Ministerpräsident Roland Koch im Interview mit der „Welt am Sonntag“
Welt am Sonntag: Herr Koch, bei dem Parteitag Ende November sollen Sie zum stellvertretenden Parteivorsitzenden gewählt werden. Ist das der Lohn dafür, dass Sie seit der Bundestagswahl ungewöhnlich loyal zur Kanzlerin stehen?
Roland Koch: Ich habe aus allen denkbaren Gründen ein Interesse daran, dass diese Koalition unter Führung Angela Merkels erfolgreich ist, auch weil sonst meine Aufgabe, in Hessen 2008 wieder zu gewinnen, nicht einfacher, sondern schwerer würde. Nach den Motiven, warum Angela Merkel mich um die Kandidatur gebeten hat, müssen Sie aber sie fragen.
Welt am Sonntag: Zurzeit agiert die Große Koalition wenig erfolgreich. Die Union fährt bei den Reformen einen Zickzackkurs, bei dem die Wähler heute nicht wissen, was morgen passieren wird.
Koch: Ich kann keinen Zickzackkurs erkennen. Wir haben in der Großen Koalition aber den schwersten aller denkbaren Partner, die Sozialdemokratische Partei. Natürlich beobachten uns unsere Wähler und sagen: „Was ihr in Berlin macht, ist weit von eurem Programm entfernt.“ Das ist wahr, weil die Sozialdemokraten davon riesig weit entfernt sind. In der Koalition vereint sind mit Union und SPD die beiden gesellschaftlichen Antipoden Deutschlands. Die Kompromisse, die eine Regierung daraus macht, können nur solche der kleinen Schritte sein. Es beweist sich allerdings immer mehr, dass diese kleinen Schritte gar nicht so schlecht sind.
Welt am Sonntag: Das ist bislang schwer zu erkennen. Selbst die Kanzlerin gibt zu, dass die Arbeitslosenzahlen nur deshalb sinken, weil nun die Reformen der Schröder-Regierung wirken. Ist das schon genug, um zufrieden zu sein?
Koch: Die ökonomische Bilanz der Großen Koalition wird eher gut als schlecht sein. Die Restrukturierung der öffentlichen Finanzen wird gelingen, die Wirtschaft wächst, die Arbeitslosenzahlen gehen zurück. Und die außenpolitische Reputation ist ohnehin besser, als sie unter Schröder war. Aber immer wenn es prinzipiell wird, hat die Große Koalition ihre Schwierigkeiten. Immer wenn sie große Sprünge machen will, kommt sie an die Grenzen ihrer wechselseitigen Programmatik. Ganz große Reformen sind in der Großen Koalition wohl nicht umzusetzen.
Welt am Sonntag: Da spielen Sie jetzt wohl auf die viel kritisierte Gesundheitsreform an …
Koch: Die Gesundheitsreform ist ein Beispiel. Hier steht in der Großen Koalition das Prinzip des Kollektivs gegen das des Individuums. Die Sozialdemokraten wollen nicht, dass es persönliche Eigenverantwortung im Bereich der Gesundheit gibt. Wir in der Union sind der Meinung, dass ein solidarisches System ohne persönliche Eigenverantwortung des Einzelnen nicht steuerbar ist. Jeder Kompromiss, der gemacht wird, ist möglicherweise notwendig, um das System nicht gegen die Wand fahren zu lassen. Aber er wird nicht viel Zustimmung auf der einen wie der anderen Seite erhalten. Das ist eine schlichte Wahrheit.
Welt am Sonntag: Sie selbst hatten zu Beginn der Regierung Heulen und Zähneklappern angekündigt. Wo ist denn der knallharte Reformkurs geblieben?
Koch: Das, was gemacht wird, sollten wir nicht schlechtreden. Die Ergebnisse der Koalition sind jedenfalls besser als ihr Ruf. Dass Arbeitsminister Müntefering die Rente mit 67 möglich gemacht hat, ist etwas, was in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird. Die Tatsache, dass es eine zeitliche Staffelung gibt von der Mehrwertsteuer, sehr attraktiven Abschreibungsbedingungen bei Neuinvestitionen bis zum Ende des Jahres und dann der Unternehmenssteuerreform, führt dazu, dass wir im Augenblick einen Bauboom haben.
Welt am Sonntag: Die Umfragen zeigen aber, dass keine Regierung schneller das Vertrauen der Menschen verloren hat als diese Koalition.
Koch: Beide Parteien können mit den aktuellen Umfragen nicht zufrieden sein. Der Absturz bei den Demoskopen ist aber zum Teil die Reaktion auf eine vielfach genährte Illusion: Wenn die beiden Großen zusammenarbeiten, gibt es keinen Streit mehr. Schlagen Sie doch mal die Kommentare von vor 18 Monaten auf! Ich erinnere mich noch gut, wie ich kritisiert worden bin, als ich öffentlich gesagt habe, dass von einer Großen Koalition keine großen Dinge erwartet werden dürfen, sondern eher der kleinste gemeinsame Nenner. Dass die Menschen jetzt überrascht und enttäuscht sind, wundert mich nicht. Aber die Koalition hat die Chance, in den nächsten beiden Jahren zu zeigen, was sie kann. Die Haushalte konsolidieren sich, die Arbeitslosenzahlen sinken, und jetzt setzen wir endlich auch die Reform der Unternehmenssteuern um. Wir stehen also nicht mit leeren Händen da. Aber trotzdem würde ich gern eine andere Arbeitsmarktpolitik machen oder eine andere Gesundheitsreform. Aber dazu brauchen wir eine Mehrheit jenseits der SPD.
Welt am Sonntag: Und wie sollen solche Mehrheiten aussehen? Auch Schwarz-Gelb hat nach Umfragen keine Mehrheit, schon länger nicht. Ist dann Jamaika die Rettung?
Koch: Ich bin kein großer Koalitionsarithmetiker. Ich glaube, dass bürgerliche Mehrheiten in Deutschland erreichbar sind. Zunächst muss die Union, die Partei der Kanzlerin in der Großen Koalition, einen guten Job machen. Da schau ich nicht auf die Umfragen, sondern auf das Potenzial der großen Parteien. Eine Partei wie die CDU muss immer den Anspruch erheben, 50 Prozent der Menschen für sich gewinnen zu können.
Welt am Sonntag: Da sind Sie aber Optimist. Dreimal hintereinander ist die Union jetzt bei Wahlen sogar unter der 40-Prozent-Marke geblieben.
Koch: Eine Partei wie die Union, die zur gleichen Zeit mehr Bundesländer regiert als jemals zuvor – wenn die neue Regierung in Schwerin im Amt ist, gibt es ja nur noch zwei Landesregierungen, an denen wir nicht beteiligt sind -, eine solche Partei hat selbstverständlich den Anspruch, in Deutschland mehrheitsfähig zu sein. Absolute Mehrheiten sind schwer erreichbar, aber unseren Anspruch, zumindest mit nur einer anderen Partei, die nicht SPD heißt, die Regierung zu stellen, den haben wir selbstverständlich weiterhin.
Welt am Sonntag: Die SPD wird nicht müde zu behaupten, dass die eigentliche Opposition gegen die Kanzlerin die elf Ministerpräsidenten der Union seien.
Koch: Während der vergangenen zwölf Monate ist nicht ein einziges Gesetzgebungsverfahren der Großen Koalition im Bundesrat gescheitert. Das wird weiter gelten. Dass die Ministerpräsidenten der CDU/CSU ein Interesse am Erfolg dieser Bundesregierung haben, daran kann es keinen Zweifel geben. Was wir aber nicht völlig auflösen können, ist, dass es einen Interessenunterschied zwischen dem Bund und den Ländern gibt. Aufgrund der Schwäche der Sozialdemokraten wird dieser Interessenunterschied in diesen Tagen eher in den Reihen der Union ausgetragen als innerhalb der SPD. Die Ministerpräsidenten sind nun mal nicht die Bundesregierung.
Welt am Sonntag: Was meinen Sie damit?
Koch: Wir sind – auch wenn mancher Journalist in Berlin es für provinziell halten mag – zunächst gewählt, um die Interessen unserer Länder zu vertreten. Wir haben außerdem manchmal erhebliche regionale Interessenunterschiede in der Schwerpunktsetzung bei der Politik auf der nationalen Ebene. Das spielt sich in der Regel zwischen den Unionsländern und der Kanzlerin ab. Aber alle wissen, dass der Erfolg der Großen Koalition am Ende der Kanzlerin zugeschrieben wird. Davon profitieren wir alle.
Welt am Sonntag: Die Ministerpräsidenten der unionsregierten Bundesländer haben manche Vorhaben doch weit vor dem Bundesrat scheitern lassen, etwa eine stärkere Steuerfinanzierung bei der Gesundheitsreform.
Koch: Natürlich nehmen die Länder in Deutschland Einfluss auf die Bundespolitik. Deutschland ist kein Zentralstaat. Die CDU ist glücklich, die Kanzlerin und eine große Mehrheit im Bundesrat zu stellen. Die Kanzlerin kann sich auf uns verlassen, aber sie wird auch in Zukunft Wert darauf legen, mit uns gemeinsam Politik zu machen.
Welt am Sonntag: Das nächste Projekt der Großen Koalition soll die Reform des Arbeitsmarktes werden. Zu welchen Schritten können sich SPD und Union denn zusammenraufen?
Koch: Wir sollten uns keine Illusionen machen, dass es mit der Großen Koalition zu einer prinzipiellen Lockerung der Arbeitsmarktregeln kommen wird. Obwohl aus meiner Sicht hunderttausend Jobs geschaffen werden könnten, wenn es gelänge, den Arbeitsmarkt flexibler zu gestalten oder den Kündigungsschutz zu lockern. Es gibt in Deutschland viele Unternehmen, die nicht bereit sind, neue Jobs zu schaffen wegen unseres im Vergleich zu den Ländern um uns herum untypisch starren Arbeitsrechts. Ich glaube, dass es eher gelingen wird, uns auf Reformen für Arbeitnehmer, die nicht voll leistungsfähig sind, zu einigen.
Welt am Sonntag: Arbeitsminister Müntefering lässt jetzt das Modell der negativen Einkommensteuer prüfen.
Koch: Ich verhehle nicht, dass das Grundmodell der negativen Einkommensteuer mich immer sehr fasziniert hat. Nicht nur wegen der Großen Koalition muss man aber nachdenken, ob man das stemmen kann. Eine negative Einkommensteuer hat Verteilungseffekte von 50 bis 80 Milliarden Euro im Jahr. In der Perspektive des nächsten Jahrzehnts könnte man allerdings überlegen, ob aus dem Gedanken des Kombilohns etwas wie eine negative Einkommensteuer werden wird. In einem globalisierten Arbeitsmarkt können wir Vollbeschäftigung nur erreichen, wenn auch die Geringqualifizierten so viel verdienen können, dass sie ihr Leben finanzieren können. Wenn sie das Beste geben, sollten sie einen angemessenen Lohn bekommen – und dazu könnte auch der Staat mit Zuschüssen beitragen.
Welt am Sonntag: In der Union droht ein Konflikt um die zentralen Begriffe „Freiheit“ und „Gerechtigkeit“. Sie, Herr Koch, wollen das Programm der CDU stärker in Richtung Freiheit ausarbeiten. Ihre Amtskollegen Jürgen Rüttgers aus NRW und Peter Müller aus dem Saarland fordern, die Union müsse mehr soziale Gerechtigkeit in den Fordergrund rücken. Gerät Ihre Position in der CDU in die Minderheit?
Koch: In Zeiten großer ökonomischer Schwierigkeiten gibt es den Drang jeder Gesellschaft, keine großen Risiken einzugehen. In einer globalisierten Gesellschaft ist die Lösung dieser schwierigen Situation aber, dass die Eigenverantwortung steigen muss. Der Begriff der Freiheit der CDU ist aus der Sicht des christlichen Menschenbildes abgeleitet. Er bedeutet Freiheit in Verantwortung. Die Gesellschaft muss begreifen, dass sie nur durch die Anstrengungen jedes Einzelnen Fortschritte gewinnt, dass keiner in einer modernen Gesellschaft das Recht hat, sich auf den anderen zu verlassen. Eigenverantwortung heißt, das Bestmögliche zu geben, ob als Unternehmer oder Arbeitnehmer.
Welt am Sonntag: Hat Herr Rüttgers dann unrecht, wenn er sagt, dass die Union deshalb schlecht bei der Bundestagswahl abgeschnitten habe, weil sie das Soziale aus den Augen verloren habe?
Koch: Die Einschätzung, dass bei der Wahl viele Menschen sich mit ihrer Sorge um die eigene soziale Absicherung bei der Union nicht richtig wiedergefunden haben, ist schlicht richtig. Wir müssen die Menschen mitnehmen, überzeugen, wieder nachvollziehbar machen, dass wirtschaftlicher Fortschritt eine Sache nicht nur für wenige, sondern für alle ist. Das Ziel, allen mehr Sicherheit und persönliches Wohlergehen zu geben, ist heute nur erreichbar, wenn wir auch bereit sind, mehr Risiken einzugehen.
Welt am Sonntag: Die Mehrheit der Deutschen zweifelt mittlerweile sogar daran, dass die Demokratie die beste Staatsform ist. Erhöht die Große Koalition die Politikverdrossenheit?
Koch: Diese Woche hat gezeigt, dass die Große Koalition handlungsfähig und erfolgreich sein kann. Steuermehreinnahmen und der Rückgang bei der Arbeitslosigkeit sind gute Signale. Entschlossene Entscheidungen, ob der gute Kompromiss zur Verwendung dieser Mehreinnahmen, die Einigung bei den Wohnkosten für die Hartz-IV-Empfänger oder die Verständigung bei der Unternehmenssteuerreform zeigen den Menschen, dass die Koalition etwas zuwege bringt. Gute und erfolgreiche Politik ist das beste Programm zur Bekämpfung von Politikverdrossenheit.
Das Interview führten Ansgar Graw, Gisela Kirschstein und Peter Müller