Rede Hessischer Unternehmertag
Ministerpräsident Roland Koch zum Hessischen Unternehmertag der Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände VhU
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich bedanke mich zunächst auch in diesem Jahr gemeinsam mit meinen Kollegen Staatsminister Dr. Rhiel und Staatssekretär Abeln ganz herzlich, dass wir hier beim Hessischen Unternehmertag nicht nur zu Gast sein können, sondern dass diese Veranstaltung heute auch ein Dokument gemeinsamer Bestrebungen und Aktivitäten ist. Es ist wichtig, dass Sie, die hessischen Unternehmerinnen und Unternehmer, die sich heute Zeit genommen haben hier zu sein, aber auch alle, die uns in der politischen Arbeit beobachten, sehen, dass es Dinge gibt, bei denen wir an einem Strang ziehen. Und wenn ich an die „Hessen Champions“ denke, dass es durchaus auch Dinge gibt, auf die wir gemeinsam stolz sein können. Vielleicht sind wir, Deutschland insgesamt, sehr schwer entflammbar dafür, auch ein Stück weit unsere eigenen Erfolge zu feiern und Menschen dafür auszuzeichnen, dass sie etwas tun, was andere vielleicht noch nicht gewagt haben oder woran andere gescheitert sind.
Die Chance, auf dem Hessischen Unternehmertag alljährlich so unterschiedliche Ideen im Hinblick auf unternehmerische Konzeption, Schaffung von Arbeitsplätzen oder Transfer von Wissen in neue Produkte zu präsentieren und damit zu zeigen, dass wir eine sehr lebendige Landschaft mit sehr erfolgreichen Unternehmerinnen und Unternehmern und sehr erfolgreichen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern haben, ist genau so wichtig wie das Austauschen von Reden und Positionen für das jeweils nächste Jahr. Dazu gehört auch in diesem Jahr ein herzliches Dankeschön für ein Vielfaches an Kooperation, an Leistungen und gemeinsamen Initiativen in einem weiten Feld der Politik, in dem Regierungen und Unternehmerschaft gemeinsam arbeiten.
Deshalb bin ich auch sehr dankbar, dass Herr Prof. Weidemann gemeinsam mit Staatsminister Dr. Rhiel heute die Initiative Industrieplatz Hessen vorgestellt hat. Weil ich glaube, dass sie ein spannendes Gegengewicht bildet zu der Diskussion, die in unserem Bundesland selbstverständlich ist und sein muss, sich stärker auf Dienstleistungen zu konzentrieren. Die Tatsache, dass es in unserem Land so viele Arbeitsplätze und einen so hohen Anteil an Wertschöpfung im Bereich der Dienstleistungen gibt, ist in der veränderten Welt von heute ein Standortvorteil. Aber diejenigen, die einmal gesagt haben, ein Land könne allein von den Blaupausen leben, unterliegen einem sehr gewichtigen Irrtum. Dienstleister müssen irgendwem Dienste leisten können. Das ist im Bereich des individuellen Konsums noch vergleichsweise einfach, weil z.B. beim gegenseitigen Haare Schneiden immer wieder Nachfrage entsteht – aber die ist im Gehalt ihrer Wertschöpfung doch eher begrenzt.
Deshalb brauchen wir industrielle Produktion auf dem europäischen Kontinent, in der Bundesrepublik Deutschland und auch in unserem Bundesland sehr wohl vernetzt. Wir brauchen industrielle Produktion, damit Dienstleistung erfolgreich sein kann. Und wir müssen dafür sorgen, dass uns nicht in der Freude über das eine das andere abstürzt. Das bleibt eine Herausforderung gerade in einer Zeit, in der das vorhandene Kapital durchaus Wege suchen kann, sich an anderen Plätzen der Welt anzusiedeln. Es gibt industrielle Prozesse, bei denen braucht man nur noch die Menschen, die im Kontrollraum für ordnungsgemäße Prozessabläufe sorgen. Diese Prozesse haben nach wie vor und auch in Zukunft durchaus einen guten Platz in unserem Land, und es gibt viele Beispiele dafür. Ich erinnere mich unter anderem daran – ohne Einzelwerbung dafür zu machen –, vor nicht allzu langer Zeit die Rückkehr eines Unternehmens in den Werra-Meißner-Kreis begrüßt zu haben, das zeitweilig seinen Standort in Polen hatte und dort Panzerschränke herstellte. Handwerklich solide, schwere Arbeit. Allerdings greift jetzt ein Magnet am Anfang der Produktionsstraße die unbearbeitete Eisenplatte, und zur Faszination des Betrachters kommt am Ende dieses Prozesses ohne allzu großes menschliches Dazutun ein vollständig hergestellter Panzerschrank heraus.
Das Schöne an der Diskussion über Industrie und Dienstleistungen ist, dass eine alte Lebensregel der Statistik gilt. Sie wissen alle, was die Laterne für den Betrunkenen und die Statistik für den Politiker miteinander gemein haben: Sie dienen oft mehr der Aufrechterhaltung des eigenen Standpunktes als der Erleuchtung. Das ist im Rahmen der Debatte über Industrie und Dienstleistung wahrscheinlich anschaulicher zu erklären als in vielen anderen Bereichen. Die Konversion von einer Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft bedeutet nämlich nicht immer, dass die Menschen etwas anderes arbeiten; manchmal bedeutet dies auch nur, dass sie anders gebucht werden. Und es ist für eine Analyse, wie gut oder wie schlecht man ist, nicht ganz unzweckmäßig, sich präzise anzuschauen, welchen der beiden Prozesse man eigentlich gerade bejubelt oder kritisiert.
In Hessen war der Dienstleistungsanteil schon sehr früh relativ hoch, was wieder an der hiesigen Mobilität und der Finanzindustrie liegt. Er ist heute sogar enorm hoch. Anfang der 90er Jahre lagen wir bei einem sich zwischen 55 und 60% entwickelnden Dienstleistungsanteil an der Wertschöpfung. Wir sind heute bei einer Größenordnung, die oberhalb von 70% liegt. Ein Land wie Bayern beläuft sich auf eine Größenordnung, die 10 Prozentpunkte darunter liegt, also etwas mehr als 60%. Und die Baden-Württemberger liegen noch ein Stück weiter zurück. Das spricht dafür, dass wir in der Tat ein Bundesland mit einem Dienstleistungsschwerpunkt sind. Und wir würden einen fatalen Fehler machen, Stärken nicht auszubauen. Aber wir sind ebenso ein Land mit starken Industrien, und wir würden genauso einen fatalen Fehler machen, wenn wir auf diese verzichten wollten, nur weil wir so gut im Bereich Dienstleistung sind.
Automotive – ein starker industrieller Kern
Die Automobilindustrie ist in diesem Land nach wie vor eine starke Industrie. Nicht nur geprägt durch die großen Automobilwerke mit ihren vielen Arbeitsplätzen auf der einen Seite in Rüsselsheim und auf der anderen Seite in Baunatal sowie mit der Achsenfertigung von DaimlerChrysler in Kassel, sondern auch durch eine riesige Zahl von mittelständischen Zuliefererunternehmen, die die Wertschöpfungskette deutscher Automobile nach wie vor in beträchtlichem Umfang beeinflussen. Wer einmal durch den Lahn-Dill-Kreis Richtung Siegerland fährt und die alten traditionellen Produktionsstätten dort sieht, der kann wie an Perlenschnüren aufgereiht die, wenn auch nicht mehr so tiefen, Produktionsketten sehen. Das ist klassische Industrie. Und diese Industrie hat nach wie vor Anziehungskraft. Das Automobilcluster, in der Tat dort gibt es das auch, hat sich erst in den letzen Jahren neu entwickelt. Wenn heute die führenden internationalen Automobilunternehmen, die nicht in Deutschland produzieren, alle ihre technische Adaption, alle ihre Sales Offices hier im Rhein-Main-Gebiet haben, dann liegt das an der Kombination von Mobilität. Dabei spielt im Wesentlichen der Flughafen eine Rolle – und die Tatsache, dass es hier ungewöhnlich viele qualifizierte Menschen gibt, die wissen, wie man Autos baut, verändert, gestaltet und übrigens auch verkauft. Deshalb kann man, wenn man diese Rhein-Main-Region durchstreift, alle großen Anbieter des asiatischen Raums mit ihren deutschen Zentralen und zunehmend auch mit ihren europäischen Zentralen an dieser Stelle finden. Wir haben erst vor wenigen Tagen die Eröffnung der Hyundai-Europazentrale in Offenbach gefeiert, in Frankfurt am Messegelände liegt KIA, seit langer Zeit schon befindet sich Mitsubishi bei uns, und wir haben im Süden Hessens Suzuki. An vielen Stellen begegnen wir dieser Entwicklung.
Ich behaupte, dass dieser Raum seine wesentliche Überzeugungskraft für Menschen, die sich in Zukunft hier ansiedeln werden, daraus zieht, dass ihm die Kombination gelingt zwischen der klassischen Produktion und den dahinter stehenden Tätigkeiten, die man auch Dienstleistung nennen kann. Die Produktion alleine hätte all die Wettbewerbsdiskussionen von hohen Kapitalkosten und hohen Lohnkosten in einem Punkt konzentriert. Kombiniert mit der Dienstleistung bekommt diese Industrie jedoch auf einmal ihren Platz und ihre Chance. Und weil sich diese Industrie dann hier befindet, kommen auch die Arbeitskräfte für die anderen Unternehmen. Die fast 10.000 Menschen, die zum Beispiel im Technischen Entwicklungszentrum in Rüsselsheim ausschließlich über das Auto der Zukunft nachdenken, sind der Garant für die Tausende von Menschen um sie herum, die dort noch Autos produzieren. Ohne General Motors, man kann das durchaus einmal beim Namen nennen, gäbe es das neu geschaffene internationale Automobilcluster Rhein-Main nicht. Heute ist es für General Motors möglicherweise unklug, sich aus dem jetzt entstandenen internationalen Automobilcluster Rhein-Main zu verabschieden. Und deshalb ist dieses Technische Entwicklungszentrum in den letzten Jahren trotz aller Schwierigkeiten in der Produktion größer und nicht kleiner geworden.
Diesen Zusammenhang müssen wir zunehmend in unserer Gesellschaft verstehen: Wenn wir die Chance zur eigenen Produktion nicht aufrechterhalten, dann können wir zwar versuchen, staatliche Rahmenbedingungen – etwa im Bereich von Forschung und Entwicklung – zu schaffen. Aber wir werden vieles von dem, was wir heute hier noch haben, nicht halten können – auch nicht die Menschen, denen wir Arbeitsplätze anbieten wollen. Das bedeutet, wir reden hier bei der industriellen Produktion über beträchtliche Teile, die staatliche Strukturpolitik nicht halten kann. Industrielle Produktion in diesem Land wird schon gar nicht entstehen, weil wir das Füllhorn des Geldes für den Bau industrieller Produktionsanlagen zur Verfügung stellen.
Wenn wir heute Unternehmen davon überzeugen wollen, dass sie ihre industrielle Produktion an diesem Standort durchführen, dann muss uns klar sein, dass es dabei nicht darum geht, wie wir neue Industrien erfinden können. Wir brauchen stattdessen einen Nukleus vorhandener industrieller Kenntnisse und vorhandener industrieller Unternehmen, die wir entwickeln können, die mal wachsen oder auch mal schrumpfen. Nur daran können politische Rahmenbedingungen mitwirken, nur daraus kann letztlich eine Menge werden. Herr Dr. Kreuziger, den wir glücklicherweise heute als Geschäftsführer bei der Hessen Agentur haben, der aber ursprünglich aus dem großen Hoechst-Verbund kommt, hat viel dazu beigetragen, dass ich einiges über die Brennstoffzelle gelernt habe. Die Brennstoffzelle ist eine Hochtechnologie, die nicht viele auf der Welt beherrschen. Es könnte sein, dass wir in Hessen – und das betreffende Unternehmen ist, wenn ich mich richtig erinnere, bei den „Hessen Champions“ sogar schon einmal ausgezeichnet worden – es schaffen, Stück für Stück eine Industrie aufzubauen, die Brennstoffzellen bzw. speziell dafür entwickelte Folien herstellt. Folien, die besser permeabel sind als andere, die eine höhere Energieausbeutung ermöglichen, die flacher und haltbarer sind, die am Ende von der Automobilindustrie bis zum Laptop vieles möglich machen. Dies herzustellen ist Hightech. Aber um es herzustellen, muss man Unternehmen haben, die etwas von Chemie verstehen. Man muss Unternehmen haben, die sich mit der modernen Energieforschung beschäftigen. Dies wird eine Produktion sein, die nicht zuerst in sich entwickelnden Zonen entsteht, sondern in bereits entwickelten Zonen.
Man muss sich immer die Frage stellen: Habe ich irgendwo einen Kern, aus dessen Kompetenzen heraus ich für die Zukunft etwas entwickeln kann? Wenn ich einen solchen Kern nicht oder nicht mehr habe, bin ich in einem hoch entwickelten Industrieland wie der Bundesrepublik Deutschland kaum noch in der Lage, diesen neu zu entwickeln. Wir sprechen hier über sehr handfeste, in diesem Land hinreichend umstrittene Tatbestände. Die Industrie hat in den letzten Jahrzehnten in unserem Land oft nicht mehr genug Platz gehabt. In ganz schlichtem Sinne. Wir haben Baugebietsdiskussionen, wir haben Ansiedlungsdiskussionen oder Einschränkungen von bestehender Produktion, unter dem Motto: Kann das bitte alles möglichst weit weg – dahin, wo Menschen es nicht sehen. Wir haben kaum Probleme, ein Baugebiet für Bürohäuser auszuweisen. Auch da gibt es schon gelegentlich Bedenken wegen des Verkehrs. Aber eine nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz zulässige Anlage, mag sie auch auf dem weltweit höchsten technischen Standard sein, findet schwieriger Akzeptanz. Wenn wir das nicht ändern, werden Industrieunternehmen versuchen, diesen Räumen zu entfliehen. Denn sie haben genug Platz, nur nicht bei uns. Diese Einsicht müssen wir nur auch in die Bevölkerung hineintragen. Auch das ist bei einer solchen Initiative wichtig. Ich finde es richtig, dass die unternehmerische Seite Verbundkonzepte anbietet, also handwerklich darüber redet, wie wir mehr Werte schaffen können über Kooperation. Ich weiß aber, dass wir in der Politik ebenso unseren Teil dazu beitragen müssen.
Mehr Wettbewerb im Energiemarkt
Es geht hierbei aber auch um einen Punkt, der, wie Sie alle wissen, meinen Kollegen Dr. Alois Rhiel sehr intensiv beschäftigt: die Energiepreise. Die Frage, was die kW-Stunde Strom in einer industriellen Produktion kostet – in einer chemischen Produktion allzumal, aber auch in anderen Bereichen –, kann entscheidende Wirkung haben. Wir haben eine Menge Diskussionen über Standorte von Betrieben, in denen am Ende in den Benchmarks der einzelnen Punkte gar nicht alleine die Arbeitskosten das Entscheidende sind. Dort haben wir heute sehr kreative Arbeitnehmerorganisationen und sehr kreative Produktionsabläufe, in denen möglicherweise die Arbeitskosten einigermaßen überschaubar gehalten werden können; in denen aber am Ende in Form von Energiekosten und anderen Standortkosten das Ganze, was die Arbeitnehmer vorher möglicherweise durch eigene zusätzliche Leistungen gespart haben, wieder draufgelegt wird.
Deshalb ist das Thema Energiepolitik inzwischen ein sehr wichtiges. Und wieder einmal ist es eine Frage des Wettbewerbs. Wir waren in Hessen das Land mit den dritthöchsten Energiepreisen von allen deutschen Bundesländern, gemessen in verkauften kW-Stunden. Aber wir haben es in den letzten zwei Jahren geschafft, zu einem der günstigsten Länder zu werden. Das hat uns nicht viele Freunde eingetragen und Staatsminister Dr. Rhiel insbesondere nicht. Aber es hat eine Diskussion bewirkt, die nun an einem wichtigen Punkt in Deutschland angelangt ist. Im praktischen Erleben von Politik ist es halt so, dass wir seit Jahren über internationale Märkte reden, aber dummerweise immer eine Kuppelstelle mit einem anderen Land – dort, wo man Strom kaufen könnte – irgendwie nicht funktioniert. An der einen Stelle sind die Netze zu alt, müssen noch einige Jahre überarbeitet werden, an der anderen Stelle sind die Netze überlastet und müssen erst ergänzt werden, an der dritten Stelle ist die technische Infrastruktur in den Konverterstationen überlastet, und an der vierten Stelle gibt es einfach keine Antwort, wenn man einen Brief schreibt. Aber eine Kuppelstelle gibt es offenbar nicht.
Daran müssen wir etwas ändern. Ich glaube, es ist dem Kollegen Dr. Rhiel in den letzen zwölf Monaten gelungen eine Menge zu ändern. Erstens in der Sache und zweitens im Bewusstsein. Aber ich will sehr offen sagen: Natürlich hat es nach wie vor auch etwas mit Energieproduktion zu tun. Ich bin niemand, der sagt, es gebe nur die Kernenergie und nichts anderes. Nur, wer 120 Terawatt-Stunden pro Jahr insgesamt an Strom produziert und weiß, dass er in den nächsten Jahren 40% ersetzen muss, der hat eine Menge zu tun. Wir wollen in diesem Land in überschaubarer Zeit auch mehr als 15% Strom aus regenerativen Energien. Das ist ein ehrgeiziges Ziel. Wir wollen eine Menge mit den Bauern in Hessen machen – und auch mit anderen Akteuren im Bereich erneuerbarer Energien. Das wird aus meiner Sicht auch gelingen können, wodurch man einige alte Kraftwerke ersetzen kann. Aber wenn man dann auch noch zusätzlich sämtliche Kernkraftwerke abschalten möchte, muss man sich entscheiden, ob man zu Gas oder Kohle wechselt – mit besten Grüßen an die Umwelt – oder ob man über die 15% regenerativer Energien hinaus anfängt, in Technologien zu investieren, die deutlich teurer sind. Und da sage ich sehr klar, wer einen Industriestandort will, darf billige Energieproduktion nicht abschalten, bevor er vernünftige industrielle Alternativen dazu hat. Das gilt auch für Biblis A und B, die 60% des Stroms in unserem Lande produzieren.
Mehr Innovationen im Gesundheitsmarkt – statt staatlicher Überreglementierung
Wir müssen, wenn wir über Industrie reden, auch darüber diskutieren, wie die Rahmenbedingungen für die Industrie zu gestalten sind. Einer der Punkte, die uns im Augenblick Sorgen bereiten, ist die Pharmazeutische Industrie. Dieses Thema spielt sich, ähnlich wie die Finanzindustrie, deutschlandweit eigentlich nur in unserem Bundesland ab. Das macht es in einem föderalen Staat – und die Meinungsbildung in diesem Staat ist nun einmal föderal – oft zu einer echten Herausforderung, ein breites Bewusstsein für die bundesweite Bedeutung dieser Branche zu schaffen.
Wir sind bei der Pharmazeutischen Industrie in Gefahr. Ich erlebe zurzeit, dass ein Unternehmen wie Sanofi Aventis alle Zusagen in seinem Industriepark eingehalten hat und viele andere Unternehmen sich prächtig dort entwickeln. Das Forschungs- und Innovationszentrum für Biotechnologie im Bereich der Medizin in Frankfurt, das die Stadt Frankfurt und das Land Hessen miteinander gegründet haben, ist im Augenblick das einzige der Biotech-Zentren in der Bundesrepublik Deutschland, welches nicht nur nicht um die Auslastung seines ersten Bauabschnittes kämpfen musste, sondern das den zweiten Bauabschnitt unmittelbar nach dem Bezug des ersten Bauabschnittes schon fast vollständig vermietet hatte, bevor man mit der Bauplanung angefangen hat. Das ist ein Zeichen dafür, dass wir immer noch eine Chance haben, ein Teil der Apotheke Europas zu sein. Aber wir müssen dann auch wissen, warum Deutschland einst ganz allein die Apotheke Europas war: Weil es ein interessanter Markt für innovative Medikamente war.
Ich habe lange Diskussionen mit den Gesundheitsreformern aller Parteien über die Frage hinter mir, wie aus Panik über steigende Krankenkassenbeiträge der deutsche pharmazeutische Markt zerschlagen wird. Wir sind gerade mittendrin, dies zu tun. Wer sieht, dass alle innovativen Insuline im Augenblick durch einen Gutachterausschuss für den gesamten Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherungen gesperrt werden, der muss wissen, dass es uns nach dem Vertreiben der ersten Generation von Insulin-Produkten aus Deutschland – was uns ja Anfang der 90er Jahre weltweit bekannt gemacht hat – erst in den letzten Jahren wieder gelungen ist, sie durch einen mühsamen Kampf wieder ins Land zurückzuholen. Heute wird in der Lantus-Produktion bei Sanofi Aventis in Frankfurt etwa 50% dessen produziert, was das Unternehmen in Amerika verkauft. Das heißt, wir haben den industriellen Standort wieder ein Stück weit zu neuem Leben erwecken können. Wenn jetzt ein siebenköpfiges Gutachtergremium, dem ich allen Respekt der Welt entgegenbringe, mal gerade beschließt, dass die ganzen neuen Medikamente Unsinn seien, dann sind diese weltweit nicht mehr verkäuflich. Kein Mensch wird Hunderte von Millionen Investition in Forschung stecken, wenn am Ende sieben Leute mit einem Gutachten entscheiden können, ob ein ganzes Volk das Medikament noch kaufen darf oder nicht.
Dies ist nicht die Art von Freiheit, die ich meine. Es hat eine industriepolitische Dimension. Man kann das machen, um den Versuch zu unternehmen, die Beiträge zur Gesetzlichen Krankenversicherung ein Stück weit zu reduzieren. Aber man muss dies volkswirtschaftlich gegen ein industrielles Cluster und Tausende von Jobs abwägen, die dadurch auf Dauer verlorengehen. Wer industrielle Kerne will, muss Industriepolitik denken. Er muss wollen, dass modernste Erfindungen und Techniken in diesem Land zustande kommen, vom Medikament über den Transrapid bis hin zur Energietechnologie. Sonst wird aus einem Industriestandort nichts.
Spitzenforschung in Hessen halten und ausbauen
Dieser Diskurs endet, was uns angeht, an einem wichtigen Punkt, der alle anderen genannten Punkte miteinander verbindet: Wir müssen jungen Menschen die Chance geben zu lernen, und wir müssen ihnen den Spirit geben, es auch zu wollen. Sicher sind wir in beidem nicht so gut gewesen, wie wir hätten sein können. Unter den großen Forschern der Welt kommen sehr viele aus Deutschland. Sie sind nur deshalb große Forscher in der Welt geworden, weil sie in Deutschland gelernt haben. Aber sie sind nicht in Deutschland geblieben, weil sie in Deutschland nicht genug von dem leisten konnten, was sie leisten wollen. Weil sie nicht nah genug an der Anwendung waren; weil sie gezwungen waren, in einem starren Korsett Forschung und Lehre zu betreiben, das ihnen in anderen Ländern nicht aufgezwungen wurde. Wir müssen schauen, dass uns dies nicht in der nächsten Generation wieder passiert.
Dafür setzen wir bereits eine Menge Dinge um: die Exzellenz-Initiative mit all ihren Schwächen, die sie hat; die Veränderungen der Universitätslandschaft mit höherer Eigenverantwortlichkeit der Hochschulen, die Verbindung von privaten und medizinischen Kenntnissen etwa in Gießen und Marburg – und vieles mehr. Dies sind alles Elemente, die uns in eine neue Dimension von Wettbewerbsfähigkeit führen werden. Aber wir brauchen darüber hinaus auch die Bereitschaft und das Bekenntnis in unserer Gesellschaft, an der Spitze moderner Technologien stehen zu wollen. Unser früherer Bundespräsident Johannes Rau hat einmal gesagt, wir Deutschen hätten die Neigung, dass wenn wir Licht am Ende des Tunnels sehen, wir darüber nachdenken würden, ob wir uns nicht noch ein Stück Tunnel kaufen sollten. Wer darüber nachdenkt, dass es Risiken geben kann, und sich deshalb nicht mit innovativen Geschäftsfeldern beschäftigt, wird zwei Effekte haben: Erstens, er wird keinen ökonomischen Nutzen aus neuen Entwicklungen ziehen, und zweitens, er wird mit denen, die diese Entwicklungen an seiner Stelle machen, nicht auf gleichem intellektuellem Niveau diskutieren können. Wenn ein Land nicht selbst etwas entwickelt und nicht die Fähigkeit hat mit denen, die etwas entwickeln, auf gleicher Augenhöhe intellektuell zu ringen, ist das Land abgeschrieben. Dann kann es noch ein paar Dienstleistungen erbringen, aber es ist selbst nicht mehr in der Lage, neue Produkte zu entwickeln.
Wir sind in einer gefährlichen Situation – ich komme noch einmal auf das Beispiel Kernenergie zurück. Die Kollegen in München schreiben einen Lehrstuhl für Thermodynamik richtigerweise wieder aus, weil wir noch 30 Jahre lang in diesem Bereich Sicherheitsforschung haben werden, egal ob man ein neues Kernkraftwerk baut oder nicht. Dieser Lehrstuhl ist mit keinem deutschen Bewerber mehr besetzbar. Alle Bewerber, die sich dort bewerben, haben im Ausland studiert, weil es ein Jahrzehnt lang keine relevante Ausbildung in Spitzenforschung in diesem Bereich mehr gab, da kein Mensch, der sich in Deutschland dafür ausbilden lässt, einen entsprechenden Arbeitsplatz in Deutschland findet.
Dieser Sachverhalt liegt in der Verantwortung von Politik und Gesellschaft, weil wir es waren, die den jungen Menschen in der Vergangenheit den Mut genommen haben, sich mit solchen Themen zu beschäftigen. Und deshalb setzt Industriepolitik auch die Bereitschaft zur Veränderung voraus. Ich will Ihnen das Gefühl vermitteln, dass wir mit dem, was wir an Rahmenbedingungen schaffen, sehr wohl Industriepolitik für die Zukunft gestalten können. Wir, Unternehmerverbände und Regierung in Hessen, sind einer Meinung: Wir wollen aus den Stärken, die wir dort haben, Zukunftschancen entnehmen. Aber wir werden nicht nur bei politischen Entscheidungen, sondern sehr wohl auch bei vielen Menschen, die in der Demokratie eine Gesellschaft gestalten, bei vielen jungen Menschen, die sich entscheiden müssen, dafür zu werben haben, diese Chance der industriellen Gesellschaft zu begreifen und sie nicht für einen abgeschriebenen Teil der Geschichte ihrer Eltern zu halten. Wir haben die Chance – es gibt viele gute Beispiele, manche sind heute schon gezeigt worden –, daraus etwas machen zu können. Aber es hat nichts Selbstverständliches an sich. Wir müssen die Bequemlichkeit aus unseren Köpfen verdrängen, dass Dienstleistungen die Industrie ersetzen könnten – ohne dass wir dabei die Dienstleistungen geringer achten. Industrie bildet einen großen Teil unseres Wohlstands in diesem Bundesland, und so wird es auch in Zukunft bleiben.
Ich hoffe sehr, dass wir im kommenden Jahr gemeinsam manches vollbringen werden, um dieser Thematik eine stärkere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, als es in der Vergangenheit der Fall war. Und dafür wünsche ich uns auch in Zukunft eine gute Zusammenarbeit. Vielen herzlichen Dank!