustimmung.
DIE WELT: Parteistrategen befürchten, dass die Union zwar traditionelle Wähler verliert, dass aber die angepeilten städtischen Akademikerinnen deshalb noch lange nicht nachrücken und trotzdem weiter die Grünen oder die SPD wählen.
Koch: Meine Empfehlung an die CDU und an jede andere Partei ist, bei allem Respekt für die jeweiligen Wähler und Wählerinnen, sich in erster Linie daran zu orientieren, was richtig ist. In unserem Programm steht nicht, dass wir für oder gegen Kinderbetreuung sind. Da steht, dass die Familie die Keimzelle der Gesellschaft ist. Aber wenn wir nicht aufpassen – und nüchtern registrieren, dass die Akademikerinnen über eine Generation hinweg zu fast fünfzig Prozent keine Kinder mehr bekommen haben – können wir das Programm irgendwann löschen. Der Staat kann Familie nicht anordnen. Aber er muss sie als Lebensform immer wieder erlebbar und möglich machen. Wenn wir über diese Zusammenhänge reden, wie wir das im Augenblick tun, bin ich fest davon überzeugt: wir werden keinen einzigen Wähler verlieren.
DIE WELT: Viele ältere Unionspolitiker haben familienpolitisch umgedacht, als sie selber erwachsene Töchter hatten.
Koch: Ja, sie stellen plötzlich fest, sie sind stolz darauf, wenn die Tochter ein ebenso gutes Abitur hat wie der Sohn. Sie fragen sich, wie sie ihr helfen können, im Beruf zu bestehen, ob sie sich an der Kinderbetreuung vielleicht selbst beteiligen, da eröffnen sich auf der ganz persönlichen Ebene ganz neue Perspektiven. Die gesellschaftspolitische Abstraktheit muss aus der Debatte raus. Ich habe noch keinen getroffen, der über seine Töchter und Enkel dann nicht in von der Leyens Sinn redet. Und damit meine ich genau die konservativen Wähler, die kann man alle gewinnen.
DIE WELT: Apropos Gesellschaftspolitik. Von der Leyen will ja mehr als nur Kinderbetreuung; sie will ein neues Rollenverständnis von Männern und Frauen. Die EU nennt es ‚Gender Mainstreaming’. Wird Ihnen da nicht ein bisschen mulmig?
Koch: Immer langsam und behutsam! Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass wir eine Gesellschaft sind, in der Männer immer noch Probleme haben, zu erklären, dass auch sie Kinder betreuen wollen. Meine eigene Lebenserfahrung ist – und bei meinen Söhnen wird das noch intensiver sein – dass man die Kinderbetreuung mitleben will. Mit den ‚Vätermonaten’ hat der Staat jetzt einen bescheidenen Hinweis gegeben, dass der Mann nun in seinen Betrieb gehen und diese Zeit auch einfordern kann, statt sich als Weichei zu fühlen. Viele, die das jetzt machen, sind ganz dankbar, damit beim Personalchef auftreten zu können. Denn der Personalchef muss sich ändern! Das ist nicht radikal. Es ist ein kleiner Schubs in Richtung Partnerschaft.
DIE WELT: Also Sie, Roland Koch, begrüßen das Ende des Alphatiers!?
Koch: Das Alphatier ist doch längst nicht mehr männlich.
Das Interview führte Mariam Lau