Ministerpräsident Roland Koch im Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“
DIE ZEIT: Herr Koch, Deutschland hat vor wenigen Tagen die Ratspräsidentschaft der Europäischen Union übernommen. Haben Sie angesichts der ungeheuren ökonomischen Dynamik in Ländern wie China oder Indien manchmal Zweifel, ob Europa in dieser Konkurrenz überhaupt noch mithalten kann?
Roland Koch: Man sollte die ungemeine industrielle und technologische Erfahrung, die Kreativität und die soziale Stabilität der modernen europäischen Gesellschaft nicht unterschätzen. Aus diesem Grund freue ich mich über jeden wirtschaftlichen Fortschritt in China oder Indien, denn ich betrachte diese Länder als wachsende Märkte. Wir haben es hier mit Umwälzungen zu tun, an denen ein Kontinent wie Europa teilnehmen und aus denen er durchaus auch Nutzen ziehen kann, sofern er bei sich selbst die Strukturen schafft, um als Partner akzeptiert zu werden. Wenn Europa in wichtigen wirtschaftspolitischen Fragen künftig klarer und mit einer Stimme spricht, wüsste ich nicht, warum uns die globale Dynamik entmutigen sollte.
ZEIT: Sie drängen also auf mehr Europäisierung?
Koch: Die Vielfalt Europas nach innen, mit einem großen Maß an Dezentralität und Schnelligkeit, muss kombiniert werden mit einem präziseren und einheitlichen Auftreten nach außen. Das ist einer der Gründe, weshalb ich der Auffassung bin, dass die EU aufhören muss, ihre Grenzen permanent weiter ausdehnen zu wollen. Denn damit verringert sich die Chance, einheitlich zu handeln. Wir kommen aus einem Jahrhundert, in dem die Europäer sehr wichtig waren, und müssen heute aufpassen, dass wir im Spannungsfeld zwischen dem amerikanischen Kontinent – das ist deutlich mehr als die Vereinigten Staaten von Amerika – und Asien nicht in Vergessenheit geraten.
ZEIT: Das heißt en passant: Nein zur Integration der Türkei in die EU?
Koch: Ich bin von Anfang an ein engagierter Anhänger der privilegierten Partnerschaft gewesen. Für die Handlungsfähigkeit Europas in den nächsten Jahrzehnten wird diese Frage von großer Wichtigkeit sein. Die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei ist für uns von überragendem Interesse, und sie wird Europa ohnehin viel Geld kosten – ob die Türkei nun Mitglied der EU ist oder nicht. Das ist eine sinnvolle Investition in die gemeinsame Zukunft. Es geht aber auch um die Frage der politischen Identität Europas und darum, wie groß die Bandbreite kultureller und gesellschaftspolitischer Unterschiede sein darf, damit man in überschaubarer Zeit zu einheitlichen Meinungen und Entscheidungen kommen kann. Meiner Ansicht nach ist Europa schon derzeit gefordert genug. Europa muss ein einiges, entschlossenes und vor allem handlungsfähiges Kraftfeld sein, ein starker Partner in einer multipolaren Welt, in der die Vereinigten Staaten auch zukünftig eine sehr zentrale Rolle haben werden. Wir Europäer aber müssen die Synapsen zu anderen legen. Denn eine Achse Peking–Washington wäre für Europa nicht ungefährlich. Deshalb muss es zentrales Ziel der europäischen und der deutschen Politik sein, Europa so wichtig zu machen, dass es keine Achse ohne uns geben kann.
ZEIT: Können die Europäer etwas von der beschädigten Supermacht USA kompensieren?
Koch: Das ist eine eher tagespolitische Sichtweise. Für die nächsten 20 oder 30 Jahre wird es alternativlos sein, den Vereinigten Staaten eine Menge an Führungsverantwortung in der Welt aufzulasten. Ich glaube, dass die Amerikaner sehr davon profitieren könnten, das Bündnis mit Europa neu zu begründen. Aber das bedeutet für beide Seiten eine Menge Arbeit. Die Europäer sind nicht entschieden, ob sie die USA so ernst nehmen sollen, und die Amerikaner sind nicht ganz entschieden, ob sie die Europäer so ernst nehmen. Das wird aus meiner Sicht eine der spannendsten Fragen des nächsten Jahrzehnts.
ZEIT: Zur Innenpolitik, Herr Koch. Sie zählten im vergangenen Jahr zu den Unterstützern der Großen Koalition. Was wäre, wenn die Kanzlerin gegen Ende der Legislaturperiode für eine Fortsetzung plädieren würde?
Koch: Angela Merkel will mehr erreichen, als es mit einem Partner geht, der in den großen gesellschaftspolitischen Fragen unser Gegenspieler ist. Wir können mit einer erfolgreichen Arbeit der Großen Koalition Reputation für die Politik zurückgewinnen. Aber wir werden deshalb nicht vergessen, dass unsere Ziele über das hinausgehen, was wir derzeit verwirklichen können. Gemessen an unseren Vorstellungen von Freiheit und Eigenverantwortung, sind die Kompromisse der Großen Koalition erste Schritte in die richtige Richtung, aber auf die Dauer nicht genug. Wir befinden uns in Konkurrenz zu den Sozialdemokraten und nicht in einer dauerhaften Konstellation mit ihnen. Die Bürger müssen Regierungen wählen und abwählen können. Auf Dauer würde eine Große Koalition ihnen die Chance nehmen, das Land mitzugestalten und Weichenstellungen in die eine oder andere Richtung vorzunehmen.
ZEIT: Sie selbst verstehen sich mit Finanzminister Steinbrück (SPD) in der Sache doch gut. Ist Ihre Behauptung von der grundsätzlichen Differenz der beiden Volksparteien nicht eine Schimäre?
Koch: Die Tatsache, dass es Menschen wie mir in den letzten Jahren nicht gelungen ist, Menschen wie Sie von einer solchen Meinung abzubringen, ist ein Teil des Irrtums, der zur Großen Koalition geführt hat. Ich kenne in der Tat viele, die sagen: Wenn die beiden großen Parteien zusammen sind, dann muss sich in Deutschland doch etwas bewegen. Aber diese Menschen verkennen: Wenn die beiden Volksparteien nicht verantwortungslos gegenüber ihren politischen Ideen sein wollen, sind die Grenzen, innerhalb deren sie zusammenarbeiten können, sehr eng. Meine Zukunftsvision ist eine andere als die von Peer Steinbrück. Trotzdem vertrauen wir uns und versuchen, unter den gegebenen Umständen mit einem hohen Maß an Rationalität so viele Probleme wie möglich zu lösen.
ZEIT: Seit der Bundestagswahl schwelt in Ihrer Partei der Streit über das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit in einer globalisierten Wirtschaft. Auf dem Dresdener Parteitag ist er offen ausgetragen worden. In dieser Frage scheinen die Fronten innerhalb der Volksparteien fast schärfer als zwischen ihnen.
Koch: Diese Einschätzung teile ich nicht. Im Gegensatz zu dem, was uns von den Sozialdemokraten trennt, handelt es sich bei den Unterschieden innerhalb der Union nur um Nuancen. Nehmen Sie die Frage, wie stark individuelle Eigenverantwortung sein sollte. Das ist im Denken der Union stark verankert, während die Sozialdemokraten immer vom Schutz des Kollektivs – auch unter Rücknahme der Gestaltungsrechte des Einzelnen – ausgehen. Dieser grundsätzliche Unterschied prägt die Debatte über die Gesundheitspolitik, über die Riester-Rente oder über die Bildungspolitik. Die Rede von einer »Sozialdemokratisierung der Union« ist Unsinn.
ZEIT: Es gibt CDU-Ministerpräsidenten, die der Reformpolitik von Rot-Grün Respekt zollen und insgeheim bezweifelt haben, dass die Union zu einem ähnlichen Kraftakt in der Lage wäre.
Koch: Ich habe in den Koalitionsverhandlungen versucht, Sozialdemokraten davon zu überzeugen, Teile der Rede von Gerhard Schröder zur Agenda 2010 wörtlich in den Koalitionsvertrag aufzunehmen. Sie haben das abgelehnt, weil es mit der Identität ihrer Partei nicht vereinbar sei. Interessant ist, dass ein SPD-Kanzler nach einigen Jahren zu dem Ergebnis kam, dass die sozialdemokratische Grundphilosophie nicht zukunftsfähig ist. Aber die Mehrheit der Sozialdemokraten sieht das bis heute anders. Bei der Flexibilisierung des Arbeitsrechts etwa bedeutet das eine klare Grenze für die Große Koalition.
ZEIT: Sie meinen, die SPD habe in der Großen Koalition den Reformpfad verlassen?
Koch: Die Sozialdemokraten hatten sich nach der Wahl zu entscheiden, ob sie auf diesem Weg weitergehen wollen, aber sie haben haltgemacht. Kurt Beck scheint noch nicht präzise zu wissen, wohin er sich in den programmatischen Diskussionen wenden wird. Das ist sein gutes Recht als »suchender Parteivorsitzender«. In der Koalition haben wir damit große Schwierigkeiten.
ZEIT: Würden Sie mit Blick auf die nächsten zwei, drei Jahre den Satz unterschreiben, wie es unter anderem SPD-Chef Kurt Beck formuliert, dass man den Leuten erst einmal nicht mehr zumuten darf?
Koch: Den Satz würde ich deshalb nicht unterschreiben, weil er die Fragestellung verengt. Wir müssen davon wegkommen, dass die Bürger die Übernahme von Eigenverantwortung automatisch als Zumutung begreifen.
ZEIT: In einem Jahr wird in Hessen und Niedersachsen gewählt. Wird der Wahlkampf im Herbst für die Große Koalition zur Belastungsprobe?
Koch: Beide Parteien sind sich bewusst, dass sie noch lange nicht so weit sind, um erfolgreicher als das letzte Mal in einen Wettbewerb auf Bundesebene treten zu können. Das ist eine gute Motivation, weiter hart zu arbeiten und nicht jeden Tag an den Ausstieg aus der Großen Koalition zu denken. Deshalb spricht viel mehr dafür, dass die Zusammenarbeit das Ende der Wahlperiode erreicht, als dass sie vorher beendet wird.
ZEIT: Es ist auffällig, wie offensiv der Bundespräsident in Gesetzgebungsverfahren interveniert. Es wird über die Rolle der Bundesländer debattiert. Verschieben sich die Gewichte zwischen den Verfassungsorganen?
Koch: Die Institution des Bundespräsidenten hat im Lauf der Geschichte in solchen Diskussionen stets bestanden, und das wird auch diesmal so sein. Das ist kein Grund, sich gleich über die Zuordnung der Verfassungsorgane zu sorgen. Das Bund-Länder-Verhältnis ändert sich nach der Föderalismusreform: einerseits mit einer Stärkung des Bundes und andererseits mit mehr Dezentralität, neuen Rechten für die Länder und mit klarerer Aufgabenteilung. Das muss und wird sich einspielen. Die Grundfesten des Systems sind davon nicht tangiert.
ZEIT: Auf Streit innerhalb der Koalition war man gefasst. Aber wie sehr die Ministerpräsidenten als Widersacher im Bundesrat auftreten, überrascht.
Koch: Ach was. In keiner einzigen Frage hat der Bundesrat der Regierung in die Arme gegriffen. Die Tatsache, dass alle Ministerpräsidenten letztlich Mitglieder der Großen Koalition sind, verlagert aber manche Entscheidungsprozesse, die sonst zwischen den Institutionen stattfinden, in die Parteien hinein. Daran müssen sich alle Beteiligten erst gewöhnen.
ZEIT: Das kann ja bis zur totalen Regierungsunfähigkeit gehen.
Koch: Das Regieren in der Großen Koalition ist nicht gerade einfach, aber dass es komplizierter ist, als wenn eine rot-grüne Bundesregierung einer Zweidrittelmehrheit der CDU/CSU im Bundesrat gegenüberstände, kann ich wirklich nicht erkennen. Deutschland ist ein Land, das nicht aus Berlin, sondern aus Berlin und den Landeshauptstädten regiert wird. Das haben die Alliierten und das haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes so gewollt. Als seinerzeit sichergestellt wurde, dass es keinen deutschen Zentralstaat gibt, hat man Europa ein großes Geschenk gemacht. Wir Deutschen sollten uns nicht jeden Tag darüber beschweren. Wir sind eben kein Zentralstaat. Damit sind wir in über sechs Jahrzehnten nicht schlecht gefahren.
Das Interview führten Matthias Geis und Gunter Hofmann.
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