Koch: Wir brauchen eine neue EU-Verfassung, aber ohne neuen Streit um Grundrechte
Ministerpräsident Koch im Interview mit der „Neuen Zürcher Zeitung“
Neue Zürcher Zeitung (NZZ): Deutschland hat derzeit gleichzeitig die EU-Ratspräsidentschaft und den G-8-Vorsitz inne. Wie wichtig ist das?
Roland Koch: Es ist in zweierlei Hinsicht wichtig: Zum einen erlaubt es uns, die politische Agenda in Europa massgeblich zu gestalten, zum anderen ist es für die deutsche Regierung, die ja nicht in ganz einfachen Umständen agiert, eine Chance, diese internationalen Aufgaben sichtbar mit Erfolg zu bewältigen. Es ist schon jetzt zu sehen, dass sich das souveräne aussenpolitische Auftreten von Bundeskanzlerin Merkel sehr positiv auf ihre Arbeit in der Innenpolitik auswirkt.
NZZ: Unter der Ära Schröder war Deutschland gegenüber Europa eher forsch und selbstbewusst aufgetreten. Davon spürt man nicht mehr viel. Pflegt Berlin eine neue Tonalität?
Koch: Es gibt – jenseits der Tagespolitik – unter Merkel eine sichtbare Rückkehr zum Prinzip Helmut Kohls, die kleineren Mitgliedsstaaten in der EU merken zu lassen, dass man an der Suche nach Übereinstimmung interessiert ist. Unter Gerhard Schröder herrschte der Eindruck vor, es reiche, wenn sich drei, vier Grosse einig seien und es sei eigentlich eine Unverschämtheit, wenn dem jemand widerspreche. Das war kein sehr zielführender Weg. Bei der ersten EU-Haushaltsverhandlung unter Merkel in London hat sie ganz deutlich einen Paradigmen-Wechsel eingeleitet, den sie bisher konsequent weiterführt. Das ist die unabdingbare Voraussetzung dafür, bei der Frage des Verfassungsvertrages weiterzukommen.
NZZ: Geben Sie diesem noch eine Chance?
Koch: Der politische Realismus gebietet, dass nicht ein Text, den zwei wichtige EU-Mitgliedsländer verworfen haben, einfach unverändert nochmals vorgelegt wird. Das kann sich kein Politiker in einem demokratischen Land leisten. Ziel muss sein, in den wichtigen institutionellen Veränderungen, die der Vertrag vorsieht, eine Übereinkunft zu erzielen, und dass es keinen neuen Streit bei den Grundrechten gibt. Das halte ich für möglich und wahrscheinlich. Es besteht Konsens, dass wir’das Europa der 27 mit den Schwächen des Nizza-Vertrages nicht aufrechterhalten können.
NZZ: Lenkt die EU-Ratspräsidentschaft nicht etwas von der Tatsache ab, dass die Regierung Merkel innenpolitisch bisher nicht sehr viel erreicht hat?
Koch: Die Kanzlerin hat zu Recht von Anfang an angekündigt, dass die grosse Koalition nur kleine Schritte gehen wird, trotz ihrer Zweidrittelmehrheit im Parlament. Dazu liegen CDU/CSU und SPD zu weit auseinander, und das wird sich auch nicht ändern. Es ist gut, dass es diese Antipoden gibt, das ist für Deutschland kein Schaden. Sie werden nicht dauerhaft zusammen regieren. Die Bürger müssen es wieder wagen, zwischen den zwei Alternativen zu wählen. Aber dies ist eine Frage der nächsten Wahlperiode.
Ich gehe davon aus, dass die Bürger in den kommenden Jahren den Erfolg einer Regierung ökonomisch beurteilen werden. Diese Regierung hat gute Chancen, hier Erfolge vorzuweisen, wenn auch nicht alles ideal ist. Die konjunkturelle Entwicklung ist positiv, die Haushaltssanierung geht in die richtige Richtung, die Untemehmenssteuerreform stärkt die deutsche Wettbewerbsfähigkeit, die Beschäftigung wird zulegen, und wir haben mit der Einführung des Rentenalters 67 einen Meilenstein bei der Altersvorsorge gesetzt. Das heisst nicht, dass wir die Hände in den Schoss legen können. Aber es sind positive Schritte.
NZZ: Nun hört man auch aus den Reihen Ihrer Partei negative Äusserungen zur Liberalisierung und Globalisierung der Begriff «Heuschrecken-Kapitalismus», darüber sollten Sie sich als Hüter auch des Finanzplatzes Frankfurt doch eigentlich besorgen.
Koch: Das sehe ich nicht so. Die CDU hat an ihrem Bundesparteitag in Dresden im vergangenen Herbst ganz deutlich bestätigt, dass wir mit mehr Freiheit auf die Herausforderung der Globalisierung reagieren wollen, weil mehr Freiheit zu mehr Wohlstand führt. Aber wir müssen akzeptieren, dass es uns bis heute argumentativ nicht ausreichend gelungen ist, dieses Prinzip auch einer Mehrheit zu erklären. Die CDU muss auf die Sorgen und Ängste der Bürger eingehen; sie kann nicht mit einer Sprache sprechen, mit der sie keine Stimmen bekommt. Das heisst nicht, dass wir unsere Überzeugung in den Kerninhalten ändern.
Bezogen auf Ihre Frage zum Finanzmarkt: Wir stehen hier in der Tat vor neuen Herausforderungen, etwa dort, wo ausländische Investoren aus politisch-strategischen Überlegungen nach deutschen Firmen greifen. Ich will hier ganz offen sein: Wir haben nicht die deutsche Versorgungswirtschaft privatisiert, um sie anschliessend in ausländischen Staatsbesitz zu verkaufen. .Es kann doch nicht sein, dass ein Milliardenuntemehmen wie Gazprom, von dem wir wissen, dass es direkt unter dem Einfluss der Politik steht, die deutschen Energieunternehmen kauft. Damit müssen wir uns auseinandersetzen, was früher nicht der Fall war.
NZZ: Wie aber lässt sich der Widerspruch auflösen zwischen Globalisierung und Liberalisierung und dem von Ihnen jetzt skizzierten Kontroll- und Steuerungsbedarf dieses Prozesses?
Koch: Darauf gibt es keine abschliessende Antwort, obwohl Amerikaher und Franzosen dazu schon längst sehr strikte Regelungen haben. Wir haben uns bei der Öffnung unserer Märkte vorgestellt, mit primär privat getriebenen Interessenten konfrontiert zu sein. Auch das ist nicht immer ganz einfach, schlicht schon deshalb, weil die Politik immer neben den Maximierungsrealitäten auch die sozialen Folgen kapitalisieren muss, die andernorts entstehen. Das ist die grosse Herausforderung. Wir haben aber immer gesagt, dass Wirtschaft gegenüber Politik nicht schrankenlos ist und dass ein Land immer von politischen Instanzen regiert wird und nicht von Wirtschaftsführern. Diese Debatte ist nicht neu, aber wir müssen sie führen auch auf die Gefahr hin, dass sie bei den Antiprotektionisten nicht auf unumschränkte Zustimmung stösst. Aber wir müssen Mittel und Wege finden, wie wir mit den neuen Marktentwicklungen und den neuen Akteuren umgehen, etwa mit Russland oder China. Das dient auch der Berechenbarkeit.
NZZ: Wie vernünftig ist es angesichts der jüngsten Versorgungsprobleme mit Russland, in Deutschland am Kernenergie-Ausstieg festzuhalten?
Koch: Das ist ein Bereich, wo sich die Partner der grossen Koalition einfach nicht einig sind. Daran wird sich in dieser Wahlperiode nichts ändern. Ich würde es in einer pragmatischen Sichtweise freilich begrüssen, wenn wir uns wenigstens innerhalb des Atom-Kompromisses ohne Stilllegung von Kernkraftwerken auf ein Moratorium bis zum Anfang des nächsten Jahrzehnts verständigen könnten. Das böte uns die Möglichkeit, in Ruhe eine strategische Einschätzung vorzunehmen.
NZZ: Haben wir diese Zeit? In der Schweiz geht man ohne neue Energiequellen von einer drohenden Versorgungslücke aus.
Koch: Unsere Versorgungsstruktur würde es meiner Ansicht nach erlauben, bis weit in die zweite Hälfte des nächsten Jahrzehnts zuzuwarten, ohne Neubau von Kernkraftwerken vor allem, weil deren Laufzeit entsprechend den auch in den vergangenen Jahren getätigten Milliardeninvestitionen in die Technik verlängert werden kann. Auch haben wir einen signifikanten Zuwachs der erneuerbaren Energien von heute 5 auf künftig 15 oder sogar 20 Prozent. Aber es wird nicht reichen, die heute 38 Prozent Atomstrom in Deutschland zu ersetzen. Biblis A und B, die zwei Atomkraftwerke in Hessen, decken 60 Prozent der Stromproduktion des Bundeslandes. Wenn wir die stilllegen, gibt es nach Einschätzung unseres Umweltministeriums keine “ denkbare Alternative,“ ‚die nicht zu einer erheblichen Verletzung der Klimaschutzziele führt.
Das Interview führte Chefredaktor Markus Spillmann.